21. KAPITEL
M enschen, die gern Gerüchte verbreiteten, waren eine wichtige Informationsquelle für John, und bei Roger Hamlin und Frederick Olson hatte er einen Volltreffer gelandet.
Aber erst musste er ihnen eine gehörige Portion Honig um den Bart schmieren.
Frank betonte die Verlobung noch einmal, als er ihn den beiden älteren Männern erneut vorstellte. Beide waren schon bei der Verlobungsparty gewesen, und Johns Verdacht, dass sie aus reiner Neugier hier waren, bestätigte sich rasch. Hamlin und Olson waren wild entschlossen, als Erste herauszufinden, wie es mit dem Anwesen der Hamiltons weitergehen würde.
Er brauchte keine fünf Minuten, um in Erfahrung zu bringen, dass beide eingefleischte Chauvinisten waren, und so gab er ohne Zögern zu, künftig Victorias Angelegenheiten für sie zu regeln. Ihr begeistertes Nicken verdeutlichte, dass sie dieser Regelung aus ganzem Herzen zustimmten.
Das war das Positive. Leider waren sie aber viel mehr daran interessiert, selbst Informationen zu sammeln, als ihm welche zu geben. Er brauchte vierzehn Löcher, während der er seinen Charme wie erstklassigen Dünger versprühte, bis er endlich auch einmal etwas bekam.
Er war nicht sicher, wo das Problem lag, denn offensichtlich nahmen die zwei begeistert jedes bisschen Klatsch auf. Sie hatten nicht einmal den Mund öffnen müssen, um ihm das klarzumachen. Er hatte es in dem Augenblick gewusst, als er sah, dass nicht ein einziger Caddy anwesend war. Keiner der Männer wirkte, als würde er freiwillig auf einen Service verzichten, den er als sein gottgegebenes Recht ansah, ohne dafür einen verdammt guten Grund zu haben. In diesem Fall konnte es nur daran liegen, dass sie über heikle Themen reden wollten, die nicht in Windeseile wie ein Ausschlag unter sämtlichen Caddys verbreitet würden.
Egal wie begierig sie waren, den neuesten Klatsch zu hören eines blieb immer gleich: Kaum hatte er sie so weit, offen zu reden, waren sie mit einem Loch fertig. Dann stiegen die älteren Männer in ihren Wagen und flitzten zum nächsten Abschlag. Sie ließen John und Frank keine Wahl, als ihnen in ihrem eigenen Wagen zu folgen.
Sie erinnerten ihn an die Kampfhähne, die er vor Jahren auf den Philippinen gesehen hatte. Sie stolzierten umeinander herum und prahlten mit ihrer Wichtigkeit. Die beiden Männer fuhren abwechselnd, und so wie sie beim Aussteigen miteinander stritten, war klar, dass keiner von den Fahrkünsten des anderen überzeugt war. Es dauerte dann immer eine ganze Weile, bis sie ihre Egos wieder unter Kontrolle hatten.
Wäre es nicht so gegen seine Natur gewesen, aufzugeben, hätte er sie einfach stehen lassen und wäre nach Hause gegangen. So wie die Dinge standen, beschlossen Frank und er schließlich, das bizarre Ritual der älteren Männer zu ignorieren und sie einfach machen zu lassen. Erstaunlicherweise schien das zu funktionieren, denn ihre Streitereien waren plötzlich viel schneller beendet.
Am sechzehnten Loch gelang ihm ein ordentlicher Schlag, und er grinste Olson an, der steif zurücklächelte und nichts dazu sagte. Stattdessen murmelte Hamlin, dass sie es nun ja vielleicht doch noch zu ihrem Bridgespiel am Nachmittag schaffen würden.
Frank rollte ob ihrer bierernsten Einstellung mit den Augen. „Guter Schlag, John“, sagte er, während er selbst zum Abschlag trat.
Nach einigem Hin und Her bemerkte John, dass Hamlin seinen Pferdeschwanz betrachtete.
