3. KAPITEL

V erdammt! Victorias Herz schien aus ihrer Brust springen zu wollen, und ihr Mund war staubtrocken. Verdammt, verdammt, verdammt! Vor dieser Situation hatte sie sich gefürchtet, seit ihr klar geworden war, wen sie vor sich hatte. In ihrem Magen brodelte es, während sie Rocket ansah. Da sie ihr ganzes Leben lang geübt hatte, sich zu beherrschen, auch wenn sie sich nicht danach fühlte, holte sie nun tief Luft und fragte: „Was sollte ich dir sagen wollen?“

„Spiel hier nicht die Eisprinzessin, Tori. Du weißt ganz genau, worum es geht.“ Er machte einen Schritt auf sie zu, sodass er sie überragte. Victoria schluckte hilflos, als sie die mühsam zurückgehaltene Wut in seinen Augen sah. „Esme. Ich will wissen, zu wem sie gehört, und ich will es jetzt wissen.“

„Zu mir.“ Wut löste ihre Erstarrung, und Victoria richtete sich kerzengerade auf. Sie schob energisch das Kinn vor und sah ihm direkt in die Augen. „Esme gehört zu mir. Sie ist meine Tochter!“

„Und meine“, knurrte er wütend. „Ein nicht gerade unwichtiges kleines Detail, das ich niemals erfahren hätte, wenn ich heute nicht hergekommen wäre.“

Hätte sie Zeit gehabt, alles in Ruhe zu durchdenken, hätte sie seine Vaterschaft vermutlich kategorisch zurückgewiesen. Schließlich hatten sie die ganze Woche brav Kondome verwendet. Aber in den letzten zwei Wochen waren ihr Vater ermordet worden und ihr Bruder verschwunden. Sie selbst hatte ihre gesamten Habseligkeiten gepackt und von einem Ende der Welt ans andere verschifft. Und plötzlich, aus dem Nichts heraus, war der Vater ihres Kindes wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Kein Wunder, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie hatte in der letzten Zeit zu viel verkraften müssen und war mit den Nerven am Ende. Sie hätte ihm niemals glaubhaft verkaufen können, dass sie von seinem Bett aus direkt in das eines anderen gesprungen war.

Trotzdem. Seine Frechheit machte sie wütend. „Du musst schon entschuldigen, Rocket oder John oder wie auch immer du dich momentan nennst, aber ich finde deine Haltung ein wenig anmaßend. Wie hätte ich dich denn informieren sollen? Hätte ich einen Brief an die Marines schicken sollen? Adressiert an Rocket, Nachname unbekannt? Und außerdem – was hast du denn in der Zeit getrieben, in der ich festgestellt habe, dass ich trotz der Kondome schwanger geworden bin? Mit anderen Frauen geschlafen, von denen du auch nur den Vornamen kanntest? Oder hast du deine Marine-Freunde mit Geschichten über uns unterhalten?“

„Nein. Verdammt noch mal, Tori, ich habe niemandem etwas davon erzählt.“

Sie ignorierte die Erleichterung, die sie verspürte, und hielt verzweifelt an ihrer Entrüstung fest. „Warum nicht? Das war doch sonst deine Masche, oder? An dem Abend, als wir uns kennengelernt haben, hat mich einer deiner Freunde davor gewarnt, wie gesprächig du bist.“ Der Gedanke daran, dass er anderen alles über die gemeinsame Zeit erzählen könnte, war ihr noch Monate später sauer aufgestoßen.

„Oh, lass mich raten – Bantam, was? Der gleiche Kerl, der alles versucht hat, damit du mit ihm nach Hause gehst anstatt mit mir.“ Er schob die Hände in die Taschen und starrte sie einen Moment lang an, bevor er kurz mit den Schultern zuckte. „Andererseits hatte er nicht unrecht. Es war meine Masche, bevor ich dich getroffen habe.“

„Na klar.“ Skepsis machte sich in ihr breit. „Weil ich so etwas Besonderes war, richtig? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“ Noch bevor er antworten konnte, schnitt sie ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Sag es nicht. Die Tatsache, dass ich trotz der Warnung mit dir gegangen bin, spricht für sich.“

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie ihr Herz in seiner Gegenwart schneller geschlagen hatte. Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

Die Reise nach Pensacola hätte fast nicht stattgefunden. Ihre Unterkunft war die Art von Hotel, die sie als anständiges Mädchen zu meiden wusste, und eigentlich wollte sie die Reise verfallen lassen. Doch der Gutschein war ein Geschenk der Architekturfirma, für die sie arbeitete, als Dankeschön für einen Entwurf, der einen äußerst lukrativen Auftrag eingebracht hatte. Victoria war so stolz gewesen – auf ihre gute Arbeit und die Anerkennung ihrer Vorgesetzten. Sie hatte kaum erwarten können, ihrem Vater davon zu erzählen.

