17. KAPITEL
O h mein Gott, John, da ist er!“ Rocket sah auf ihre Hand hinab, die sein Handgelenk umklammert hielt. Sie sah strahlend zu ihm auf, nur um dann gleich wieder auf die andere Seite des Parks zu schauen.
„Du hattest recht“, sagte sie atemlos. „Jared ist hier!“
Er folgte ihrem Blick zu einem großen schlanken Jungen mit dem gleichen braunen gesträhnten Haar wie ihrem. Der Junge verschlang ein Sandwich und hörte dabei einem Mädchen zu, das ihn wie ein Kolibri umschwirrte.
John wandte seine Aufmerksamkeit wieder Victoria zu. Er konnte ihr ungläubiges Staunen gut verstehen. Nachdem sie die Stadt gestern den ganzen Tag lang, die halbe Nacht und auch heute den ganzen Vormittag wieder durchsucht hatten, ohne die geringste Spur des Jungen zu finden, war es fast ein bisschen unwirklich, ihn endlich zu sehen. John war heilfroh, dass der Tipp, den er bekommen hatte, tatsächlich etwas wert gewesen war. Sie würden sich jedoch sorgfältig überlegen müssen, wie sie ihn ansprechen sollten. Nachdem ein Kind eine Weile auf der Straße gelebt hatte, war das manchmal gar nicht so einfach.
Dummerweise kam sein Gedankengang zu spät, denn sie hatte bereits seinen Arm losgelassen und sich auf den Weg gemacht.
„Victoria, warte!“
Es war eindeutig, dass sie viel zu aufgeregt war, um ihm irgendwelche Beachtung zu schenken, und so schoss sie los wie ein Vollblüter beim Pferderennen. Elegant schlängelte sie sich durch die Gruppen von Kindern hindurch, die auf den Stufen des Springbrunnens herumhingen. Er nahm die Verfolgung auf, und als er sie gerade eingeholt und am Ellbogen gefasst hatte, rief sie den Namen ihres Bruders.
Scheiße. Jetzt hatte sie ihn gewarnt, das ließ sich nicht mehr ändern. Er ließ ihren Arm los und machte sich bereit, Jared wenn nötig – hinterherzusprinten.
Der Junge blinzelte jedoch nur ein- oder zweimal, als könne er seinen Augen nicht trauen. Dann bewegten sich seine Lippen und formten Toris Namen. Er sagte etwas zu dem hektischen jungen Mädchen, nahm sie bei der Hand und rannte los, wie John es befürchtet hatte.
Nur … er rannte nicht in die Richtung, die John vermutet hatte. Stattdessen stürmte er breit grinsend direkt auf seine Schwester zu.
Ausnahmsweise nahm Victoria Johns Anwesenheit gar nicht mehr wahr. Sie war voll und ganz auf Jared konzentriert. Sie kam ihrem Bruder auf halber Strecke entgegen, die Arme weit geöffnet, und umarmte ihn stürmisch. Aus Angst, er würde sich gleich wieder in Luft auflösen, hielt sie ihn fest umklammert. Irgendwo im Hinterkopf registrierte sie, dass er etwas streng roch, aber das war völlig belanglos. Es zählte nur, ihn sicher in die Arme schließen zu können. Er war hier, und er war gesund, alles andere war egal.
Sie spürte, wie er zitterte, und drückte ihn noch fester an sich. Er reagierte darauf, indem er sie auch noch fester drückte und seine Wange auf ihren Kopf legte. Bald darauf merkte sie, wie er sein Gesicht an ihrem Haar abwischte. Von all den Gedanken, die ihr durch den Kopf hätten schießen können, konnte sie nur einen klar ausformulieren: Seit wann ist er so groß?
Dann hob Jared den Kopf und sah auf sie herab. „Tut mir leid, Tori“, sagte er heiser. „Ich würde alles dafür tun, wenn ich die Nacht ungeschehen machen könnte. Aber du musst mir glauben, ich wollte Dad nicht umbringen!“
Ihr wurde ganz schwindelig, und erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr sie darauf gehofft hatte, dass er aufklären könnte, was in jener Nacht geschehen war, erklären könnte, dass er wirklich unschuldig war, so wie sie es von Anfang an geglaubt hatte. Sie war sich so sicher gewesen, dass er ihren Vater niemals getötet haben konnte. Sein gequälter Gesichtsausdruck drückte jedoch noch deutlicher als seine Worte aus, dass sie sich geirrt hatte, und ihre Eingeweide wurden zu Eis.