Der alte Mann sah, dass er ertappt worden war. „Was sagt denn Victoria dazu, dass Sie längere Haare haben als sie selbst?“
„Bisher hat sie sich nicht beschwert.“ Er befingerte gedankenverloren den langen Zopf. „Obwohl ich in letzter Zeit darüber nachdenke, ihn abzuschneiden. Ich hab ihn mir ohnehin nur wachsen lassen, weil ich bei den Marines fünfzehn Jahre lang einen Bürstenschnitt tragen musste.“ Er zwinkerte ihm zu. „Dann wurde mir klar, wie sehr es den Ladys gefällt.“
Am achtzehnten Loch lief ihm die Zeit davon. Er hatte versucht, vorsichtig zu den Dingen, die er wissen wollte, vorzudringen, aber für die beiden schien es das Letzte zu sein, worüber sie reden wollten. Also konnte er es genauso gut darauf ankommen lassen.
Er warf ihnen einen mitfühlenden Blick zu und sagte: „Es muss ein furchtbarer Schock für Sie beide gewesen sein – als Gäste auf einer Dinnerparty, bei der der Gastgeber ermordet wird, meine ich.“ Entweder sie fraßen den Köder oder nicht.
Sie taten es. Sie stürzten sich mit solchem Feuereifer darauf, dass er sich fragte, warum er ihn nicht gleich benutzt hatte.
„Sie haben ja keine Ahnung“, sagte Hamlin eindringlich und berichtete von jedem Gedanken, der ihm durch den Kopf geschossen war, und jedem Gefühl, das er verspürt hatte, nachdem Ford ermordet aufgefunden wurde.
„Ja“, unterbrach ihn Olson. „Als das Hausmädchen schrie, dachten wir erst, sie hätte den Cognac, den sie holen sollte, fallen lassen. Schließlich war sie ja nur eine Aushilfe für den Abend …“
„Sie wissen ja, wie unzuverlässig die sein können“, warf Hamlin ein.
„Völlig unzuverlässig und unbrauchbar, sagt meine Frau immer.“
„Meine auch. Gott weiß, wie schwer es ist, gutes Personal zu bekommen“, sagte Hamlin hoheitsvoll. „Aushilfen sind ein einziger Albtraum.“
Die blassblauen Augen des Clubpräsidenten funkelten boshaft. „Trotzdem war das bei Ford eine ziemliche Überraschung, bestand er doch sonst auf die Creme de la Creme bei seinem Personal.“
„Ja, aber selbst der Kaiser bekommt nicht immer alles, was er will“, erwiderte Hamlin.
„Na, jedenfalls schrie und schrie sie“, fuhr Olson fort, „und ihr Tonfall hatte etwas wirklich Furchterregendes.“
„Es hörte sich völlig geschockt an“, nickte Hamlin. „Beim Gedanken daran läuft es mir heute noch kalt den Rücken herunter.“
John sah sie an. „Ich schätze, alle sind hingegangen, um zu sehen, was los war?“
Olson öffnete den Mund, um zu antworten, aber bevor er etwas sagen konnte, sprang Hamlin wortwörtlich in die Bresche und schubste seinen Freund beiseite. „Genau, und da lag er dann. Sie können sich sicher unser Entsetzen vorstellen, als wir ihn auf dem Boden der Bibliothek liegen sahen.“
Olson warf ihm einen irritierten Blick zu und trat einen halben Schritt vor, um den anderen Mann zu verdrängen. „In einer Blutlache“, fügte er hinzu, wild entschlossen, sich nicht übertrumpf zu lassen.
„Mit einem Brieföffner in der Brust!“
Die beiden Männer sahen sich böse an, aber John ignorierte ihren kleinen Machtkampf. „Was glauben Sie, wer ist der Killer?“
Beiden sahen ihn hochmütig an. „Bitte?“, fragte Hamlin unterkühlt. Olson starrte ihn herablassend an, eine bemerkenswerte Leistung, war er doch gut zwanzig Zentimeter kleiner als John.
Er parierte ihre Blicke gelassen. „Wie ich gehört habe, wetten die Jungs im Umkleideraum auf so gut wie alles. Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass ausgerechnet darauf nicht gewettet wird?“
Im Einklang drehten sie sich zu Frank um und bedachten ihn mit einem vernichtenden Blick, aber John sagte: „Sehen Sie nicht Chilworth an. Meine Verlobte und ich reden über so was. Victoria war zwar die letzten Jahre weg, aber schließlich ist sie hier aufgewachsen. Sie weiß, wie der Hase läuft.“
Einen Augenblick lang sah Hamlin nicht überzeugt aus, aber dann nickte er nachdenklich. „Ich denke, es gehört sich wohl, dass sie Ihnen alles erzählt“, gestand er.
