12. KAPITEL

A m nächsten Samstagabend zogen schwere dunkle Regenwolken über den Himmel, während Jared und P. J. sich auf die Suche nach einem Platz für die Nacht machten. Als sie die eingezäunte Baustelle erreichten, die sie während des Tages bereits ausgekundschaftet hatten, war der Himmel fast schwarz.

„Hoffentlich bekommen wir kein Gewitter“, murmelte P. J., als sie über den Drahtzaun kletterten. „Ich hasse Blitze.“

„Echt?“ Jared sah sie kurz an, während sie auf der anderen Seite hinabkletterten. „Ich finde sie eigentlich ziemlich aufregend.“

„Na gut, vielleicht sind es gar nicht so sehr die Blitze, sondern …“

Wie auf Bestellung zuckte plötzlich ein blauweißer Blitz über den Himmel, der sich in mehrere Richtungen gabelte. P. J. schrie auf.

„Pssst!“, zischte Jared, entnervt von ihrem mädchenhaften Getue. „Mann, sei doch leise! Wenn der Laden hier einen Wachschutz hat, wollen wir ihn ja wohl nicht gleich auf uns aufmerksam machen.“

„Tut mir außerordentlich leid, Mr. Neunmalklug!“, zischte sie zurück. „Und ich nehme es zurück – ich hasse Blitze doch!“ Sie hielt sich am Zaun fest und sah ihm durch die Maschen hindurch zu, wie er auf den Boden sprang. „Aber nicht halb so sehr, wie ich …“

Es donnerte gewaltig, und sie ließ vor Schreck den Zaun los. Jared sprang hinzu, um sie aufzufangen, kam aber eine Sekunde zu spät. Alles, was er noch tun konnte, war, ihr die Hand zu reichen, um ihr aufzuhelfen. „Alles okay?“

„Traumhaft, danke“, fauchte sie und riss ihre Hand los. Mühsam kam sie wieder zu Atem. Als er jedoch die Hand ausstreckte, hatte sie schon wieder genug Luft, um ihn anzufahren. „Nimm bloß die Finger weg!“, schrie sie und schlug in seine Richtung. „Verschwinde!“

„Was ist denn jetzt los? Ach, mach doch, was du willst!“ Er drehte sich um und marschierte in das Innere des zu drei Vierteln fertig gestellten Gebäudes. Laut dem Schild, das sie vorhin gesehen hatten, sollte daraus eine Wohnanlage mit mehreren Geschäften im Erdgeschoss werden. Es war ihm völlig egal. Wichtig war nur, dass es ihm einen Unterschlupf für die Nacht bot, der noch von niemand anderem beansprucht wurde.

Einen trockenen Unterschlupf, fügte er einen Augenblick später hinzu, als sich am Himmel alle Schleusen öffneten. Es regnete so stark, dass sich die Erde rund um den Gebäudekomplex in Windeseile in ein einziges Schlammloch verwandelte. Er sah durch ein Loch in der Wand, in das später einmal ein Fenster eingesetzt werden würde, nach draußen. Es war nicht einmal wirklich kalt, aber die Feuchtigkeit kroch langsam in die Betonwände und den Boden – und in seine Knochen. Wie würde es im Herbst werden? Oder noch schlimmer, in einem echten Winter hier in Colorado?

Einen Moment später kam P. J. hereingetrottet, ein winziger, kaum auszumachender Schatten, der aber wie ein Matrose fluchte. Ein weiterer Blitz beleuchtete die Umgebung, die Jared für sie ausgesucht hatte. Sie schlang die Arme um den Körper und sah sich um. Dann hob sie den Kopf und stolzierte demonstrativ auf die andere Seite des Raums.

Jared hatte Hunger, ihm war kalt, und er hatte nur noch einen Dollar in der Tasche. Außerdem wäre er vor lauter Heimweh am liebsten gestorben. Deshalb hatte er absolut keine Lust, den Wutausbruch einer Dreizehnjährigen über sich ergehen zu lassen. „Was zur Hölle ist dein Problem, hm?“

„Ich hab kein Problem, Kumpel.“

„Ach ja, und warum benimmst du dich dann, als hätte dir jemand deinen Lieblingsteddy geklaut?“

„Mach ich überhaupt nicht!“, schrie sie. Vor Entrüstung klang ihre Stimme noch rauer als sonst. „Ich hab’s dir doch schon gesagt – ich hasse dieses Wetter! Es ist total scheiße!“

„Ja, es ist ätzend“, stimmte er zu, hob seinen Rucksack auf und ging zu ihr hinüber. „Aber wenigstens sitzen wir im Trockenen. Wie oft konnten wir das in letzter Zeit behaupten?“

Es donnerte wieder, obwohl Jared vorher gar keinen Blitz gesehen hatte. Er spürte, wie P. J. zusammenzuckte, und legte den Arm um sie.

