16. KAPITEL
K urz vor sieben Uhr morgens kam John zurück ins Zimmer. Leise ging er hinüber zum Bett und sah Tori an, die tief und fest schlief. Sie hatten sich bis in die frühen Morgenstunden geliebt.
Es war ihm ein Bedürfnis gewesen, dass sie noch einmal auf ihre Kosten kam. Nicht, weil er einen Ruf als Superliebhaber zu verteidigen hatte. Es war ihm einfach wichtig gewesen.
Aber wie sie nun einmal war, wollte Victoria die kleine Gefälligkeit unbedingt erwidern. Das kam ihm wie eine verdammt gute Idee vor; er war so heiß auf sie, und es war schließlich nur ein bisschen Oralsex. Außerdem hatte er genug Erfahrun –gein Blowjob war nicht gerade etwas Neues für ihn. Wie unterschiedlich konnte die Technik verschiedener Frauen schon sein? Er glaubte auf alles vorbereitet zu sein.
Aber das war er nicht. Tori war vielleicht nicht die erfahrenste aller Frauen, mit denen er jemals das Bett geteilt hatte, aber sie war definitiv die gefährlichste. Ihre Begeisterung hatte ihn fast umgebracht.
Das war eines der Dinge, die ihn so sehr an ihr faszinierten. Sie war bereit, so ziemlich alles auszuprobieren. Das war schon damals so gewesen, und ganz offensichtlich hatte sich daran nichts geändert. Sie war so leidenschaftlich bei allem, was sie tat, dass er nie genug von ihr bekam.
Er hätte es kommen sehen müssen. Diese ständige Lust auf sie war genau der Grund, warum er es um jeden Preis vermeiden wollte, wieder etwas mit ihr anzufangen. Er hatte genau gewusst, dass es nur dazu führen würde, mehr und noch mehr von ihr zu wollen.
Er versuchte, das leichte Unbehagen abzuschütteln. Zur Hölle, er hatte keine Ahnung, ob und wie es langfristig mit ihnen weitergehen würde. Aber – geschickt warf er die Schachtel in die Luft und fing sie wieder auf – glücklicherweise waren sie kurzfristig in einem erstklassigen Hotel abgestiegen. Und in einem solchen konnte man so ziemlich alles bekommen.
Der Concierge hatte kurzerhand die Geschenkboutique für ihn geöffnet, und jetzt hatten sie genug Kondome, wenn sie Lust auf mehr hatten.
Allerdings kannte er Tori inzwischen gut genug, um zu wissen, dass es, wenn sie aufwachte, vermutlich nicht ganz oben auf ihrer Liste stehen würde, ihm das Hirn herauszuvögeln. Er wusste, wie besorgt sie wegen ihres Bruders war. Er hätte einen Haufen Geld darauf gewettet, dass sie mit einem gewaltigen Schuldkomplex aufwachen würde –weil sie für eine Weile nicht an Jared gedacht hatte. Trotzdem konnte er ja hoffen und wenigstens vorbereitet sein, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass er sich in ihr getäuscht hatte.
Er ließ die Schachtel auf den Nachttisch fallen, zog sich aus und schlüpfte wieder zu ihr unter die Laken.
Victoria war noch keine fünf Sekunden wach, als eine riesige Flut von Schuldgefühlen über sie hereinbrach. Die warme Zufriedenheit in ihr gerann in ihrer Brust wie saure Milch. Zurück blieben ein rasender Herzschlag und eine Verspannung am ganzen Körper. Wie um Himmels willen hatte sie – nach allem, was sie letzte Nacht auf den Straßen gesehen hatte – an nichts Besseres denken können, als Rocket bei der erstbesten Gelegenheit die Kleider vom Leib zu reißen? Gütiger Gott! Was war sie nur für eine Schwester?
„Tu dir das nicht an“, hörte sie John hinter sich sagen.
Sie zuckte zusammen. Erst dann wurde sie sich des warmen Körpers bewusst, der sich von hinten an sie presste. Seine Erektion drückte fordernd gegen ihr Hinterteil.
Sie sollte aufstehen. Sie musste aufstehen! Beschämt stellte sie fest, dass sie sich trotzdem keinen Millimeter bewegte. Ihre Stimme klang schwach und zittrig, als sie fragte: „Was tun?“
„Mach dich nicht fertig, weil du gestern Nacht ein bisschen Dampf abgelassen hast. Damit hast du deinem Bruder in keiner Weise geschadet.“
Konnte er neuerdings Gedanken lesen? Sie entspannte sich ein wenig, schüttelte energisch den Kopf und sah über ihre Schulter hinweg zu John. „Warum fühlt es sich dann so an?