Sie hätte wissen müssen, dass er sie auslachen würde. Zumindest hätte sie nicht so überrascht sein dürfen. Schließlich konnte sie es ihm nie recht machen. Trotzdem hatte er sie mit seiner eiskalten Art wieder einmal erwischt. Diesmal war es jedoch anders. Als er ihre Leistung arrogant beiseitewischte und ihr befahl, keinen Fuß in ein Hotel zu setzen, das den geschmacklosen Namen „Club Paradise“ trug, beschloss sie, zu rebellieren.

Auch wenn die Reise als Racheakt an ihrem Vater begonnen hatte: Als sie Rocket kennenlernte, änderte sich das alles. Bei ihm zu sein war aufregend und gefährlich, es machte süchtig. Sie fühlte sich so …

Sie wischte die Erinnerungen beiseite und sah ihn ernst an. „Glaub nicht, dass du im Recht bist, nur weil ich ein Idiot war. Du hast dir auch nicht gerade ein Bein ausgerissen, um mich zu finden. Ich hatte doch keinerlei persönliche Daten von dir. Wo hätte ich dich suchen sollen? Ich wusste ja nicht einmal, in welchem Staat du stationiert warst! Den Entschluss, mein Baby zu behalten, habe ich allein getroffen und mit Klauen und Zähnen gegen meinen Vater verteidigt. Er hatte Angst, dass sein Ruf darunter leiden würde.“

Er stand stocksteif da. „Dein Vater wollte, dass du abtreibst?“ Seine Augen blitzten wütend, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. „Sagen wir also, du hattest keine Möglichkeit, Kontakt mit mir aufzunehmen, als du von der Schwangerschaft erfahren hast.“ Sein Tonfall war wieder genauso unterkühlt freundlich wie vorhin, als er sie „Ma’am“ genannt hatte. In seinen Augen aber loderte eine wilde Glut, während er sie ansah. „Das erklärt aber nicht, warum du Esme und ihre Beziehung zu mir nicht schon früher erwähnt hast, zum Beispiel, als ich hier ankam.“

„Ist das dein Ernst?“ Offensichtlich meinte er es todernst. „Was soll ich sagen, Rocket? Es hat mich ein bisschen überrascht, dich nach sechs Jahren so mir nichts dir nichts wiederzusehen.“ Die Bitterkeit in ihren Worten überraschte sie selbst. Sie atmete tief durch. „Tut mir leid, das war unhöflich.“

Er verzog den Mund. „Gott bewahre!“

Nun ja, nicht jeder von uns kann es sich erlauben, einfach jeden Gedanken auszusprechen, der ihm in den Sinn kommt. Mühsam beherrscht sah Victoria ihn an. „Okay, wie steht’s damit? Ich habe ein fröhliches, ausgeglichenes kleines Mädchen. Ich erinnere mich an dich als wirklich netten Kerl, aber ich erinnere mich auch daran, dass dauerhafte Beziehungen nicht gerade deine Stärke waren. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass sich das geändert hat.“ Ihre Stimme nahm an Härte zu. „Ehrlich gesagt ist es mir egal, wie nett du bist. Ich werde mit allen Mitteln verhindern, dass Esme einen Vater hat, der sich in ihr Leben einmischt, wie es ihm gerade passt, nur um gleich darauf wieder zu verschwinden.“

Sein Blick wurde noch wilder. „Ich habe Neuigkeiten für dich, Schätzchen: Dafür war ich nie der Typ. Als wir uns kennengelernt haben, habe ich gern gefeiert, aber erwachsen zu werden war nie mein Problem. Mal ganz abgesehen davon, dass ich in erster Linie Marine war, was von Natur aus ein verantwortungsvoller Posten ist. Ich musste verdammt früh erwachsen werden, früher als die meisten. Willst du wirklich Verantwortlichkeiten vergleichen? Na schön, ich bin schon durch den Schlamm gerobbt und Kugeln ausgewichen, als du noch auf deiner schicken Privatschule für verwöhnte Prinzesschen warst!“

„Was willst du, Rocket?“ Im Moment war es nicht schwer, sich den Krieger in ihm vorzustellen. Sie konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen. „Besuchsrecht? Das Sorgerecht alle zwei Wochenenden und zwei Wochen im Sommer?“ Das war mit Sicherheit das Letzte, was er wollte.

