6. KAPITEL
J ared stand vor dem Jugendzentrum Spot und dachte an die aufmunternden Reden, die sein Trainer vor jedem Spiel in der Umkleidekabine hielt. Er hatte vom Zentrum erfahren, als er einige Jugendliche beim Kleingeldschnorren auf der 16. Straße belauscht hatte. Hier konnte man sich also von fünf Uhr nachmittags bis abends um zehn Uhr aufhalten. Die Aussicht auf fünf ganze Stunden in Sicherheit kam ihm einfach himmlisch vor. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal fünf Stunden Ruhe gehabt hatte – von Schlaf ganz zu schweigen. Fünf Stunden, in denen er nicht ständig auf der Hut sein musste.
Er stand noch eine Weile an der Tür und sah einigen Latinojungs zu, bevor er tief durchatmete und einen Schritt in Richtung Eingang machte.
„An deiner Stelle würde ich da nicht reingehen“, sagte eine leise, raue Stimme hinter ihm. Jared blieb abrupt stehen und sah sich um. Ein Junge trat aus dem Schatten des Gebäudes. Er sah so dünn aus, als ob ihn der nächste Windstoß umblasen würde. Er steckte die Hände in die Taschen seiner viel zu weiten Jeans und wies mit dem Kinn auf die Gruppe Latinos. „Das ist ’ne Gang“, sagte er zu Jared. „Die machen jeden fertig, der nicht zu ihnen gehört.“
„Scheiße.“ Die Enttäuschung schien Jared förmlich zu erdrücken. Er war so müde. Er war so verdammt müde, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause gehen zu können.
Tränen brannten hinter seinen Augenlidern. Er drehte dem Jungen mit der komischen Stimme den Rücken zu, damit dieser ihn nicht für ein bescheuertes Baby hielt. „Danke für die Warnung“, sagte er rau. Er seufzte tief und machte sich dann auf den Weg, weg von dem Ort, der ihm eben noch einige Stunden Ruhe und Geborgenheit verheißen hatte.
„Hey, warte!“ Der Junge holte ihn ein und versetzte ihm einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen. „Wie heißt du? Ich hab dich schon ein paarmal gesehen. Ich bin P. J.“ Er grub mit einer schmuddeligen Hand in seiner Hosentasche und zog einen Schokoriegel heraus. „Willst du die Hälfte?“
Verstohlen wischte Jared ein paar Tränen weg, die sich trotz allem ihren Weg gebahnt hatten. Er beobachtete den Jungen aus dem Augenwinkel. Dieser wiederum schaute betont in eine andere Richtung. Vielleicht war er ja nicht der Einzige, der hin und wieder von einem Gefühl der völligen Hilflosigkeit überfallen wurde. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich bei dieser Erkenntnis besser, wischte sich die Nase am Ärmel ab und richtete sich auf. „Ja, gern.“ Vorsichtig nahm er den halben Schokoriegel, den P. J. ihm anbot. Am liebsten hätte er dem kleinen Kerl den ganzen Riegel aus der Hand gerissen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Den Brandy hatte er vergangene Nacht ausgetrunken, aber die letzte Mahlzeit lag länger zurück. Jared riss sich zusammen, um nicht das ganze Stück in den Mund zu stopfen, und biss stattdessen ein kleines Stück ab. „Danke.“
„Kein Problem. Ich weiß aber immer noch nicht, wie du heißt.“
„Jared.“
„Das ist hüb…, äh, ein ziemlich cooler Name.“ Er räusperte sich, aber seine Stimme klang noch rauer als vorher. „Was wolltest du im Spot, Jared?“
„Keine Ahnung. Ich wollte nur irgendwo … sein, schätze ich. Irgendwo, wo ich nicht sofort wieder abhauen muss, wenn ich es mir gerade bequem gemacht habe.“ Jared besah seine schmutzige Hand, als er den Schokoriegel zum Mund führte. „Und ich würde echt gern duschen. Vielleicht sollte ich doch zur Heilsarmee gehen.“ Er hatte die bekannten Obdachlosenunterkünfte gemieden, aus Angst, jemand würde ihn erkennen. Allerdings wusste er gar nicht, ob er hier überhaupt gesucht wurde. Die Schlagzeilen aus Colorado Springs waren in Denver vielleicht gar nicht der Rede wert. Und außerdem war er langsam, aber sicher an dem Punkt angekommen, wo er sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr riechen konnte.