„Weil du dir so viele Sorgen machst? Ich weiß es nicht, Liebling, und es ist mir auch egal. Wir waren gestern Abend sowieso fertig – du hast dich nur um ein bisschen Schlaf gebracht.“
Sie drehte sich zu ihm um. „Wir suchen heute aber weiter, richtig?“
„Na klar. Wir schauen uns die Fußgängerzone in der 16. Straße noch einmal an, und dann gegen wir zum Auraria College. Die Straßenkinder mischen sich dort gern unter die Studenten. Und heute Nacht geht’s auf den Straßen weiter.“
„Prima. Dann los.“ Sie begann, die Decke wegzustrampeln.
Seine langen Finger, die auf ihrer Hüfte lagen, drückten leicht zu. „Sobald wir gefrühstückt haben.“
Sie schüttelte den Kopf und rutschte von seinem warmen Körper weg. „Ich habe keinen Hunger.“
„Nein?“ Er stützte den Kopf auf die Hand, machte aber keine Anstalten, das Bett zu verlassen. „Du wirst aber trotzdem etwas essen.“
„John …“
„Sieh es als Treibstoff an. Du weißt doch noch, wie hartdie letzte Nacht war, oder?“ Sie erschauderte unfreiwillig, und er sah es als Zustimmung an. „Du musst den ganzen Tag, die Nacht und den morgigen Vormittag überstehen, bevor Stand Up For Kids wieder ihren Stand aufbauen, und es wird garantiert nicht einfacher als gestern. Du musst etwas essen. Sonst ziehe ich allein los.“
„Nein!“ Ihre Antwort fiel viel lauter als geplant aus, aber der bloße Gedanken daran, allein im Zimmer herumzutigern, während er nach Jared suchte, machte sie wahnsinnig. „Ist ja gut. Ich esse was.“
„Braves Mädchen.“ Er schlug das Laken zurück und stand auf. Er war sich seiner Nacktheit gar nicht bewusst.
Sein Penis war noch immer halb steif, und Victoria konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. In diesem Zustand hatte er etwas unglaublich Animalisches, Anziehendes.
„Sollen wir den Zimmerservice rufen, oder gehen wir nach unten?“
Sie blinzelte und sah, wie er ganz steif wurde. „Was?“ Erregung wallte in ihr auf, als er plötzlich auf sie zukam.
Er tippte ihr mit dem Finger ans Kinn, was sie mit einem Ruck in die Realität zurückbrachte. „Du solltest nach oben schauen“, sagte er heiser. „Jetzt, wo ich wieder auf den Geschmack gekommen bin, solltest du nicht zu viel von mir verlangen …“
Ihre Wangen brannten feuerrot. „Tut mir leid. Du musst mich für eine ziemlich schlechte Schwester halten.“
„So was gibt’s nicht.“
„Dann eben für eine Schlampe.“
Er legte die Arme um ihre Schultern und zog sie an sich. „Nein“, sagte er tonlos. „Ich bin mit einer Reihe Schlampen zusammen gewesen, und du kommst da nicht einmal ansatzweise heran.“
„Nein?“ Der Gedanke an all die Frauen, mit denen er geschlafen hatte, hätte sie eigentlich nicht ärgern sollen, tat es aber trotzdem. „Wo ist denn der Unterschied? Ich bin in der ersten Nacht, in der wir uns kennengelernt haben, mit dir ins Bett gegangen.“
„Gegangen?“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Du hast keine Ahnung, wie hart ich dafür arbeiten musste. An so etwas war ich gar nicht gewöhnt.“ Er grinste selbstbewusst. „Ich brauchte mich vorher nie so anzustrengen, um eine Frau zu verführen.“
Auch das störte sie. „Weil du so ein junger Gott bist, was?
„Baby, ein Marine zu sein und einen großen Schwanz zu haben war so etwas wie ein hundertprozentig sicherer Treffer in der Bar-Lotterie. Auch noch gut auszusehen hat es fast zu einfach gemacht.“
Sie spürte, wie ihre Kinnlade herunterklappte, und schloss den Mund so rasch, dass ihre Zähne gegeneinanderschlugen. „Und als Nächstes wirst du mir erzählen, dass Frauen dich nur einmal ansehen mussten, um zu wissen, dass du einen großen Penis hast, ja?“
„Wenn sie richtig hinsehen, reicht das durchaus.“
„Meine Güte, dein Ego kennt keine Grenzen, was?“
Er zuckte mit den Schultern. „Nicht, wenn es darum geht. Ich bin nun mal äußerst gut bestückt. So was spricht sich herum –zumindest tat es das einmal.“
„Wie so ein toller Hollywood-Hengst?“ Sie schnaubte abfällig. „Das ist totaler Blödsinn. Ich hab jedenfalls nichts davon gewusst.“
„Jep.“ Er grinste. „Das weiß ich. Du warst erfrischend anders.“ Offensichtlich sah sie genauso zornig aus, wie sie sich zu fühlen begann, deshalb fügte er rasch hinzu: „Jeder Zweig des Militärs hat seine Groupies. Für meine Freunde und mich bedeutete das: Frauen gingen mit uns ins Bett, weil wir Marines waren. Und dann gab es noch die Frauen, die nur mit Jungs schliefen, die besonders gut gebaut waren, damit sie vor ihren ebenfalls größenbesessenen Freundinnen damit prahlen konnten. Wie gesagt: Es hat sich herumgesprochen.“
Er rieb ihre Arme, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie genauso nackt war wie er. Sie wollte ein Stück zurücktreten, aber er hielt sie fest.