Vielleicht hatte er sich ja gar nicht so sehr verändert, denn er stand einfach nur da und sah sie an. Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, den sie bei jedem anderen Mann als Panik gewertet hätte. Dann blinzelte er und setzte wieder sein professionell ausdrucksloses Gesicht auf. Seine Stimme klang müde, als er fragte: „Besuchsrecht?“

„Ich nehme an, darauf willst du hinaus.“ Und sie wollte nicht einmal darüber nachdenken. Als sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, war sie tief im Innern ein klein bisschen froh gewesen, dass sie nicht wusste, wie sie ihn kontaktieren sollte. Aus dem Mann, für den sie so offensichtlich nur eine nette kleine Affäre war, einen Vater zu machen war das Allerletzte, was sie wollte. Sie hatte selbst einen Vater, der diesen Job nicht gewollt hatte – nie im Leben würde sie ihr Kind der gleichen Situation aussetzen.

Wenn Rocket aber wirklich ein Rolle in Esmes Leben spielen wollte, nun, vielleicht ging es dann ja nicht darum, was sie wollte. Sie würde tun, was das Beste für ihr Kind war. Und vielleicht hatte sie ja wirklich weder moralisch noch juristisch das Recht, dem treulosen Mistkerl seine Tochter vorzuenthalten, sosehr sie diese Vorstellung auch schmerzte. Zumindest nicht, wenn er sich wirklich als Vater engagieren wollte.

Er sah sie müde an. „Was weiß sie über mich?“

„Gar nichts.“

„Was soll das heißen, gar nichts? Hat sie nie gefragt, warum andere Kinder einen Daddy haben und sie nicht?“

„Natürlich hat sie gefragt! Aber was sollte ich ihr erzählen? Dass sie das Resultat einer netten kleinen Affäre mit einem heißen Marine war, der nicht einmal meinen Nachnamen wissen wollte?“

„Was dann? Du hast ihr stattdessen erzählt, dass ich tot bin?“

„Selbstverständlich nicht!“ Jetzt war sie wirklich wütend. „Ich lüge meine Tochter nicht an, Miglionni. Wenn sie alt genug ist, werde ich ihr die Wahrheit erzählen. Bis dahin bleibe ich bei der Version, die sie kennt.“

Er sah sie kalt an. „Und die lautet …?“

„Dass ihr Papa nicht bei ihr sein kann. Ich sollte aber ein ganz besonderes kleines Mädchen haben, deswegen hat Gott sie mir geschickt. Ich habe ihr gesagt, ich liebe sie genug für zwei, und wir brauchen keinen Da…“ Bevor sie etwas Verhängnisvolles sagen konnte, klappte sie den Mund zu.

Es war bereits zu spät. Seine Augen waren nur noch Schlitze. „Was braucht ihr nicht, Victoria? Einen Daddy? Du vielleicht nicht, Süße, aber ich wette, das kleine Mädchen könnte einen gebrauchen!“

„Ich frage dich noch mal: Was willst du?“

Er fuhr sich durch das Haar, bis seine Finger in dem Gummiband hängen blieben, das seinen Pferdeschwanz zusammenhielt, und sah sie frustriert an. „Ich weiß es nicht.“

„Dann sage ich dir jetzt Folgendes: Ich hätte alles für einen liebevollen, aufmerksamen Vater gegeben. Stattdessen musste ich aus erster Hand erfahren, wie viel Schaden ein pflichtvergessener Elternteil anrichten kann. Wenn mein kleines Mädchen Ersteres nicht haben kann, dann werde ich zumindest dafür sorgen, dass sie Letzteres nicht durchmachen muss.“ Sie sah ihm tief in die schönen schwarzen Augen. „Ich versuche, vernünftig zu sein und deine Sicht der Dinge zu verstehen. Aber wenn du nicht vorhast, die Art Papa zu sein, die Esme verdient, dann denke nicht einmal daran, ihr zu sagen, dass du ihr Vater bist.“

„In Ordnung.“

Er sah sie einige Augenblicke schweigend an. Victoria hatte das Gefühl, nichts würde mehr in Ordnung sein. Sie war erleichtert, als er endlich den Blick senkte und nach seinem Laptop griff. Bevor sie tief durchatmen konnte, drehte er sich aber noch einmal zu ihr um und sah sie an.