„Glaub mir“, unterbrach P. J. seine Gedanken, „von der Heilsarmee hältst du dich besser fern. Da treiben sich zu viele Dreckskerle herum.“
„Selbst die Heilsarmee ist nicht sicher?“ Jared sah P. J. schockiert an.
Der zuckte mit den Schultern. „Die Leute, die den Laden schmeißen, sind nicht das Problem. Es sind die erwachsenen Obdachlosen, die da herumhängen.“ Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Die würden dir schneller eine aufs Maul hauen, als du A sagen kannst.“ Plötzlich hellte sich seine Miene auf. „Wir könnten aber rüber zu Sock’s gehen.“
„Was ist das denn?“
„Auch ein Jugendzentrum. Na ja, eigentlich ist es ’ne Art Kirche, aber es ist ziemlich cool. Du bekommst was zu essen und kannst duschen – und du kannst dort auch ein paar Stunden schlafen. Was meinst du?“
„Hört sich gut an.“ Es hörte sich großartig an. Geradezu paradiesisch. Er hatte aber nicht vor, das laut zu sagen. Es war ganz schön schwierig, immer den coolen Typen zu spielen, aber er wollte auf keinen Fall wie ein Hinterwäldler klingen.
Außerdem war es wirklich ein gutes Gefühl, jemanden zu haben, mit dem man sich unterhalten konnte. Seit dieser Horror angefangen hatte, stand das Gefühl, mutterseelenallein zu sein, ganz oben auf seiner Albtraumliste.
Jared musste gar nicht viel sagen. P. J. schien von Natur aus eine Quasselstrippe zu sein. Er hatte zu jedem Thema seine Meinung, und er scheute sich nicht, sie lautstark kundzutun. Jared war das ganz recht. Der kleinere Junge hielt sich offensichtlich schon länger auf der Straße auf. Er war eine hervorragende Informationsquelle, und Jared erfuhr viele Dinge, die er selbst wahrscheinlich erst nach Wochen herausgefunden hätte.
Er besah sich den anderen Jungen, der rückwärts vor ihm herlief und ihm erklärte, wie man sich am Auraria-College am besten unter die Menge mischte. Wahrscheinlich sahen sie aus wie Pat und Patachon. Jared hatte die typischen Hamilton-Gene, was bedeutete, dass er groß und schlaksig war und nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien. Zu seinem Ärger war er kein bisschen muskulös, angeblich, weil er noch wuchs.
Im Vergleich zu P. J. war er jedoch ein wahrer Bodybuilder. Der andere Junge war beinahe zwei Köpfe kleiner und hatte eine so zarte Statur, dass er geradezu mädchenhaft wirkte. Außer seinem Gesicht mit den großen Augen und seinen Streichholzärmchen war von dem kleinen Kerl sowieso nicht viel zu sehen. Der Rest von ihm war unter einem T-Shirt, das mindestens drei Nummern zu groß war, und in viel zu weiten Jeans versteckt, die jeden Moment von seinen schmalen Hüften zu rutschen drohten. An den Füßen trug er ausgelatschte Turnschuhe, die schon bessere Tage gesehen hatten.
„Wie alt bist du?“, fragte Jared.
„In ein paar Monaten werde ich fünfzehn.“
„Echt?“ Jared sah ihn skeptisch an. „Was sind bei dir denn ein paar Monate?“
„Etwa zwanzig“, grinste P. J. „Und du? Ich wette, du bist so um die achtzehn.“
„Erst im November.“
„Da war ich ja nah dran.“
Jared schnaubte belustigt. „Wofür steht P. J. eigentlich?“
„Priscilla Jayne.“
Jared blieb wie angewurzelt stehen. „Du bist ein Mädchen?!“ Jareds Stimme überschlug sich beim letzten Wort, aber er war viel zu erstaunt, um es zu bemerken.