Sie zwang sich, ihr Unbehagen beiseitezuschieben und nachzudenken. Er war immer noch ihr kleiner Bruder, und angesichts Vaters nicht gerade sonniger Persönlichkeit musste es einfach mildernde Umstände geben. Sie hob die Hand und strich über die weichen Bartstoppeln auf seiner Wange. „Das weiß ich. Kannst du mir sagen, was wirklich passiert ist?“
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Dann fuhr er sich mit den langen schlanken Fingern durch das Haar. „Er sagte, dass ich … dass ich …“ Jared räusperte sich. „Er hat etwas ganz Furchtbares zu mir gesagt, und ich wollte einfach nur weg, weißt du? Also habe ich ihn geschubst, um an ihm vorbeizukommen. Ich wollte ihn doch nicht umbringen!“
„Moment.“ Victoria sah ihn eindringlich an. „Du hast ihn geschubst?“
„Ja.“ Seine Bewegungen waren vor Aufregung ganz hektisch. „Er sollte mich einfach in Ruhe lassen, aber dann ist er gefallen und mit dem Kopf auf den Kaminsims geprallt. Ich weiß, ich hätte die Feuerwehr rufen sollen, aber ich konnte keinen Puls fühlen, und da waren all die Menschen! Ich bin in Panik geraten. Tori, es tut mir alles so schrecklich leid.“
Sie spürte, wie sich ihre Eingeweide wieder entspannten, aber es war schließlich John, der äußerst gelassen sagte: „Du hast ihn nicht umgebracht, Junge.“
„Was?“ Jared drehte sich um und starrte Rocket an. „Doch, hab ich. Ich hab doch gesagt, er hatte keinen Puls mehr.“
„Nein, J., er hat recht.“ Das Mädchen, das ihren Bruder begleitet hatte, sah ihn an und sagte mit rauer Stimme: „Weißt du noch, als ich dir erzählt habe, dass ich aus dem Fernsehen vom Mord an deinem Vater erfahren hatte? Sie sagten, dass er erstochen wurde!“
„Was?!“ Jared sah aus, als hätte ihn jemand erstochen, während er versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. „Das kann nicht stimmen! Ich hab ihn geschubst!“
„Aber er ist nicht an einer Kopfverletzung gestorben“, erklärte ihm John. „Er starb am Blutverlust, nachdem ihm jemand in die Brust gestochen hat.“
„Vielleicht hat ja jemand auf ihn eingestochen, nachdem ich ihn bereits umgebracht hatte.“
„Nein“, sagte John entschieden. „Keine Ahnung, warum du bei deinem Vater keinen Puls finden konntest, aber wenn du ihn wirklich getötet hättest, hätte sein Herz aufgehört zu schlagen. Es wäre viel weniger Blut am Tatort gewesen, als es der Fall war.“
Jared blinzelte. Zum ersten Mal schien er John wirklich wahrzunehmen und runzelte die Stirn. „Wer sind Sie eigentlich?“ Als seine Stimme sich mitten in der Frage überschlug, lief er knallrot an.
„Tut mir leid, Schätzchen“, warf Victoria ein. „Ich hätte euch vorstellen sollen, aber als ich dich hier wohlbehalten gesehen habe, war alles andere vergessen. Das ist Rocket. Ah, John, John Miglionni. Er ist … ein alter Freund, den ich angeheuert habe, um dich zu finden.“
„Angeheuert?“ Er sah John an. „Was sind Sie, eine Art Privatdetektiv oder so?“
John erwiderte seinen Blick ganz direkt. „Jep.“
„Echt?“ Im gleichen Augenblick, in dem die Worte seinen Mund verließen, zuckte Jared mit den Schultern, als wollte er verbergen, wie spannend er das fand. Schließlich entspannten sich seine Schultern wieder ganz leicht, und er wandte sich Victoria zu. „Ich habe Dad wirklich nicht umgebracht?“
„Nein, wirklich nicht“, versicherte sie ihm.