„In der Tat“, stimmte Olson zu. „Wie sonst sollten Sie sich um ihre Angelegenheiten kümmern können?“
In der Hoffnung, Tori würde niemals von dieser Unterredung erfahren, trug er noch ein bisschen dicker auf. „Außerdem denke ich, dass Sie beide einigen Einfluss haben. Wenn jemand weiß, was hier vorgeht, dann sicher Sie.“ Victoria brauchte keinen Mann, der sich um sie kümmerte, und er hatte das Gefühl, sie würde es nicht begrüßen, zum hilflosen kleinen Weibchen degradiert zu werden – egal wie nützlich diese Maskerade sein könnte.
Das seltsame Paar setzte sein Ich-weiß-mehr-als-du-Spiel noch eine Weile fort. Jeder von ihnen glaubte genau zu wissen, wer zur fraglichen Zeit nicht im Speisezimmer gewesen war. In diesem Fall war ihr Machtkampf sogar recht nützlich. Während er seinen Putter in der Golftasche verstaute, verstaute er gleichzeitig einige Namen in seinem Gedächtnis. Ein Name riss ihn jedoch aus seinen Gedanken.
„Wentworth war an diesem Abend auch da?“ Er drehte sich zu Hamlin um.
„Jaja“, winkte dieser ungeduldig ab. „Das habe ich doch gerade gesagt.“
„Ja, haben Sie“, sagte er und schenkte dem nörgeligen kleinen Mann ein gewinnendes Lächeln. „Ich schätze, ich bin nur überrascht, weil sein Name gar nicht auf der Gästeliste stand, die die Haushälterin der Polizei gegeben hat.“
„Nun, darüber weiß ich nichts. Er wurde in letzter Minute eingeladen, als bei Gerald Watsons geplantem Kaiserschnitt überraschend die Wehen einsetzten.“ Er sah auf seine Uhr und dann zurück zu John. „Jetzt müssen wir aber wirklich los. Ich würde sagen, diese Runde geht an uns, aber das können wir ja später regeln. Frederick und ich müssen zu einem Bridgespiel, erwähnte ich das schon?“
Mehrfach. Es sollte aber nie heißen, ein Miglionni könne nicht höflich sein. „Aber selbstverständlich“, sagte er mit einem Lächeln. „Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten. Frank und ich rechnen das Ergebnis auf dem Weg aus und stoßen dann später wieder zu Ihnen.“ Er schüttelte den beiden Männern die Hand. „Vielen Dank für das Spiel und das hochinteressante Gespräch. Sie haben mich sehr nett aufgenommen.“
„Ja, es war reizend“, sagte Frederick Olson, plötzlich wieder ganz der Präsident. „Bitte grüßen Sie Victoria.“
Hamlin nickte zustimmend. „Ja, grüßen Sie das kleine Frauchen auch von mir. Sagen Sie ihr, wir müssen uns bald einmal alle treffen.“ Er sah Frank an. „Sie und Pamela natürlich auch.“
Nachdem die Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren, gingen die beiden Männer ihres Weges.
John und Frank sahen ihnen nach, drehten sich dann gleichzeitig zueinander um und schüttelten die Köpfe.
„Na, das ist doch mal eine Einladung, die unsere ,kleinen Frauchen’ besonders erfreuen wird“, murmelte Frank, während sie ihre Taschen nahmen und zurück zum Clubhaus gingen.
„Entweder das, oder sie werden jemandem gewaltig in den Hintern treten, sobald sie Wind davon bekommen.“
Frank lachte, und John beobachtete ihn, während sie liefen. Die tief liegenden Augen des Mannes strahlten eine wache Intelligenz aus, und John mochte seinen trockenen Humor. „Weißt du, bevor ich die beiden Clowns in Aktion gesehen habe, war mir gar nicht klar, worauf du dich hier eingelassen hast, und noch dazu an einem Samstagmorgen.“ Er hielt dem stämmigen Rotschopf die Tür auf. „Ich lade dich zum Lunch ein. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“
„Das kannst du laut sagen“, erwiderte Frank. „Ich habe mir das größtmögliche Steak verdient!“
John gab seine Schläger ab, während Frank seine Tasche im Schrank verstaute. Anschließend gingen sie zum Clubhaus. Sie duschten rasch und zogen sich um.
