22. KAPITEL
J areds Tag war so wundervoll wie er bescheiden war. Es war wundervoll, endlich aus dem Haus zukommen, auch wenn er sich dafür im Fußraum von Rockets Wagen verstecken musste. Es war auch echt klasse, Dave und Dan wiederzusehen und ein bisschen Ball zu spielen.
Andere Teile hingegen waren nicht so wundervoll. Zum Beispiel, wie ihn einige der Jungs auf dem Spielfeld angesehen hatten. Oder das Schweigen, das eine Gruppe überfiel, wenn er sich dazugesellte. Und erst die bescheuerten Fragen, die ihm einige stellten – das alles war ziemlich großer Mist. So wie er teilweise angeglotzt wurde, kam er sich wie ein aufgespießtes Insekt vor, ein Freak. Was glaubten sie wohl, wie zum Teufel er sich wegen des Mordes an seinem Vater fühlte? Als Rocket anrief, um zu sagen, dass er auf dem Weg sei, ihn abzuholen, war er mehr als bereit dafür gewesen.
Als der ehemalige Marine kurze Zeit später ankam und ihn fragte, wie sein Tag gelaufen sei, antwortete er jedoch nur: „Prima.“ Er stieg ein, schloss die Tür, schnallte sich an und sah stur geradeaus.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie John sich zu ihm drehte und ihn musterte. Einen Augenblick lang kam es ihm vor, als hätte der Privatdetektiv Röntgenaugen. Aber gerade als Jared kurz davor war, unruhig zu werden, drehte John sich wieder nach vorn und sagte: „Ja, das kenne ich.“ Er ließ die Kupplung kommen, und sie schössen los.
Aus unerfindlichen Gründen fühlte Jared sich besser. Auch weil Rocket nicht versuchte, ihn dazu zu bringen, über seine Gefühle zu reden. Stattdessen ignorierte er ihn und sang bei einem Song der Cherry Poppin’ Daddies, einer Swing-Band der Neunziger, mit – nicht gerade schön, aber sehr enthusiastisch.
Sie waren etwa eine Viertelmeile vom Tor des Anwesens entfernt, als John plötzlich ohne Vorwarnung an den Rand fuhr und anhielt. Er wandte sich noch einmal Jared zu. „Du hast dich bei der Hinfahrt ja nicht besonders wohlgefühlt. Wie willst du wieder reinfahren? Auf dem Boden wäre es definitiv am einfachsten, aber wenn du dich einfach nur zurücklehnen und den Idioten eine lange Nase zeigen willst, ist das deine Entscheidung.“ Offensichtlich war seinem Gesicht deutlich anzusehen, wie sehr Jared der zweite Vorschlag gefiel, denn John lächelte und sagte: „Warum wusste ich nur, dass dir das gefallen würde?“ Dann wurde er wieder ernst. „Ich muss dich aber warnen. Wenn die Reporter erst einmal Wind davon bekommen, dass du unter ihren Augen entwischt bist, wird es beim zweiten Mal nicht wieder so leicht.“
Jared lachte rau und gänzlich unamüsiert. „Mit anderen Worten, wenn ich nicht auf dem Fußboden reinfahre, komme ich gar nicht mehr raus.“
„Nein, wie ich schon sagte, es ist der einfachste Weg.“ John lächelte breit und nicht besonders zivilisiert. „Es gibt aber noch Dutzende anderer Wege, dich rauszuschaffen.“
„Na, wenn das so ist, bleibe ich, wo ich bin.“ Er lehnte sich zurück und streckte die Füße aus. Er merkte, wie der Privatdetektiv ihn einen Moment lang musterte, zustimmend nickte und ohne ein weiteres Wort wieder losfuhr.
Jared gespielte Tapferkeit ließ merklich nach, als er die Meute mit ihren unzähligen Kameras sah, die sich begierig ihrem Wagen zuwandte. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus, als sie nach ihm riefen.
Er versuchte, John nachzuahmen, der ganz ruhig und gelassen war und einen Arm lässig über das Lenkrad drapiert hatte. Er griff nach dem Toröffner, den Tori ihm gegeben hatte, und nahm den Fuß vom Gas, ohne jedoch anzuhalten. Die Reporter hatten sich in den letzten Tagen an sein Kommen und Gehen gewöhnt und wussten es besser, als sich ihm in den Weg zu stellen. Mehr als ein Journalist, der es für eine gute Möglichkeit gehalten hatte, ihn anzuhalten, hatte sich in letzter Sekunde mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen müssen.