„Oh Gott.“ Vor lauter Erleichterung gaben seine Beine nach, und er ließ sich schwer auf den Betonboden plumpsen. Er vergrub den Kopf in den Händen. „Oh Gott, Tori, ich habe geglaubt, dass ich dafür garantiert in die Hölle komme.“
„Hört mal“, sagte John, „die Leute werden langsam auf uns aufmerksam, und da Jared noch immer als Verdächtiger gilt, sollten wir das lieber nicht riskieren. Lasst uns hier verschwinden. Wir können in meinem Büro weiterreden.“
In der momentanen Aufregung hatte Victoria total vergessen, dass die Polizei Jared immer noch als Hauptverdächtigen suchte. Sie sah sich vorsichtig um. John hatte recht, das war nicht der richtige Ort, um die Sache zu klären. „Gute Idee.“
Das Mädchen mit der rauen Stimme trat zögerlich einige Schritte zurück. „Na, dann mach ich mich mal lieber aus dem Staub.“ Sie schob die Hände in die Taschen ihrer übergroßen Jeans, zog die schmalen Schultern hoch und warf Jareds gesenktem Kopf einen traurigen Blick zu. Als er ihre Worte hörte, schoss sein Kopf in die Höhe, also setzte sie ein breites Lächeln auf. „Ich werd euch nicht länger aufhalten, damit ihr eure Angelegenheiten klären könnt.“
„Nein!“ Er sprang auf und hielt sie am Arm fest. „Du kommst mit uns!“
„Ja aber …“
Ohne sie loszulassen, drehte er sie zu Victoria um. „Das ist meine Schwester Tori“, sagte er. „Tori, das ist P. J. Ohne sie wäre ich völlig aufgeschmissen gewesen.“
„Ach Quatsch“, widersprach P. J. Sie sah Victoria eingehend an. „Er ist echt klug und …“
„Sie hat mich von all den gefährlichen Orten ferngehalten“, unterbrach Jared sie. „Und sie hat mir gezeigt, wo es was zu essen gibt und wo man sich waschen kann. Sie hat mir Gesellschaft geleistet, Tori. Wenn wir sie hierlassen, ist sie ganz allein. Ihre verdammte Mutter …“
P. J. riss ihren Arm los und richtete sich zu voller Größe auf. „Lass meine Mutter da raus!“
„Ja, okay, tut mir leid. Aber du kommst trotzdem mit.“
Interessiert beobachtete Victoria das Ganze. Als das Mädchen sie voller Unsicherheit ansah, brachen ihr die Verletzlichkeit und die Angst, die sie in den großen goldbraunen Augen sah, das Herz. „Du solltest besser tun, was er sagt, P. J.“, sagte sie mit einem sanften Lächeln. „Wenn er sich erst mal was in den Kopf gesetzt hat, kann er stur wie ein Maulesel sein.“
„Als ob ich das nicht wüsste“, murmelte das Mädchen, aber die Beklommenheit wich aus ihrem Gesicht. Sie wandte sich Jared zu. „Na schön, es kann ja nicht schaden.“
„Ja, ja.“ Er hakte den Arm um ihren dürren Hals, zog sie an sich und rubbelte mit seinen Knöcheln über ihre Denver-Broncos-Mütze.
Sie stieß ihm ihren spitzen kleinen Ellbogen in die Seite und befreite sich aus seiner Umklammerung. „Mann, benimm dich mal anständig, okay?“
Rocket versuchte, sein Lachen mit der Hand zu dämpfen, aber als Victoria ihn ansah, wurde er wieder ganz professionell. „Ich sag Gert nur kurz Bescheid, dass wir kommen“, sagte er und zog sein Handy aus der Tasche.
Ein Teil von Toris guter Laune verflog auf der Stelle. Oh, toll. Die schon wieder. Die Frau, die Johns Büro leitete. Die Frau, mit der er ständig flirtete. Es gehörte nicht viel dazu, sie sich vorzustellen. Wahrscheinlich war sie so eine ewig gebräunte Blondine mit Körbchengröße DD und Schenkeln, zwischen denen man Walnüsse knacken konnte. Victoria sah an ihren eigenen schmuddeligen Klamotten und ihren ausgetretenen Turnschuhen hinab und wünschte sich, heute Morgen wenigstens ein bisschen Make-up aufgelegt zu haben.
Die Kinder saßen eng zusammengedrängt auf dem Rücksitz von Johns Wagen. Langsam wurde Victoria klar, wie wichtig sie füreinander auf der Straße gewesen sein mussten. Nachdem sie einen kleinen Eindruck von dem Leben der Straßenkinder bekommen hatte, wusste sie sehr zu schätzen, welche Bedeutung es für ihren Bruder gehabt haben musste, sich auf jemanden verlassen zu können. Auf jemanden, der ihm das Gefühl gab, nicht völlig allein zu sein.