Kurz darauf führte Frank sie die weich gepolsterte Treppe hinauf in die Lobby. Sonnenlicht fiel durch die Fenster und beschien die Wände, an denen einige erlesene Kunstwerke hingen.
„Was hältst du davon, in der Bar zu essen?“, fragte Frank. „Da ist es weniger förmlich als im Salon.“
„Hört sich gut an.“
Kurz darauf saßen sie an ihrem Tisch, und Frank reichte John die Speisekarte. Er sah ihn über seine eigene hinweg an. „Warum hast du dem dynamischen Duo gesagt, Victoria hätte die Wettgemeinschaft verpetzt, wenn wir beide doch ganz genau wissen, dass ich es war?“
John zuckte mit den Schultern. „Du musst schließlich mit ihnen leben, und ich dachte mir, sie würden es besser aufnehmen, wenn es vom ,kleinen Frauchen’ kommt.“ Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Sollte Tori allerdings jemals davon erfahren, dass ich sie den Löwen zum Fraß vorgeworfen habe, bin ich erledigt.“
Frank musterte ihn eingehend. „Zwischen euch beiden läuft doch mehr als die Alibiverlobung, oder?“
John sah den anderen Mann über den Tisch hinweg an, und Frank lächelte schief. „Verstehe. Also, was hältst du von Fords Freunden?“
„Sie wollen mir weismachen, wie lieb sie sich alle haben, wo sie sich in Wirklichkeit kaum ausstehen können.“
„Um die Wahrheit zu sagen, John, ich glaube, es gab niemanden, der Ford wirklich mochte. Er war weiß Gott kein netter Kerl.“
„Ja, das habe ich schon öfter gehört.“
„Fast jeder, der beim letzten Abendmahl war, hatte einen Grund, ihn kaltzumachen.“
„Was wir im Grunde bereits wussten. Heute konnte ich aber einige von ihnen von meiner Liste streichen.“ Er betrachtete Frank. „Ich schulde dir was! Mir ist durchaus klar, dass es kein Zufall war, dass wir heute ausgerechnet mit den beiden Männern gegolft haben, die genau sagen konnten, wer wann abwesend war.“
„Man muss die alten Burschen einfach mögen. Sie müssen immer ganz genau über alles informiert sein.“
Die Kellnerin kam herüber und nahm ihre Bestellungen auf. John strahlte sie an und bestellte ein Corona mit einer Zitronenscheibe sowie ein Clubsandwich.
Sie erwiderte sein Lächeln. „Soll ich das auf die Hamilton-Rechnung schreiben, Mr. Miglionni?“
Er überspielte sein Erstaunen darüber, dass Leute, die er nicht kannte, seinen Namen wussten. „Nein, danke, Schätzchen. Ich bezahle selbst. Schreiben Sie bitte Franks Sachen auch auf meine Rechnung.“ Er lehnte sich vor und betrachtete sie. Sie war eine untersetzte attraktive Brünette, die ungefähr sein Alter hatte. „Arbeiten Sie schon lange hier, Abigail?“, fragte er nach einem Blick auf ihr Namensschild.
„Fünf Jahre.“
„Wirklich? Das ist eine ziemlich lange Zeit. Ich schätze, es gefällt Ihnen hier, was?“
Sie wurde vorsichtig. „Ja, danke, es gefällt mir gut.“
In Gedanken trat er sich selbst für seine dämliche Bemerkung. Nach außen hin schenkte er ihr sein charmantestes Lächeln und sagte: „Das war eine blöde Frage. Lassen Sie mich rasch aus dem Fettnäpfchen klettern. Haben Sie Kinder?“ Wenn alles versagte, konnte man sie immer mit Offenheit entwaffnen.