„Lass ein Zimmer fertig machen“, sagte er. Obwohl seine Stimme ruhig und höflich klang, hörte sie einen Unterton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich werde hier einziehen.“

„Wie bitte?!“

„Die Tatsache meiner Vaterschaft ist dir zwar schon seit sechs Jahren bekannt, Tori, aber was mich angeht, ich bin erst seit zehn Minuten Daddy. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich mich fühlen soll. Aber ich finde, ich sollte die Chance bekommen, meine Tochter kennenzulernen, während ich es herausfinde.“

„Stimmt, solltest du. Also nimm dir ein Hotelzimmer in der Nähe und komm jeden Tag vorbei.“

„Damit du die Chance hast, schnell alles zusammenzupacken und mit ihr abzuhauen? Vergiss es, Mädchen.“

„Das würde ich niemals tun!“ Sie starrte ihn an, völlig entrüstet, dass er ihr so etwas zutraute.

„Es wäre nicht das erste Mal, dass ich zurückbleibe.“

Schon, aber das war doch nur, weil ich mich viel zu tief in die Sache mit dir verwickelt hatte, obwohl ich dir versprochen hatte, es nicht zu tun. Ihr ganzer Körper bebte bei der Erinnerung. Vor sechs langen Jahren war sie im Morgengrauen hinausgeschlichen, weil sie sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt hatte, der so gar nicht in ihre perfekte Welt passte. Anfangs hatte sie gedacht, es würde ganz leicht sein, sich an seine Spielregeln zu halten und die Zeit einfach zu genießen. Stattdessen verliebte sie sich mit jedem Tag, den sie mit ihm verbrachte, mehr in ihn, und das machte ihr Angst. Um sich noch größeren Herzschmerz zu ersparen, war sie bei Sonnenaufgang weggelaufen.

Sie war jedoch nicht verrückt genug, um das zuzugeben. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem charmanten Burschen aus ihrer Erinnerung. Sie war sich sicher, dass er jede Schwäche, die sie zeigte, zu seinen Gunsten ausnutzen würde. Deshalb gab sie sich bewusst gelassen und log ihn eiskalt an. „Ich habe dir doch gesagt, es gab einen familiären Notfall.“

„Und ich habe vor, hier zu sein, falls so etwas wieder einmal passieren sollte.“

Obwohl sich seine Stimme weder sarkastisch noch skeptisch anhörte, fühlte sie sich verschaukelt und angegriffen. Es musste an seinen Augen liegen, beschloss sie. Victoria hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, ihm zu widersprechen.

Rocket sah jedoch aus, als würde er ihr das Leben zur Hölle machen, falls sie sich weigerte. Außerdem hatte jemand ihren Vater umgebracht, und das war nicht ihr Bruder gewesen. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, einen Mann im Haus zu haben, der in der Lage wäre, Esme zu beschützen, falls der Mörder noch einmal zurückkäme.

Die Entscheidung gefiel ihr zwar nicht, aber sie war zu müde, um noch lange mit ihm zu streiten. „Ich habe nicht vor, hier wegzugehen, bevor Jared gefunden wurde, aber ich werde Mary bitten, ein Zimmer für dich fertig zu machen.“

„Gut.“ Sein Blick sagte eindeutig, dass er an dieser Entscheidung niemals gezweifelt hatte. „Wenn du dann ein Foto für mich hast, kann ich mich auf die Suche nach deinem Bruder machen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, als würde er ein ganz gewöhnliches Geschäft abschließen.

Seine Hand zurückzuweisen wäre unhöflich gewesen, aber als Victoria sie ergriff, wusste sie im gleichen Moment, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Chemie zwischen ihnen war immer noch da. Sie war da, seit sie ihn damals in dieser Bar das erste Mal erblickt hatte. Und sie hatte erst vor ein paar Minuten ihren Puls gewaltig beschleunigt. Ihre Haut prickelte, wo sie mit seiner kräftigen braunen Hand in Berührung kam.

So schnell wie möglich ließ sie ihn wieder los. Das wird schon klappen, versicherte sie sich selbst. Wenn du dir genug Mühe gibst, kann Esme dabei nur gewinnen. Und dafür würde Victoria eine Menge ertragen.