Kurz darauf steuerte Rocket das Auto auf einen kleinen Parkplatz. Auf dem antiken Messingschild, das an einer Säule vor dem kleinen Haus hing, stand „Semper Fi Investigations“.
Victoria wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte, aber sie war überrascht – sowohl von dem kleinen, äußerst dekorativ gestrichenen Haus als auch von dem recht noblen Bezirk, in dem sich das kleine Gewerbegebiet befand. „Was denn“, murmelte sie, „keine schmuddeligen Gänge? Keine Tür mit Milchglasscheibe?“
John grinste sie an und tätschelte ihren Oberschenkel. Dann drehte er sich zu Jared um. „Junge, mach dich auf was gefasst …“
„Sein Name ist Jared“, fuhr P. J. ihn an.
Er lächelte ihr zu. „Stimmt, tut mir leid. Mach dich auf was gefasst, Jared. Du auch, P. J. Gleich werdet ihr Gert kennenlernen.“
P. J. schnallte sich ab, rutschte nach vorn und sah ihn mit großen Augen interessiert an. „Wer ist Gert?“
„Gert MacDellar ist meine Büroleiterin. Mein Faktotum.“ Er grinste Victoria schelmisch an. „Mein Mädchen für alles, sozusagen.“
Ja, ja, ja, dachte sie miesepetrig. Sehr witzig. Es war ja nicht so, dass sie eifersüchtig war … eigentlich. Na ja, gut, vielleicht war sie ein bisschen eifersüchtig. Sie hatte es nicht halb so eilig, aus dem Wagen zu steigen, wie die anderen. Sie ließ sich Zeit und schlug sich den Staub von der Hose, der sich im Lauf der Zeit dort angesammelt hatte.
Sein Mädchen für alles würde ohne jeden Zweifel wie aus dem Ei gepellt aussehen.
„Na endlich“, kommandierte eine Stimme vom anderen Ende des Ganges. „Es wurde so langsam auch Zeit. Ich gehe davon aus, du wirst jetzt wieder etwas mehr Zeit in deinem Büro verbringen?“
Victoria richtete sich auf. Aber hallo. Was war das denn? Gert flötete keineswegs in den lieblichen Tönen, die sie erwartet hatte. Victoria beschleunigte ihren Schritt, stieg die Treppe empor und ging hinein.
Hinter einem gewaltigen Schreibtisch aus dunkler Eiche saß eine ältere Frau mit blaustichigem Haar und einer Brille mit ovalen Gläsern wie Katzenaugen. Sie sah John mit einem herrischen Gesichtsausdruck an. „Sag mir, dass dein Fall in Colorado Springs damit beendet ist.“
„Nicht wirklich.“ Er setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtisches und lächelte sie gänzlich unbeeindruckt an.
„Meine Güte, Junge, du solltest dich langsam ein bisschen beeilen.“ Sie wedelte mit einer Hand voll pinkfarbener Zettel vor seinem Gesicht herum. „Sieh dir das an! Andauernd muss ich neue Anfragen abwimmeln!“
„Das schaffst du schon, Gert“, sagte John gelassen. „Der Fall ist komplizierter, als es ursprünglich den Anschein hatte. Miss Hamilton möchte, dass ich mich auf die Suche nach dem Mörder ihres Vaters mache, da ihr Bruder ja nun unschuldig ist.
„Sie will, dass du dich um einen Mordfall kümmerst?“ Die Frau richtete ihren intensiven stahlblauen Blick auf Victoria. „Haben Sie eine Ahnung, was Sie das kosten wird, junge Dame?“
„Ja. John hat mir seinen Preis genannt und mich darauf hingewiesen, dass mir kein Geld der Welt die Antworten garantieren kann, die ich suche.“
„Ach, das hat John getan, ja?“
„Lass es gut sein, Gert.“
„Na schön.“ Sie sah ihn scharf an und richtete ihre Turmfrisur aus den Fünfzigerjahren mit einer Hand. „Mach die Tür zu“, fuhr sie P. J. an, die sich interessiert im Büro umgesehen hatte und nun auf der Türschwelle stand, um den Vogelfutterautomaten draußen zu begutachten.