Wieder einmal funktionierte es, denn sie entspannte sich sichtlich. „Ja, zwei. Fünf und drei Jahre alt.“
„Jungs oder Mädchen?“
„Von jedem eins.“
Er sah zur Bar hinüber, die sich zu füllen begann. „Sie werden sicher eine Weile gut zu tun haben, aber falls Sie Bilder von Ihren Kindern haben, würde ich die gern einmal sehen.“
„Aber gern.“ Sie lächelte ihn voller mütterlichem Stolz an, nahm Franks Bestellung auf und ging.
„Verdammt“, murmelte Frank, „du bist echt gut!“
John verzog das Gesicht. „Ein wichtiger Teil dieses Jobs ist es, mit Leuten reden zu können, dafür zu sorgen, dass sie sich bei dir wohlfühlen und anfangen, sich zu öffnen. Bei Abigail musste ich mich wenigstens nicht wie ein Gebrauchtwagenhändler aufführen so wie bei Frederick und Roger, bevor sie sich endlich ein bisschen entspannten.“
Er winkte ab und kehrte zu der Unterhaltung zurück, die durch die Kellnerin unterbrochen worden war. „Ich weiß, dass einige Angestellte der Firma, die Ford übernommen hatte, bei der Party waren. Aber was hat es mit den gehörnten Ehemännern auf sich, von denen Hamlin und Olson erzählt haben?“
Frank schnaubte. „Da fragst du den Richtigen. Das Gerücht hat ein Eigenleben entwickelt. George Sanders und seine Frau Terri waren eingeladen, und Terri war Fords letzte Assistentin. Laut Aussage der Umkleideraumexperten – von denen Hamlin das Gerücht hat – ist Ford mit Terri fremdgegangen.
Als sie plötzlich mit einem schicken Haarschnitt, attraktiverer Kleidung und anständigem Make-up hier aufkreuzte, wunderten sich die Leute, und damit meine ich gelangweilte Golfer und die Ladys, die hier zu Mittag essen. Sie begannen zu reden.“
„Du glaubst nicht, dass Ford etwas mit ihr hatte?“
„Nein. Es besteht kein Zweifel, dass der Mann ein wahrhaft überdimensionales Ego hatte, und er hätte auch niemals irgendwelche Beliebtheitspreise gewonnen. Aber das hier ist eine kleine, eng miteinander verbundene Gemeinschaft, und ich lebe hier seit dem Tag meiner Geburt. Nach allem, was ich in dieser Zeit beobachtet habe, kann ich sagen, dass Ford in seinen Ehen immer monogam war. Sie dauerten nie lange, aber wenn er mit einer Frau zusammen war, dann blieb er ihr während der Beziehung auch treu.“
„Wenn er auch nur ansatzweise Ähnlichkeit mit seinen Golfkumpels hatte, war da sicher auch ein gewisser Snobfaktor im Spiel.“
Frank nickte. „Daran hab ich bisher zwar noch nicht gedacht, aber es ist definitiv eine Überlegung wert. Seine Assistentin wäre garantiert unter seiner Würde gewesen. Dee Dee befindet sich allerdings mit Sicherheit weiter am unteren Ende der sozialen Skala, als er sich jemals zuvor herabgelassen hatte. Und selbst sie hat noch eine vage Verbindung mit den Grants. Für die Älteren hier ist so was unheimlich wichtig.“ Er zog die erdbeerblonden Augenbrauen hoch. „Wo wir gerade von Dee Dee sprechen – schon interessant, dass sie zur fraglichen Zeit auch nicht im Esszimmer war. Verdächtigen die Cops nicht immer zuerst die Familienmitglieder?“
„Tun sie. Es ist offensichtlich nicht allgemein bekannt, aber Dee Dee musste einen Ehevertrag unterschreiben und bekam nicht genug, um das Risiko einzugehen.“
„Erzähl mir mehr.“ Schweigend betrachtete Frank Rocket einen Moment lang. Schließlich sagte er: „Als du gehört hast, dass Miles Wentworth bei der Dinnerparty war, bis du ganz schön hochgegangen.“
„Oh ja, das kannst du glauben“, stimmte John grimmig zu.