„Natürlich bin ich ein Mädchen! Mann! Warum glaubt mir das nie jemand?“ Sie sah auf ihre Brust hinab und zupfte an ihrem T-Shirt. „Das kommt, weil ich keine Möpse habe, was? Wart’s nur ab, die kommen noch. Ich bin halt ein Spätzünder.“ Ihr schmales herzförmiges Gesicht sah traurig aus. „Ich hätte bestimmt weniger Geldprobleme, wenn ich die Dinger jetzt schon hätte.“
„Was meinst du?“ Jetzt, wo er wusste, dass er ein Mädchen vor sich hatte, war er erstaunt, dass es ihm nicht gleich aufgefallen war. Im Nachhinein betrachtet war es eigentlich offensichtlich.
„Wenn ich einen Mordsbusen hätte, könnte ich damit garantiert reichlich Kohle machen. Okay – wenn ich irgendeine Art von Busen hätte …“ Sie verzog das Gesicht. „Ehrlich gesagt bin ich aber froh, nicht in die Verlegenheit zu kommen. Aber wehe, du erzählst das jemandem! Ich finde … findest du nicht auch, dass diese ganze Sexgeschichte irgendwie … eklig ist?“
Aus der Nähe betrachtet sah sie nicht viel älter aus als seine Nichte Esme. Bei dem Gedanken, dass sich ein fetter alter Mann auf ihr herumwälzen könnte, wurde ihm speiübel. Er streckte die Hand aus und klopfte mit den Knöcheln auf ihre herumgedrehte Baseballmütze. „Spinnst du? Du willst dich von widerlichen fetten alten Säcken begrabschen lassen? Sei froh, dass du das nicht machen musst.“
„Na, du hast gut reden. Ich wette, du könntest richtig Kohle machen.“ Sie musterte ihn voller Neid von oben bis unten. „Muss nett sein, so klasse auszusehen.“
Er verzog das Gesicht, um den Schein zu waren, aber innerlich wurde ihm bei dem Gedanken, dass ihn jemand gut aussehend fand, ganz warm ums Herz. Und er horchte auf. Er hatte nur noch zwölf Dollar in der Tasche. „Frauen bezahlen für Sex?“ Das hörte sich doch gar nicht schlecht an. Er hatte bisher erst zweimal Sex gehabt, aber ihm hatte es gefallen.
Sehr sogar.
P. J. grinste abfällig. „Nicht Frauen, du Trottel. Männer!“
„Unter keinen Umständen!“ Er machte einen Satz nach hinten. „Das ist doch krank.“
„Jep“, stimmte sie betrübt zu. „Wie gesagt, ich finde diese ganze Sexnummer widerlich.“
„Es liegt nicht am Sex, P. J. Mit einem Mädchen zu schlafen ist schon verdammt genial, so wie ein Rieseneisbecher. Aber auf Männer stehe ich gar nicht.“ Allein der Gedanke daran machte ihn krank.
„Wie ein Rieseneisbecher, was?“ Sie sah ihn interessiert an. „Die mag ich. Aber ich wette, nur Jungs denken so über Sex. Mädchen bekommen bloß ’ne Eisbecher-Attrappe.“
„Hey!“ Er fühlte sich von ihrer Unterstellung ein bisschen beleidigt, bis er an Beth Chamberlain dachte, mit der er sein erstes Mal erlebt hatte. „Okay, vielleicht ist es für Jungs die ersten Male schöner.“ Dann musste er an Vanessa Spaulding –mit ihren neunzehn Jahren schon eine ältere Frau denken, die ihm das eine oder andere beigebracht hatte. „Aber wenn der Junge weiß, was er tut, ist es auch für Mädchen klasse.“
„Gut zu wissen.“ P. J. zuckte mit den Schultern. „Aber wenn es sowieso alles gleich ist, nehme ich lieber den Eisbecher.“
Jared lachte. Es war das Erste, was auch nur ansatzweise komisch war, seit er aus der Villa in Colorado Springs geflohen war. Jetzt, wo er jemanden hatte, mit dem er herumhängen konnte, kam ihm alles gar nicht mehr so schrecklich vor. Er gab dem Mädchen einen freundschaftlichen Klaps. „Du bist echt in Ordnung, weißt du das? Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe.“