Warum wurde sie dann das Gefühl nicht los, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben?

John war stinksauer. Richtig ernsthaft sauer. „Tut mir leid“, imitierte er ihre Stimme, „das war unhöflich.“ Er stieg ins Auto, ließ den Motor an und schoss mit quietschenden Reifen aus dem Parkplatz heraus. Wütend legte er den ersten Gang ein und fuhr die Einfahrt hinunter. Ihm nicht zu sagen, dass er ein Kind hatte, war also unhöflich.

In seinem Innern brodelte es, und am liebsten hätte er jemanden verprügelt. Er wollte das befriedigende Gefühl verspüren, mit der seine Faust auf Fleisch traf. Und ehrlich gesagt war es ihm momentan vollkommen egal, wer das war.

Das erinnerte ihn aber zu sehr an die betrunkenen Wutausbrüche seines Vaters, also beschränkte er sich darauf, das Gaspedal durchzutreten und durch das sich schließende Tor zu schießen. Sein Wagen schlidderte auf die Straße, bevor er ihn abfing und erneut das Gas durchtrat. Er würde nicht zulassen, dass Toris Verrat Jahre mühsam erarbeiteter Selbstbeherrschung zunichtemachte.

Und trotzdem. Er musste irgendetwas tun, oder er würde explodieren. Er nahm den Fuß vom Gas, bis der Wagen sich auf eine etwas annehmbarere Geschwindigkeit verlangsamt hatte, und holte sein Handy heraus.

Er war sehr dankbar, dass Zach sofort am Apparat war und er nicht erst mit der Frau seines Freundes sprechen musste. John hatte Lily sehr gern, aber für Small Talk war er momentan einfach nicht in Stimmung. Ohne Vorwarnung sagte er: „Hol die Zigarren raus. Ich bin Vater geworden.“

Schweigen am anderen Ende. Dann hörte er Zachs Stimme: „Rocket?“

„Ja. Warte kurz, ich will sehen, ob ich Coop auch erwische. Ich muss dringend Dampf ablassen, aber ich habe Angst, dass jemand zu Schaden kommt, wenn ich es zweimal erzählen muss.“

„Lass dir Zeit, mein Freund. Ich bleibe dran.“

Das beruhigte John einigermaßen, während er die zweite Nummer wählte. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er eine Konferenzschaltung mit Cooper Blackstock und Zach Taylor, früheren Mitgliedern seiner Aufklärungseinheit bei den Marines und gleichzeitig seine besten Freunde. Kurz und bündig und so beherrscht wie möglich erzählte er ihnen von seiner Tochter und wie er von ihr erfahren hatte.

Nachdem er seine Geschichte beendet hatte, herrschte Schweigen in der Leitung. Dann sagte Zach: „Schöner Mist!“, während Coop gleichzeitig ein „Ich kann’s nicht glauben. Der Maulkorb hat also einen Namen!“ losließ.

„Victoria“, sagte Zach, „ja, das kommt von der Zeit her hin.“

„Hä?“ John runzelte verwirrt die Stirn und nahm den Fuß vom Gaspedal. „Ich habe keine Ahnung, was ihr da vor euch hin brabbelt.“

„Marines brabbeln nicht“, sagte Zach. „Meinst du, es ist unserer Aufmerksamkeit entgangen, dass du vor sechs Jahren plötzlich zum großen Schweiger wurdest, nachdem du uns die ganzen Jahre davor jede deiner Bettgeschichten bis in kleinste Detail geschildert hast?“

„Wir sind ja nicht doof“, stimmte Coop zu. „Das kam einfach zu abrupt.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass einer von euch mich nach dem Grund gefragt hätte.“

„Hätten wir ja gern, aber du warst so verschwiegen, dass wir es für besser gehalten haben, nicht zu fragen. Es war mehr als ungewöhnlich für dich, dass du uns so gar nichts von ihr erzählt hast.“

„Ich muss zugeben, ein paar Details wären schon nett gewesen“, fügte Zach hinzu. „Ice und ich haben uns ganz schön den Kopf darüber zerbrochen, wer dich wohl an die Leine gelegt hat.“

„Na toll.“ Er fuhr auf den Seitenstreifen, nahm den Gang heraus und zog die Handbremse an. „Das ist echt klasse. Es war einer der entscheidendsten Momente meines Lebens, und ihr habt euch darüber lustig gemacht.“