„Weil er zum Zeitpunkt des Mordes auch nicht im Esszimmer gewesen war oder weil er bei eurer Verlobungsparty eine Szene gemacht hat?“
„Beides. Ich kann nicht sagen, ich wäre traurig, wenn er sich als unser Mann herausstellen würde. Aber es ist nicht mein Stil, jemandem irgendetwas unterzuschieben, um ihn festzunageln.“ Er grinste Frank mit gebleckten Zähnen an. „Er ließ bei der Party aber verlauten, Ford hätte ihm irgendetwas versprochen. Kann sein, dass Fords Tod schlichtweg seine Hoffnungen zerschlagen hat, das Versprechen eingelöst zu sehen. Vielleicht, ich sage nur vielleicht, hat der gute Ford Wentworth aber auch gesagt, er habe es sich anders überlegt, und dafür einen Brieföffner ins Herz bekommen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ohne der Sache nachzugehen können wir das nicht wissen, aber ich werde sicher ein Auge auf ihn haben.“
„Bitte sehr, Gentlemen.“ Die Kellnerin stellte ein Tablett vor ihnen ab und reichte ihnen ihre Getränke. „Ihre Sandwiches kommen sofort.“
„Vielen Dank, Abigail.“ John nippte an seinem Bier und sah sie fragend an. „Haben Sie an die Fotos gedacht?“
Sie fasste in die Tasche ihrer schwarze Hose und zog einige Fotos heraus.
Er betrachtete sie. Noch vor einem Monat wäre es nur Show gewesen, da Kinder ihn bis dato kein bisschen interessiert hatten. Aber das war vorher. Jetzt, wo er selbst eines hatte, das er gerade kennenlernte, sah er sich die Fotos mit ehrlichem Interesse an. Er tippte mit der Fingerspitze auf das Foto des Jungen. „Das ist Ihr Fünfjähriger?“
„Ja. Er heißt Sean.“
„Er sieht frech aus. Ich wette, er ist ein echter Lausebengel.
„Oh ja“, sagte sie mit Nachdruck. „Diesen Sommer hat er in der Kinderliga angefangen, Baseball zu spielen. Das hilft ein bisschen.“
„Klar“, stimmte er zu. „Er soll sich bloß austoben.“ John sah das zweite Foto noch einmal an. „Sie sieht wie ein kleiner Engel aus.“ Er grinste die Kellnerin an. „Aber ich schätze, das kann täuschen.“
Abigail grinste auch. „Sie kann manchmal richtig stur sein.“
„Mag sie Puppen?“
Sie lachte laut. „Geht morgens die Sonne auf?“
Er lächelte schuldbewusst. „Es scheint, ich stelle heute lauter dumme Fragen.“
„Abby“, rief eine ungeduldige Stimme von einem Tisch ganz in der Nähe. „Wir würden gern bestellen!“
„Selbstverständlich“, rief sie und nahm ihre Fotos. Lächelnd drehte sie sich um und ging zu einem Tisch, an dem eine Gruppe mittelalter Damen in Golfkleidung saß.
Die Männer wandten sich wieder ihren Getränken zu, und kurz darauf brachte Abigail ihre Sandwiches. John hatte gerade herzhaft abgebissen, als er eine ganze Gruppe kleiner Mädchen in Partykleidern und flachen Ballerinas und Jungs in dunklen Hosen, blütenweißen Hemden und konservativ gestreiften Krawatten hereinkommen sah. Er ließ sein Sandwich sinken und wies mit dem Kinn in ihre Richtung. „Was wird das denn?“
Frank drehte sich um, um nachzusehen. Ein kurzer Blick reichte, bevor er sich wieder John zuwandte. „Das ist eine Kotillon-Klasse.“
„Das habe ich draußen in der Lobby schon am Schwarzen Brett gelesen. Was zur Hölle soll das sein?“
„Sie lernen Standardtänze, feines Benehmen und so was.“
„Soll das ein Witz sein? Die können doch nicht viel älter sein als unsere Ki… äh … als deine Tochter und Esme.“
Frank zuckte mit den Schultern. „Das gehört eben dazu, wenn man sich später in diesen gesellschaftlichen Kreisen bewegt.“
„Wünschen die Herren noch etwas zu trinken?“ Abigail blieb an ihrem Tisch stehen.