Sofort versteifte sie sich. „Ich brauche keinen Babysitter!“

„Na prima, ich hab nämlich auch keinen Bock, einen zu spielen. Meine Güte, kannst du vielleicht mal fünf Minuten aufhören, Prinzessin auf der Erbse zu spielen? Die Temperatur ist bestimmt um zehn Grad gesunken, seit wir hier angekommen sind. Bist du mal auf die Idee gekommen, dass ich ein bisschen Körperwärme gebrauchen könnte?“

„Oh“, sagte sie und hörte auf, sich gegen seine Umarmung zu wehren. „Wenn das so ist.“

Beinahe hätte er gelächelt. Meine Güte, was war sie freiheitsliebend und unabhängig! Und so stur wie ein Esel. Das gefiel ihm an ihr mit am meisten – und trieb ihn gleichzeitig in den Wahnsinn.

Eine Weile saßen sie schweigend im Dunkeln, während der Regen auf das Dach drei Stockwerke über ihnen prasselte. Es überraschte Jared nicht, wie sehr ihn P J.s Wärme und Nähe beruhigte. Die ersten begehrlichen Gedanken, die bei ihm aufkamen, beunruhigten ihn dagegen umso mehr. Abrupt ließ er sie los und rutschte ein paar Zentimeter weg.

Er versuchte, sich nicht schuldig zu fühlen. Wahrscheinlich hatte das nur damit zu tun, dass sie so eng zusammengekuschelt im Dunkeln gesessen hatten. Bestimmt hätte er bei jedem Mädchen so reagiert. Trotzdem störte es ihn, dass er ausgerechnet wegen P. J. einen Steifen bekommen hatte. Sie war viel zu jung! Und selbst wenn … selbst wenn sie nicht zu jung gewesen wäre und er nichts darüber gewusst hätte, wie sie über Sex dachte, war sie immer noch eine dürre, tittenlose, freche Göre. Sie war eher wie eine Schwester für ihn und kein Mädchen, das er als potenzielle Freundin ansehen konnte.

Trotzdem war sie mit Sicherheit der beste Freund, den er je in seinem Leben gehabt hatte. Beim nächsten Blitz sah er, wie dicke Tränen über ihre Wangen rollten, und er fühlte sich, als hätte man ihm in den Bauch getreten.

„Heee“, sagte er sanft und rückte so nah an sie heran, wie es möglich war, ohne sie tatsächlich zu berühren. „Warum weinst du denn?“

Der Raum war wieder stockdunkel, aber Jared hörte, wie es raschelte. Er brauchte kein Licht, um zu wissen, dass sie wieder ihre streitlustige Lass-mich-in-Ruhe-Pose einnahm. Sie kam immer dann zum Einsatz, wenn jemand es wagte, ihr zu unterstellen, sie sei ein ganz normaler Mensch.

„Wie kommst du auf die bescheuerte Idee? Ich heule doch nicht!“

Ach, zur Hölle damit! Er rutschte ganz an sie heran, legte den Arm um sie und wischte mit der freien Hand die Tränen weg, die ihr über das Gesicht liefen. „Komm schon P. J., wein doch nicht.“ Es animierte ihn einfach zu sehr dazu, selbst loszuheulen.

„Na und? Vielleicht hab ich ein bisschen geflennt.“ Sie schlug seine Hand weg. „Kann dir doch egal sein. Du wirst mich doch genauso im Stich lassen wie alle anderen!“

„Wie bitte?“ Er versuchte, sie in der Dunkelheit anzusehen. „Wie kommst du denn darauf?“

„Das weißt du ganz genau.“

„Erzähl du mir nicht, was ich weiß und was ich nicht weiß. Wenn ich wüsste, worum es geht, würde ich verdammt noch mal nicht fragen, oder?“

„Du denkst, ich bin bescheuert, weil ich Angst vor dem D-donner habe.“ Ihre Stimme versagte beinahe. Um ihre Schwäche zu übertünchen, stieß sie ihn hart in die Seite.