„Entschuldigung. Es ist nur … Der Laden hier ist so cool, ich will mir alles ansehen.“
P. J. schloss wie befohlen die Tür und hüpfte anschließend zum Schreibtisch hinüber. „Ihre Brille ist klasse“, sagte sie und sah sich Gert ganz genau an. „Und Ihr Haar ist einfach zu cool! Es ist echt stark, eine alte … äh, ich meinte, eine ältere Frau zu sehen, die voll auf diesen ganzen Retrokram abfährt.“
„Schön, dass es dir gefällt“, sagte Gert eisig, aber sie sah das Mädchen ganz sanft an.
P. J. wies auf den Schreibtisch und den Rest des Büros. „Was machen Sie hier denn eigentlich? Ich meine, Sie müssen doch ziemlich wichtig sein, oder? Mr. Miglionni hat gesagt, Jared und ich sollten uns auf etwas gefasst machen, wenn wir Sie kennenlernen.“
„Mr. Miglionni ist ein echter Klugscheißer“, sagte Gert. „Aber er versteht sein Handwerk. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass hier im Büro alles glattläuft, damit er draußen seine Arbeit machen kann. Außerdem“, sie warf John einen vielsagenden Blick zu, „habe ich dafür zu sorgen, dass er regelmäßig seine Stunden aufschreibt, damit wir sie den Klienten in Rechnung stellen können. Schließlich wollen wir alle etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, nicht wahr?“
P. J. nickte beeindruckt. „Das ist definitiv wichtig“, stimmte sie zu.
Gert saß eine Sekunde lang wie versteinert da, dann sagte sie: „Du bist in Ordnung, Kleine.“
„Danke. Mein Name ist P. J.“
„Und ich bin Gert.“
„Und das ist Jared“, fügte John hinzu. „Nun, da sich alle kennen, können wir ja in mein Büro gehen und uns überlegen, wie es weitergehen soll, damit wir alle wieder ein halbwegs normales Leben führen können.“
„Halbwegs normal?“, fragte Victoria.
„Er ist ein Teenager.“ John zuckte mit den Schultern. „Was will man da erwarten?“
Sie lächelte, und selbst Jared, der steif neben Victoria gestanden und abwechselnd von P. J. zu John und zurück geschaut hatte, ließ den Anflug eines Lächelns erkennen.
John spürte seine Anspannung. „Hier lang.“ Er führte sie durch einen kurzen Gang, der in dunklem Gelb gehalten war. An den Wänden hingen Film-Noir-Poster aus den Vierzigern.
Victoria warf einen Blick in die Räume, an denen sie vorbeikamen, Küche und Badezimmer, obwohl sie eigentlich damit beschäftigt war, Johns Rückansicht zu bewundern. Als er endlich stehen blieb, riss sie den Blick von seinem glänzenden Haar los. Sie war gerade dabei, ihre Meinung darüber zu ändern, dass heutzutage nur Althippies und Auftragskiller Pferdeschwänze trugen. Lächelnd sah sie auf die Tür, vor der sie stehen geblieben waren. Sie starrte die Tür an, die ein Fenster aus Milchglas hatte. Darauf stand in altmodischer Schrift „John Miglionni, Privatdetektiv“. Sie drehte sich zu ihm um und hob eine Augenbraue. „Das ist nicht dein Ernst.“
Ein Hauch von Röte überzog seine Wangen. „Was soll ich sagen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es erschien mir angebracht.“
„Was denn?“ P. J. sah Jared an. „Hast du eine Ahnung, wovon sie reden?“
„Die Tür“, sagte er. „In den alten Krimis hat der Schnüffler immer ein Büro mit so einer Tür.“
„Ah.“ Offensichtlich verstand sie nicht, was das Gewese um eine Tür sollte.
Kurz darauf saßen alle um Johns Schreibtisch herum, während er sich selbst auf die Tischkante in Victorias Nähe setzte.
Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte das nicht getan. So hatte sie seine gespreizten Oberschenkel und die schwer zu ignorierende Tatsache, dass er Linksträger war, genau vor Augen. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und dachte an die letzten beiden Nächte, die sie zusammen verbracht hatten.