John sah fragend zu Frank. Der schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“
„In diesem Fall …“ Sie legte eine kleine Ledermappe auf den Tisch. „Ich komme kassieren, wenn Sie so weit sind.“
„Danke.“ John zog sein Portemonnaie aus der Hüfttasche seiner Hose. „Ich bin so weit.“ Er nahm die Rechnung heraus, las sie und ersetzte sie dann durch einige Scheine. „Behalten Sie den Rest.“
„Vielen Dank“, sagte sie und starrte ungläubig auf die Scheine. „Ihre Verlobte ist sicher ganz begeistert, dass Sie so gar nicht wie ihr Vater sind.“ Ihre Augen wurden groß, und sie hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott. Es tut mir so leid. Das war schrecklich von mir.“
„Keine Sorge. Ich habe Ford Hamilton nie kennengelernt, aber ich habe genug über ihn gehört. Ich weiß, dass er nicht gerade ein netter Kerl war.“
Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.
John lächelte freundlich. „Bitte“, sagte er. „Wollen Sie uns nicht sagen, welchen Eindruck Sie von ihm hatten? Ich wüsste gern, warum man ihn ermordet haben könnte, aber ich frage nicht gern bei Tori nach. Es macht sie so traurig.“
Sie sah zögerlich zu Frank hinüber, der prompt seinen Stuhl zurückschob. „Entschuldigt mich bitte eine Minute“, sagte er. „Ich muss meine Frau anrufen und fragen, ob ich auf dem Heimweg noch etwas besorgen soll.“ Er holte sein Handy heraus und ging zum Eingang.
Abigail sah John unsicher an. „Es gibt wirklich nicht viel, was ich Ihnen erzählen könnte“, sagte sie. „Außer dass Mr. Hamilton immer erstklassigen Service erwartet hat, aber nie ein anständiges Trinkgeld gab. Und das Personal war für ihn sowieso unsichtbar, verstehen Sie?“
„Das war nicht gerade schlau von ihm, was? Denn Sie und ich, wir wissen doch ganz genau, dass es immer die Leute hinter den Kulissen sind, die gewöhnlich Augen und Ohren offen halten. Ich schätze, das Personal hat sogar eine Wette laufen, wer ihn ermordet hat.“
Sie wurde rot, sah sich rasch um und gab schließlich zu: „Seine Frau liegt ganz weit vorn.“
„Wegen des Tennislehrers?“
Sie starrte ihn an. „Sie wissen davon?“
„Sagen wir, ich habe Gerüchte gehört. Ist sie deshalb die Spitzenkandidatin?“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie hat erst nach Mr. Hamiltons Tod eine richtige Affäre mit dem Tennislehrer angefangen. Sie liegt vor allem wegen der vielen Polizeiserien vorn, die wir alle immer sehen. Da sind sich doch immer alle einig, dass die meisten Morde von Familienmitgliedern oder Freunden begangen werden. Aber es gibt auch einige Typen, die sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den zweiten Platz liefern.“
„Ach ja? Wer denn?“
Sie beugte sich vor. „Na ja, ich habe mitbekommen, wie Mr. Hamilton mit einem Mann gestritten hat. Ich kannte ihn nicht, aber er sah wichtig aus und schien über irgendetwas sehr wütend zu sein, was Mr. Hamilton mit seiner Firma vorhatte. Kathy Dugan hat außerdem gehört, wie Mr. Hamilton Miles Wentworth angeschrien hat. Sie sagte, wenn Blicke töten könnten, wäre Hamilton auf der Stelle tot zusammengebrochen.“ Sie richtete sich auf. „Ich muss zurück an die Arbeit.“
„Schon klar. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“
„Gern geschehen, obwohl ich nicht weiß, wie Ihnen das weiterhelfen soll.“
„Das tut es aber. Sie wissen schon, Wissen ist Macht. Es ist besser, als völlig im Dunkeln zu tappen.“
Er sah ihr nach, während sie wegging, aber in Gedanken war er ganz woanders. Er dachte an Esme und die Kotillon-Kinder. Würde sie dort in ein paar Jahren auch hingehen? Er wusste so wenig darüber, was im Leben seiner Tochter vorging. Das war keine große Überraschung, schließlich wusste er ja erst verdammt kurze Zeit von ihrer Existenz. Trotzdem musste sich das ändern.
Es war an der Zeit, sich einmal ernsthaft mit Victoria zu unterhalten.