Das hielt die Höllenhunde jedoch nicht davon ab, sich an die Seiten des Wagens zu drängeln. Sie pressten ihre Gesichter an die Scheiben auf Jareds Seite und riefen ihm Fragen zu. Dann fuhren sie durch das Tor, und die Reporter fielen zurück. Das Tor begann sich langsam wieder zu schließen.
Plötzlich kam ein wild hupender Wagen hinter ihnen die Straße hochgeschossen. Jared warf Rocket, der in den Rückspiegel schaute, einen kurzen Blick zu, bevor er sich umdrehte. Das Auto war feuerrot und kam wie eine Pistolenkugel geradewegs auf sie zu. Er sah noch einmal zu John, der lächelte. „Wissen Sie, wer das ist?“
„Das ist Gert.“ John drückte noch einmal auf den Toröffner. „Wahrscheinlich braucht sie eine Unterschrift.“
Jared sah wieder zu dem Wagen. „Coole Karre. Was ist das, ein 69er Camaro?“
„Fast. Ein 68er. Du hast ein gutes Auge.“
Im Gegensatz zu Rocket machte Gert sich nicht die Mühe, abzubremsen, und Jared musste lauthals lachen, als er sah, wie die sensationslüsterne Meute nach rechts und links auseinanderstob, um dem Camaro auszuweichen. Schließlich standen beide Wagen sicher im Innenhof, und das Tor war geschlossen. Grinsend drehte er sich wieder nach vorn um. „Wie cool war das denn?“
Auch Rocket lächelte. „Ziemlich cool“, sagte er. „Gert lässt sich von niemandem etwas bieten. Deshalb ist sie einer meiner liebsten Menschen überhaupt.“ Er parkte vor der Garage.
Nachdem beide ausgestiegen waren, sah Jared John über das Autodach hinweg an. „Danke“, sagte er langsam. „Für … na, Sie wissen schon … heute eben.“
„Gern geschehen.“ John sah ihn an. „Ich schätze, du bist über ein paar Typen gestolpert, die blöde Sachen gesagt oder es einfach nicht kapiert haben.“
Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Vergiss sie. Einer der wenigen Vorteile schlechter Zeiten ist, dass man herausfindet, wer seine wahren Freunde sind. Ärgere dich nicht über die, die es nicht wert sind. Das ist reine Energieverschwendung.“ Er sah von Jared zum Wagen seiner Büroleiterin und lächelte. „Wo wir gerade von echten Freunden sprechen … Schau mal, wer hier ist. Scheint, ich bin nicht der Einzige, der Besuch hat.“
Jared drehte sich um und sah gerade noch, wie P. J. ausstieg. Jubelnd rannte er auf sie zu, das letzte bisschen Kummer war vergessen.
Sie schien ihn hingegen gar nicht wahrzunehmen. Mit offenem Mund sah sie sich um. Und zum ersten Mal, seit er sie kannte, war sie geradezu unnatürlich still.
Kurzerhand warf er sie sich über die Schulter. Erst als seine Hand ihre nackten Waden berührte, wurde ihm klar, dass sie ein Kleid trug.
P. J. und Kleider? Das war eine Kombination, die in seiner Vorstellung nicht existierte. Einen Augenblick lang blieb er wie angewurzelt stehen. Auch P. J. rührte sich nicht. Dann erwachte sie in typischer P. J.-Manier zum Leben und fing an, zu strampeln.
Als sie damit begann, ihm auf den Kopf zu hauen, hatte er keine andere Wahl, als sie abzusetzen. „Maaaann, P. J.!“
„Selber Maaaann.“ Sie wischte über den Rock ihres dünnen Sommerkleides, als wäre er staubig. Leuchtendes rotbraunes Haar hing ihr in die Augen, während sie ihn böse anstarrte. „Was ist denn los mit dir?“
„Gar nichts. Ich hab mich nur so gefreut, dich zu sehen.“ Er sah zu, wie sie die Träger des Kleides zurechtrückte, und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie tatsächlich Brüste hatte, wenn auch sehr kleine.
Ihr Kopf ruckte hoch, als könne sie seine Gedanken lesen, und Jared spürte, wie er rot anlief.