„Als Allererstes brauchen wir einen guten Anwalt für Jared“, sagte er. „Tori, hast du was dagegen, wenn wir bei deinem Anwalt anrufen und fragen, ob er uns jemanden empfehlen kann?“
Sie wurde rot. Was zur Hölle fiel ihr ein, jetzt an Sex zu denken, wo die Sache mit ihrem Bruder noch nicht endgültig geklärt war? Sie setzte sich aufrecht hin, faltete die Hände im Schoß und kreuzte vornehm die Knöchel. „Nein, gar nicht.“
„Hast du die Nummer des Hamilton-Anwalts, Gert?“
Victoria drehte sich überrascht um. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Frau ihnen gefolgt war, dennoch saß sie nun in einem alten Ledersessel in einer hinteren Ecke des Zimmers. Gert wirkte so selbstbewusst – Victoria hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie einen so kleinen Raum betreten konnte, ohne dass es alle sofort bemerkt hätten. Offensichtlich konnte sie jedoch völlig im Hintergrund verschwinden, wenn es erforderlich war.
„Rutherford“, sagte Gert und sah von dem Notizblock auf, der auf der Armlehne des Sessels lag. „Ich rufe ihn an, sobald wir hier fertig sind.“
John wandte sich Jared zu. „Es wird folgendermaßen ablaufen“, sagte er. „Um die ganze Sache aufzuklären, musst du dich der Polizei von Colorado Springs stellen. Wir müssen uns allerdings noch genau überlegen, wie wir das durchziehen, also werden wir erst mal nichts überstürzen. Das bedeutet, dass wir dich geheim halten müssen, bis uns der beste Strafverteidiger im Staat zur Verfügung steht. Da du noch minderjährig bist, dürfen deine Eltern bei deiner Befragung durch die Polizei dabei sein.“
„Ich habe aber keine Eltern mehr“, sagte Jared mit kummervollem Blick.
„Ich weiß“, antwortete John knapp. „Aber ich denke, Victoria würde infrage kommen, und deshalb möchte ich, Tori“, sagte er und wandte sich ihr zu, „dass du eine Erklärung unterschreibst, in der du mir dieses Recht abtrittst.“
„Was?“ Sie setzte sich noch aufrechter hin. „Nein. Ich will dabei sein!“
„Das weiß ich, Schätzchen. Du willst dabei sein, um ihn zu unterstützen, und dieses Recht hast du dir weiß Gott verdient. Schließlich warst du die Einzige, die von Anfang an an seine Unschuld geglaubt hat. Aber wenn du dich erinnerst, habe ich den Cop, der für den Fall zuständig ist, bereits kennengelernt. Er ist völlig kompromisslos, und da es darum geht, Jareds Unschuld zu beweisen, habe ich viel bessere Chancen als du.“
Sie wusste, dass er recht hatte, aber das hielt sie nicht davon ab, trotzdem zu protestieren. „Du hast doch nur ein Mal mit ihm geredet.“
„Korrekt. Andererseits habe ich es im Lauf der Jahre mit einem Haufen Polizisten zu tun gehabt – in mehr Staaten, als Jared alt ist. Ich habe Erfahrung im Umgang mit ihnen.“
„Ja, aber du hast doch keinerlei Beziehung zu Jared. Bist du mal auf die Idee gekommen, dass er lieber mich dabeihätte?“
John drehte sich zu ihm um. „Wäre dir das lieber?“
Ihr Bruder sah Rocket einige Augenblicke lang schweigend an. Dann drehte er sich zu Victoria um und sagte entschuldigend: „Ich glaube, ich werde mich da nicht besonders wohlfühlen, egal, wer dabei ist. Ich hoffe, du bist nicht sauer, aber ich würde lieber mit jemandem hingehen, der weiß, wie so was abläuft.“
„Natürlich bin ich nicht sauer.“ Jedenfalls nicht sehr. Sie fühlte sich wie eine verwöhnte Göre, denn sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Beharrlichkeit eher das Produkt ihres Gefühls, versagt zu haben, war als irgendetwas anderes. Sie nahm Jareds Hand und drückte sie. Dann sah sie John an. „Ich werde alles unterschreiben.“
„Danke“, sagte er leise. Dann drehte er sich abrupt um. „Gert, kümmere dich bitte darum, dass Rutherford uns einen erstklassigen Strafverteidiger empfiehlt, und vereinbare schnellstmöglich einen Termin mit ihm.“
„Alles klar“, antwortete sie und kam kurz darauf mit Ergebnissen zurück. „Rutherford legt uns Ted Buchanan ans Herz. Ich habe sein Büro angerufen. Er will sich mit euch morgen um elf Uhr auf dem Hamilton-Anwesen treffen.“
„Anwesen?“, fragte P. J. Sie sah Jared beinahe entsetzt an, aber der zuckte nur mit den Schultern.