„Was ich sagen wollte, ist, dass ich von dem Augenblick an, in dem du die Bar betratest, wusste, dass du ganz anders warst als all die anderen Frauen. Und wenn du meinst, ich musste mich nicht wie ein Verrückter um deine Aufmerksamkeit bemühen, dann täuschst du dich gewaltig. Vor dieser Nacht waren Frauen für mich im Grunde ziemlich austauschbar. Wenn eine ging, stand gleich die nächste bereit. In dieser Nacht wollte ich aber nicht irgendeine Tussi – ich wollte dich.“
„Warum? Weil ich eine Herausforderung war?“
„Nein! Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Er schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ich wusste nur, du warst jede Anstrengung wert. Oder vielleicht lag es daran, dass es so einfach war, mit dir zu reden. Du hast mich wirklich heißgemacht, aber du hast mich auch zum Lachen gebracht und zum Nachdenken. Bei dir konnte ich – ich weiß nicht – einfach ich sein. Und das war jemand, der ich bei den anderen Frauen nur äußerst selten war. Bei dir wollte ich aber echt sein, wenn das bedeutete, dich bei mir halten zu können. Also hör bloß auf, dich eine Schlampe zu nennen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“ Er ließ sie los. „Warum bestellst du nicht den Zimmerservice?“, sagte er über die Schulter. „Ich gehe rasch duschen.“
Sie stand immer noch mit offenem Mund da, als er um die Ecke ins Bad verschwand.
Victoria ging zu ihrem Koffer und öffnete ihn. Einen Augenblick lang stand sie nur da und starrte blind auf den Inhalt.
Gestern hätte sie Stein und Bein geschworen, dass sie sich an jedes Detail der Nacht, in der sie Rocket kennengelernt hatte, erinnern konnte. Offensichtlich hatte sie aber verdrängt, wie sehr er sich wirklich um sie hatte bemühen müssen.
Sie saß mit zwei Frauen am Tisch, die sie kurz zuvor kennengelernt hatte, und von dem Moment an, an dem er sich neben sie hingesetzt hatte, fühlte sie sich von ihm angezogen. Er kam ihr ein bisschen zu selbstsicher vor, und sein Charme wirkte ein bisschen zu einstudiert. Also hatte sie sich ihm, den beiden anderen Mädchen und seinem Kumpel gleichermaßen gewidmet. Wie hieß der Kerl doch gleich? Rooster, der Hahn? Ach nein – sein Spitzname war Bantam gewesen, das Zwerghuhn.
Es war auch völlig egal, wie sie ihn nannten, er hatte sowieso keine Chance bei ihr. Nicht, wo Rocket so nah bei ihr saß und ihr ein unglaublich gutes Gefühl gab. Nicht, wo Rocket über jeden ihrer Witze lachte, als wäre es das Lustigste, was er jemals gehört hatte. Und erst recht nicht, nachdem er aufgehört hatte, gewollt charmant zu sein. Der echte Rocket hatte jedes bisschen Zurückhaltung, das ihr noch geblieben war, in alle Winde zerstreut.
Und der Rest war – wie es so schön hieß – Geschichte.
Sie griff in den Koffer, nahm das erstbeste Stück heraus, das ihr in die Hand fiel, und trug es zum Bett. Bevor sie dort ankam, entdeckte sie die Schachtel Kondome auf dem Nachttisch. Wo kamen die denn plötzlich her?
Offensichtlich hatte Rocket sie besorgt, während sie geschlafen hatte. Aber warum hatte er das nicht erwähnt? Oder gar eines benutzt? Er hätte sie jederzeit wieder haben können, das musste er doch gewusst haben.
Verdammt. Sie rieb sich die Stirn. Jedes Mal wenn sie glaubte, sie hätte ihn endlich durchschaut, ging er los und tat etwas, womit sie absolut nicht gerechnet hatte. Am liebsten würde sie sich einreden, es ginge ihm nur um Sex – so einen Typen könnte sie leichter ignorieren. In einen so oberflächlichen Typen würde sie sich niemals verlieben.