„Aua! Hör auf damit!“ Er hielt ihren Finger fest. „Vor Donner Angst zu haben ist bescheuert. Es ist doch nur ein Geräusch!“ Als er spürte, wie ihre Schultern von tonlosem Schluchzen geschüttelt wurden, ließ er ihren Finger los und nahm sie fester in den Arm. So lächerlich er ihre Angst auch fand, er wünschte sich trotzdem, das Wetter kontrollieren zu können. Es gab weiß Gott genug Dinge, vor denen sie sich fürchten mussten, da brauchten sie nicht auch noch das Wetter.

„Du bist echt ein toller Freund. Lässt mich einfach liegen und gehst weg, wenn ich vom Zaun falle.“

„Geht’s noch? Du hast dir ja nicht helfen lassen!“ Weil es ihr peinlich gewesen war! Mit dieser Erkenntnis löste sich seine Entrüstung in Luft auf.

Als könnte sie seine Gedanken lesen – leider falsch – versteifte sie sich, atmete tief durch und rieb sich die Augen. „Quatsch. Ich hab mich doch hochziehen lassen, oder? Und du durftest deinen blöden Arm um mich legen, weil dir kalt war. Aber du konntest mich ja gar nicht schnell genug wieder loslassen. Aber weißt du was? Das ist mir scheißegal. Ich weiß genau, dass du die Nase voll hast von mir und abhauen willst. Wir wissen doch beide, dass es so ist.“

„Das wissen wir beide, ja? Ich hab echt nicht die geringste Ahnung, was du da erzählst. Gott, du quatschst vielleicht einen Blödsinn zusammen!“

„Ich quatsche gar nicht, du bescheuerter, gelackter Mistk…“

„Dann hör doch endlich auf, dich wie ein Idiot zu benehmen! Ich bin weggerutscht, weil ich heiß … äh … weil es mir zu heiß wurde, einen Moment lang.“ Falls sie noch nicht selbst darauf gekommen war, hatte er beim besten Willen nicht die Absicht, es ihr genauer zu erklären. Stattdessen sagte er nur grob. „Jetzt hör auf zu heulen, okay? Ich habe nicht vor, irgendwohin zu gehen, jedenfalls nicht ohne dich. P. J., du bist doch die Einzige, die mich davor bewahrt hat, völlig durchzudrehen. Was würde ich denn ohne dich machen?“

Sie drehte ihren Kopf an seiner Brust, und Jared konnte ihren Blick in der Dunkelheit spüren. „Wirklich?“, fragte sie mit einem unsicheren dünnen Stimmchen.

„Ja, wirklich.“ Er drückte sie an sich und fühlte sich unglaublich erleichtert. Dann spürte er, wie sie ihr Gesicht an seiner Brust rieb. „Du wischst dir doch wohl nicht den Rotz an meinem Hemd ab, oder?“

Sie kicherte unsicher. „Tut mir leid. Ich hab gerade kein Taschentuch zur Hand.“

„Ich hab doch noch die Rolle Klopapier im Rucksack, die ich bei Wolfgang Puck habe mitgehen lassen.“ Er zog den Rucksack heran und wühlte darin herum, bis er das gewünschte Objekt fand. „Hier.“

Sie setzte sich auf, wickelte mehrere Blatt ab und putzte sich geräuschvoll die Nase, während Jared den Rest der Rolle wieder verstaute. Als er sich wieder gegen die Wand lehnte, kuschelte P J. sich wieder an ihn. Er legte den Arm um sie und versuchte, seinen knurrenden Magen zu ignorieren. „Also, was machen wir morgen?“

„Was ist morgen? Sonntag?“

Jep.“

„Hm, da können wir uns bei Stand Up For Kids im Skyline Park was zu essen holen.“

Beim Gedanken an Essen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. „Das ist aber erst nachmittags, richtig?“

„Hmm.“ Sie gähnte. „Vielleicht bekommen wir von denen auch eine neue Tube Zahnpasta.“

„Das wäre nicht schlecht. Außer …“ Er zögerte. „Wie sieht’s bei dir mit Geld aus?“

„Ich bin so gut wie pleite.“

„Mist. Ich auch.“ Er seufzte. „Na ja, was soll’s. Wenigstens sitzen wir im Trockenen. Und wir haben den Rest der Nacht Zeit, um uns zu überlegen, wie wir an ein bisschen Kohle kommen, damit wir uns morgen früh was zu essen besorgen können.“