Sie sagte jedoch nur: „Ich freue mich ja auch, dich zu sehen. Aber ich hab mich extra schick gemacht, also wirble mich hier nicht herum wie einen alten stinkenden Turnbeutel.“
Er war heilfroh, dass Rocket und Gert bereits ins Haus verschwunden waren, und entspannte sich etwas. Zum Glück hatte niemand seinen nicht besonders eleganten Auftritt gesehen. Dann wandte er sich wieder P. J. zu. „Jetzt, wo die Autos nicht mehr zwischen uns sind, sehe ich das auch. Du siehst …“ … viel älter als dreizehn … „… toll aus.“
„Danke schön.“ Sie strich noch einmal über den Rock. Dann sah sie ihn an, und plötzlich war sie wieder ganz die alte fröhliche P. J. „Es geht mir auch toll. Gert hat mir das Kleid gekauft.“ Sie strich wieder über den Rock. „Ist dieses Kleid nicht affengeil?“
„So etwas sagt man hier nicht“, ermahnte er sie fast automatisch.
Sie sah ihn an. „Was?“
„Nichts. Tut mir leid. Ich war unhöflich. Es ist wirklich ein sehr hübsches Kleid.“ Aber es war schon zu spät. Jared sah, wie die Lebhaftigkeit aus ihr wich, und er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Vor allem als sie die Arme um sich schlang, als wäre ihr kalt, und begann, leise vor sich hin zu summen. Das tat sie gewöhnlich nur, wenn sie Angst hatte oder sehr nervös war.
Mist. Es lief alles falsch. Verzweifelt stupste er sie an. „Singst du immer noch diesen Country-Blödsinn?“ Sie hatte eine tolle Singstimme – viel klarer und kräftiger, als man es ihr mit ihrer komischen rauen Sprechstimme zugetraut hätte.
„Es ist kein Blödsinn. Es ist Rock n’ Roll mit dem gewissen Kick – und es ist garantiert besser als der ganze Rap-Mist, den du magst.“
„Ja, ja, ja. Warum gehen wir nicht in mein Zimmer, und du versuchst mir das zu beweisen?“
„Von mir aus.“
Sie gingen durch die Küche und den Flur in das Foyer, wo P. J. ein weiteres Mal wie angewurzelt stehen blieb. „Oh mein Gott.“ Sie starrte den turmhohen Kronleuchter an, der über ihr von der Decke hing. „Oh. Mein. Gott.“ Sie drehte sich langsam im Kreis, um alles genau anzusehen. „Das ist wunderschön. Das ist das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben jemals gesehen habe. Hier würde glatt der ganze Wohnwagen meiner Mama reinpassen.“ Mit einer Geste ihres zarten Armchens wies sie auf das Foyer. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, aber tapfer setzte sie ein breites Lächeln auf. „Na, jetzt bin ich ja mal auf dein Zimmer gespannt. Ich wette, es ist größer als dieses Dings – wie heißt es doch gleich? – Taj Mahal?“
„Nee, eher wie der Buckingham Palace.“
Die P. J., die er kannte, kam an diesem Nachmittag immer wieder für kurze Augenblicke zum Vorschein. Die meiste Zeit schien sie jedoch verzweifelt bemüht, sich bestmöglich zu benehmen. Es war, als würde eine Anti-P J. durch sein Zimmer schlendern und alles genau in Augenschein nehmen. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken gefaltet, als hätte sie Angst, etwas kaputt zu machen. Als er eine CD der Dixie Chicks einlegte, die er im Internet bestellt hatte, entspannte sie sich. Sie sang mit und schwang ihren kleinen Po, der sich in der letzten Zeit merklich gerundet hatte, im Takt.
Als die CD zu Ende war, ließ sie sich neben ihm aufs Bett fallen. Sie betrachtete ihre Fingernägel. Dann begutachtete sie den Baseballhandschuh, den er über einen Bettpfosten gehängt hatte. Schließlich sah sie ihn an. „Meine Mama hat angerufen.“
Ein eiskalter Schauer überlief ihn. Er hatte die Frau nie kennengelernt, aber er hasste sie trotzdem mit Leib und Seele. Jared versuchte, seine Stimme ganz neutral zu halten, als er sagte: „Ach ja?“
„Jep. Gert hat sie erreicht. Ich gehe zurück nach Pueblo.“ Ihre Stimme klang gleichzeitig hoffnungsvoll und ängstlich. Dann griff sie in die kleine Tasche an ihrem Kleid und zog ein Stück Papier heraus. „Deshalb sind wir wirklich hier. Der Rest war nur eine Ausrede. Sie dachte, wir beide sollten die Chance haben, uns persönlich zu verabschieden.“ Sie sah auf den Zettel hinab und drückte ihm diesen schließlich in die Hand. „Ich fahre morgen, aber ich wollte dir noch meine Telefonnummer geben, damit wir wenigstens mal telefonieren können.“ Sie sah sich in dem riesigen Zimmer um. „Ich meine, falls du das überhaupt noch willst.“