„Nein“, sagte Coop ruhig. „Haben wir nicht. Dein Schweigen hat uns gesagt, dass es wichtig sein musste, also haben wir nie darüber gelacht, John. Aber wir waren neugierig und mussten deiner plötzlichen Offenbarung oder wie auch immer du es nennen willst, ja einen Namen geben. So entstand Maulkorb’. Es erschien uns passend.“

„Toll.“ John schluckte seinen Ärger hinunter. „Stimmt schon. Tori hatte etwas an sich … Durch sie habe ich begriffen, dass das Leben nicht nur daraus besteht, eine Granate im Bett zu sein.“

„Hey! Wir haben nie geglaubt, dass das alles ist, was du bist“, sagte Coop. „Du warst schließlich ein Marine.“

John lachte verbittert. „Du hast doch meinen alten Herrn kennengelernt. Meinst du nicht, dass mich das ein klein bisschen geprägt hat?“ Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie sein Vater volltrunken auf dem Marine Corps Stützpunkt Camp Lejeune erschienen war und streitlustig die Entscheidung seines Sohnes, sich den Marines anzuschließen, infrage gestellt hatte. „Bevor ich meine Fähigkeiten bei den Damen entdeckte, war ich doch nichts als der bemitleidenswerte Sohn des verrückten Unteroffiziers, der ständig zum einfachen Matrosen degradiert wurde.“

„Navy-Arschloch“, sagte Coop verächtlich.

„Du sagst es“, stimmte Zach zu. „Die Navy ist für Weicheier, die es nicht zu den Marines schaffen.“

Zum Glück erwähnte keiner seiner Freunde die hasserfüllte Tirade, die sein Vater in dieser Nacht losgelassen hatte, oder wie der Mistkerl ihn herumgeschubst hatte, bis er ihm schließlich eine verpasste. Um ehrlich zu sein: Es waren nicht die Marines, denen Rocket sein Selbstwertgefühl verdankte. Es war die Tatsache, dass er etwas in der Hose hatte, für das die meisten Jungs töten würden.

„Und jetzt stellt sich heraus, dass du ein Kind hast“, sagte Zach. „Mal abgesehen von der Tatsache, dass du sauer darüber bist, wie du von ihr erfahren hast – wie fühlst du dich dabei? Du hast immer geschworen, dass du niemals eines haben wirst.“

„Schon, aber jetzt, wo mir die Entscheidung abgenommen wurde … Ich hab keine Ahnung. Ich denke, ich sollte sie kennenlernen. Andererseits hab ich eine Höllenangst, ihr zu nah zu kommen. Zur Hölle, sie hat einen britischen Akzent. Sie klingt wie die verdammte Königin von England!“

„Kann mir vorstellen, dass einen das ganz schön nervös machen kann.“

„Ist deine Victoria Engländerin?“, fragte Coop.

„Sie ist nicht mei…“ Er brach mitten im Satz ab, denn er wusste genau, wie gnadenlos seine Freunde ihn aufziehen würden, wenn er protestierte. „Nein, Tori ist keine Engländerin. Sie ist mit Esme dorthin gezogen, um aus dem Einflussbereich ihres Vaters zu fliehen.“

„Deine Tochter heißt Esme?“

„Ja.“

„Hübsch“, sagte Coop. „Wie sieht sie denn aus?“

„Klein. Süß. Eine richtige kleine Prinzessin. Sie hat die gleichen wilden Haare wie ihre Mutter damals.“ Sie hat meine Augen. Jedes Mal wenn er daran dachte, überwältigte es ihn.

„Scheint ja eine ganz Süße zu sein. Kleine Mädchen sind klasse. Mir war das nie klar, bis meine Nichte Lizzy auf die Welt kam. Besorg dir eine Kamera, Rocket. Ich will Fotos sehen!“

Sie unterhielten sich noch eine Weile über belangloses Zeug. Als er schließlich auflegte, fühlte John sich besser. Er hatte sich wieder unter Kontrolle. Und doch musste er sich eingestehen, immer noch vollkommen verwirrt zu sein.

Zum Glück wartete ein Job auf ihn. Wenn alles aus dem Lot geriet, war es tröstlich zu wissen, dass man etwas zu tun hatte, was man wirklich beherrschte. Und er beherrschte seinen Job außerordentlich gut. Er löste die Handbremse und legte einen Gang ein.

Dann machte er sich auf den Weg zu Jareds Highschool.