„Dann sollten wir am besten heute Abend noch zurückfahren“, sagte Rocket. Er wandte sich P. J. zu. „Das bringt uns zu dir.“
Sie versteinerte. „Was? Nee, ich hab damit nichts zu tun. Ich bin nur hier, weil J. wollte, dass ich mitkomme!“
„Du kannst aber nicht zurück auf die Straße, Süße.“
Der Kosename machte sie für einen Moment verlegen. Schließlich hob sie den Kopf. „Ich weiß. Das hab ich auch nicht vor. Ich werde meine Mom anrufen.“
„Und was, wenn sie wieder auflegt?“, wollte Jared wissen.
„Deine Mutter hat einfach aufgelegt, als du sie angerufen hast?“, fragte Gert. Ihre blauen Augen funkelten böse hinter ihren Brillengläsern.
P. J. ignorierte die Frage, aber die alte Dame verschränkte die Arme über der knochigen Brust und sah sie an. Schließlich zuckte das Mädchen mit den Schultern. „Jaaaa“, murmelte sie kaum hörbar und lief feuerrot an.
„Aber ich schätze, du würdest trotzdem gern zu ihr nach Hause gehen, richtig?“
„Oh ja, Ma’am.“
„Dann werde ich dafür sorgen, dass du das auch kannst“, sagte Gert kurz. Victoria hatte keinen Zweifel, dass es der herrischen alten Dame auch gelingen würde. „In der Zwischenzeit“, fuhr Gert fort, „kommst du mit zu mir.“
P. J. hob den Kopf und sah die Büroleiterin argwöhnisch an. „Sie sind doch wohl nicht eine von diesen Frauen, die auf kleine Mädchen stehen, was?“
Gert schnaubte. „Wohl kaum. Wenn du mich fragst, ist Sex völlig überbewertet – egal mit welchem Geschlecht.“
„Ja, genau!“
„Na fein, dann hätten wir das ja geklärt.“
„Nein, haben wir nicht.“ Das Mädchen stand kerzengerade da. „Ich bin kein Sozialfall, Lady.“
„Dafür habe ich dich auch nicht gehalten. Die Wahrheit ist, ich könnte hier ein bisschen Hilfe gebrauchen, bei der Ablage und der Organisation. Wenn du gute Arbeit leistest, kannst du nicht nur Kost und Logis abarbeiten, sondern dir auch noch ein bisschen Taschengeld verdienen.“
„Das ist in Ordnung.“ P. J. schien von innen heraus zu strahlen. „Das ist etwas ganz anderes.“
„Gut. Ich denke, mein Haus wird dir gefallen. Es ist voll mit diesem – wie hast du es doch gleich genannt? – Retro-kram.“
John wandte sich wieder Jared zu, der immer launischer geworden war, je länger sie P J.s Plänen gelauscht hatten. „Bist du mit dieser Lösung einverstanden?“, fragte er leise, während Gert dem Mädchen einige Dinge erläuterte.
Der Teenager zuckte mit den Schultern. „Ich schätze schon. Aber warum kann sie nicht einfach mit uns mitkommen?“
„Sie soll sich nicht wie ein Sozialfall fühlen. Euer Haus ist ein regelrechter Palast. Was meinst du wohl, wie sie sich da als Gast vorkommen würde?“
„Mist.“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. Trotzdem sah er John direkt an. „Wahrscheinlich würde es sie mächtig einschüchtern.“
„Das glaube ich auch. Das heißt ja aber nicht, dass du sie nicht wiedersehen kannst, wenn die ganze Sache ausgestanden ist.
Jared stimmte schließlich gnädig zu, aber Victoria sah, dass er sich bei dem Gedanken, von seiner Freundin getrennt zu werden, nicht wohlfühlte.
Rocket schien das auch zu spüren, denn seine Stimme war sanfter als gewöhnlich, als er fragte: „Ist es für dich okay, wenn du eine Weile mit P. J. und Gert hier bleibst?“
Jared sah ihn an und nickte.
„Gut. In der Küche ist was zu essen. Bedient euch einfach.“ John wandte sich Victoria zu. „Nimm deine Tasche“, sagte er auf dem Weg zur Tür. „Wir fahren zu mir, um ein paar Sachen zu holen. Zuerst fahren wir aber zum Hotel, um dich auszuchecken.“