„Na, was glaubst du denn?“ Er fasste ihr Kinn und drehte ihren Kopf herum, bis sie ihn ansehen musste. Ihre Hände, die sich dagegen wehrten, ignorierend, sah er tief in ihre frechen, angstvollen – oh Gott, so wahnsinnig verletzlichen goldbraunen Augen. „Natürlich will ich das. Darauf kannst du dich verlassen.“
Victoria blickte von den Rechnungen auf, die sie für die beiden Puppenhäuser schrieb, die diese Woche versendet worden waren, und sah John in der Tür zu Fords altem Büro stehen. Sie speicherte die Dokumente auf ihrem Laptop und lächelte ihn an. „Sind Gert und P. J. gut weggekommen?“
„Jep.“
Sie stand auf, umrundete den Schreibtisch und lehnte sich an dessen Vorderseite. Sie stützte ihre Hände auf und begutachtete ihn, wie er an den Türpfosten gelehnt dastand. „Findest du nicht, dass P. J. irgendwie bedrückt gewirkt hat?“
„Gert hat ihre Mutter ausfindig gemacht und sich ernsthaft mit ihr unterhalten. Das Positive ist, P. J. geht morgen zurück nach Pueblo.“
„Oh Himmel, ich hoffe, das geht gut.“
„Ich auch. Nach allem, was ich über Mom gehört habe, ist sie nicht gerade eine Kandidatin für den Preis als Mutter des Jahres. Jared hält es für eine ganz miese Idee.“
„Aber für P. J. ist sie immer noch ihre Mama.“
„Genau. Und es gibt nichts, was wir tun können, solange die kleine Priscilla Jane nach Hause will.“
„Ist das ihr richtiger Name? Priscilla?“ Victoria dachte einen Augenblick darüber nach und lächelte dann. „Es passt zu ihr.“
„Stimmt. Auf den ersten Blick mag man das gar nicht glauben, weil sie wie eine kleine Kratzbürste wirkt, aber sie hat unter der rauen Schale einen ziemlich weichen Kern.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie war völlig aus dem Häuschen wegen des Puppenhauses, das du ihr geschenkt hast. War es nicht für einen Kunden bestimmt?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich baue einfach ein neues. Dieses kleine Mädchen hat in ihrem Leben noch nicht viel geschenkt bekommen.“
„Es ist in jedem Fall ein Geschenk, das in Ehren bewahrt werden wird. Sie wollte nichts davon wissen, es im Kofferraum zu transportieren, und hat es auf dem Schoß gehalten, als sie abgefahren sind.“
Victoria lachte, wechselte dann aber das Thema. „Ich komme um vor Neugier. Wie ist es heute gelaufen? Hast du etwas Neues erfahren?“
„Logisch. Wusstest du, dass sie kleine Mädchen, die kaum älter als Esme sind, zwingen, Kotillon-Stunden zu nehmen?“
Sie sah verwirrt aus. „Bitte?“ Das kam so unerwartet, dass sie im ersten Augenblick gar nicht wusste, wovon er redete.
„Du hättest es sehen müssen, Tori. Kinder, aufgetakelt wie kleine Erwachsene, sind mit einer Präzision durch den Club marschiert, um die sie so mancher Marine beneiden würde. Frank erzählte mir, sie lernen Standardtänze und wie man sich anständig benimmt.“ Er steckte die Hände tief in die Hosentaschen und schlenderte auf die andere Seite des Zimmers. „Du wirst Esme nicht dazu zwingen, diesen Unsinn mitzumachen, oder? Ich bin nämlich strikt dagegen. Ich meine, gute Manieren und Disziplin sind wichtig, aber ich will, dass mein Kind mehr ist als ein Gesellschaftsprinzesschen, das Angst hat, sich die feinen Lederschühchen zu zerkratzen oder die Knie aufzuschlagen. Ich will, dass sie die wirklich wichtigen Dinge im Leben lernt.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und die wären?“
„Keine Ahnung, was Nützliches eben … Wie man da draußen überlebt, zum Beispiel. Wie man sich im Wald orientiert, wenn man sich verirrt hat. Wie man – okay, vielleicht nicht gerade mit Würmern und Maden –, aber wie man sich draußen im Notfall ernährt. Welche Beeren man essen kann, welche einen umbringen könnten. So was eben.“
„Das wird in ihrem späteren Leben natürlich von eminenter Wichtigkeit sein.“ Tori wusste nicht, ob sie lachen oder ihn verfluchen sollte. Einerseits zeigte er großes Interesse an seiner Tochter, und das war wichtig, sollte er jemals ein Teil ihres Lebens werden. Auf der anderen Seite …
„Irgendwas sagt mir, dass du stinksauer bist.“
Er kam näher, bis sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen zu sehen. Sie nutzte die Gelegenheit, ihm den hochnäsigsten Blick, den sie auf Lager hatte, zuzuwerfen. „Hamiltons sind nicht stinksauer“, sagte sie kühl.
„Nein? Warum denn nicht, Schätzchen? Ist euch das zu vulgär?“
„Viel zu vulgär“, stimmte sie zu. „Wir sind vernünftig und nehmen uns zusammen. Und wenn man es zu weit treibt, werden wir … ärgerlich.“
„Ärgerlich.“ Er beugte sich so weit zu ihr herab, dass sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spürte. „Und bist du jetzt ärgerlich?“
„Ein bisschen.“
„Wieso? Du hast gesagt, ich solle sie kennenlernen. Bedeutet das nicht, Interesse an dem zu haben, was sie tut?“
„Ja, aber …“ Sie holte tief Luft und seufzte. „Okay. Es sieht folgendermaßen aus: Ich habe mich die ganze Zeit allein um sie gekümmert. Du hast nicht das Recht, hier hereinzustürmen und mir vorzuschreiben, was für meine Tochter wichtig ist und was nicht.“
„Habe ich nicht?“
„Nein.“
Seine Augen verengten sich. „Na, das finde ich ja mal fair.“
„Du willst Fairness? Dann sag mir, was fair daran ist, dass du mir plötzlich vorschreiben willst, was ich zu tun und zu lassen habe?“
Er zuckte zurück und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Wovon zum Teufel redest du? Ich schreibe dir doch gar nichts vor! Ich mache mir nur Gedanken um ihre Zukunft.“
Aus dem leichten Ärger wurde glühende Wut. „Weil du glaubst, ich sei nur eine verwöhnte Prinzessin, und du nicht erträgst, wenn sie auch eine wird?“
„Nein!“ Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar und zog dabei eine Strähne aus dem Gummiband, das es zusammenhielt. „Hast du Kotillon-Stunden genommen?“
„Selbstverständlich.“
„Und es hat dir so viel Spaß gemacht, dass du gar nicht erwarten kannst, diese Erfahrung mit Esme zu teilen?“
Sie betrachtete ihn. Sie war mehr als schockiert, dass ihr dieser kleine Streit Spaß machte – nicht nur weil es sich toll anfühlte, endlich einmal jemandem die Stirn zu bieten. Sicher, sie war nicht gerade begeistert darüber, die Entscheidungen über Esmes Zukunft vielleicht bald mit jemandem gemeinsam treffen zu müssen, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das damit zu tun hatte, wie er groß und stark und mit gerötetem Gesicht und blitzenden Augen vor ihr stand.
Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass es viel zu lange her war, seit sie sich das letzte Mal geliebt hatten.
„Ich habe den Unterricht gehasst“, gab sie zu. „Aber falls wir hierbleiben sollten, wird es einfach ein ganz normaler Teil von Esmes Leben sein. Ich hoffe, sie hat später einmal alle möglichen Freunde, aber momentan ist Rebecca ihre einzige Freundin. Du kannst dir sicher sein, dass Esme zum Kotillon-Unterricht gehen will, wenn Rebecca auch daran teilnimmt. Außerdem fände ich es besser, wenn sie sich selbst entscheiden würde, ob es ihr gefällt oder nicht.“
Er dachte kurz darüber nach. „Ich schätze, das macht Sinn.“ Er verzog das Gesicht, trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Verdammt. Ich hatte so gehofft, du würdest mit mir streiten.“
„Wieso? Damit wir uns aus Prinzip streiten?“
„Nein, Süße. Damit ich den Kram von dem schönen breiten Schreibtisch hinter dir fegen und dich dann darauf flachlegen kann.“
„Oh.“ Sie hielt sich am Schreibtisch fest. „Keine gute Idee.“ Ihre Stimme überschlug sich wie die eines dreizehnjährigen Jungen.
„Weiß ich, aber es fällt mir verdammt schwer.“
Instinktiv wanderte ihr Blick zu seinem Schritt.
Er lachte rau. „Dieses Sexverbot macht uns beide nervös und …“
„… ein klein bisschen unvernünftig?“
„Genau.“ Er schob die Hände wieder in die Taschen und stand kerzengerade da. „Aber wir haben ausgemacht, dass wir hier keinen Sex haben, also bleibt es dabei. Tu uns bitte beiden einen Gefallen und geh zurück hinter deinen Schreibtisch. Dann kann ich dich mit den Dingen langweilen, die ich während meiner Golfpartie herausgefunden habe.“