Aber John ging es nicht nur um Sex.
Und sie hatte sich tatsächlich in ihn verliebt.
Sie holte tief Luft. Lange Zeit war sie der Wahrheit aus dem Weg gegangen, aber nun konnte sie diese nicht länger ignorieren. Die Sache hatte schon vor Langem ihren Anfang genommen. Schon vor sechs Jahren hatte sie starke Gefühle für ihn gehegt. Schließlich war sie ja nicht klammheimlich verschwunden, weil sie sich mit ihm gelangweilt hatte. Sie war gegangen, weil sie Gefahr lief, Gefühle zu entwickeln, die weit über eine nette, belanglose, einwöchige Affäre hinausgingen.
Mühsam zerrte sie ihre emotionalen Schutzschilde wieder an Ort und Stelle. Sie war eine starke Frau. Sie hatte nicht nachgegeben, als ihr Vater erfuhr, dass sie schwanger war und unnachgiebig den Namen des Erzeugers einforderte. Und ganz sicher würde sie sich jetzt auch nicht in ein verträumtes kleines Mäuschen verwandeln. Sich selbst seine Gefühle einzugestehen bedeutete ja nicht, dass man deshalb ein Ende wie im Märchen erwartete. Mal ganz abgesehen davon, dass sie vor allem auch an Esme denken musste. Sie musste sehr sorgfältig abwägen.
Heute jedoch … Sie sah zur Badezimmertür und lauschte dem Geräusch des plätschernden Wassers. Heute war sie nicht zu Hause. Heute war ihr Kind weit weg.
Sie nahm den Hörer ab und bestellte beim Zimmerservice ein Frühstück, das für eine kleine Armee gereicht hätte. Dann nahm sie ein Kondom aus der Schachtel und schlenderte in Richtung Badezimmer.
John hatte sicher nichts dagegen, wenn sie ihm den Rücken wusch.
Montagnachmittag war Jared so hungrig, dass er seinen Bauchnabel förmlich an der Wirbelsäule zu spüren glaubte. Ungläubig dachte er daran zurück, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen er geglaubt hatte, zu verhungern, weil es kein Knabberzeug gab und außer Eiern, Fleisch und Gemüse nichts Essbares im Haus war. Und wer wollte so was schon, wenn man es sich auch noch selbst zubereiten musste?
Mann, was würde er heute für nur eines dieser Dinge geben? P. J. und er hatten jetzt seit fast vierundzwanzig Stunden gar nichts gegessen, und sein Magen machte ihn geräuschvoll darauf aufmerksam.
Seinen letzten Dollar hatte er für einen Anruf zu Hause ausgegeben, in der leisen Hoffnung, Tori wäre vielleicht da. Bestimmt war sie zur Beerdigung ihres Vaters aus London zurückgekommen. Bei dem Gedanken daran zog sich sein leerer Magen schmerzhaft zusammen, und er blinzelte wie verrückt die Tränen zurück, die sich in seinen Augen zu bilden drohten. Denk nicht daran, denk nicht daran.
Denk lieber daran, dass sie dir bestimmt Geld geschickt hätte, wenn du sie erwischt hättest. Dessen war er sich ganz sicher, und für einen kurzen Moment wärmte ihn das Bild von ihr, das er vor Augen hatte.
Das hielt jedoch nicht lange vor. Letzten Endes hatte er sein Geld zum Fenster hinausgeworfen. Dee Dee war ans Telefon gegangen, und er hatte aus lauter Panik den Hörer aufgeknallt.
„Hey!“ P. J. stieß ihm den Ellbogen in die Seite. „Lächle nett für die Touristen! Die Dame da drüben sieht dich an.“ Dann verzog sie den Mund und zeigte in eine andere Riehtung. „Der Typ da hinten allerdings auch.“
Unfreiwillig folgte Jareds Blick ihrem Finger, aber er sah sofort zu Boden, als er einen dicklichen älteren Mann in einem teuren Anzug erblickte, der ihn hoffnungsvoll anlächelte. Seine Eingeweide verkrampften sich. Wegen der Verzweiflung, die ihn zu übermannen drohte. Wegen der Angst, bald alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, wenn sich nicht sehr bald etwas änderte.
Er wusste beim besten Willen nicht, ob er jemals wieder in den Spiegel schauen könnte, wenn es darauf hinauslaufen würde, um zu überleben.
Als hätte er seine Bedenken laut ausgesprochen, sagte P. J. plötzlich: „So weit sind wir noch nicht, Kumpel.“ Sie zog ihn herum, damit er den Mann nicht mehr sehen konnte. „Und außerdem bist du doch echt clever. Dir wird schon was einfallen.“
Sie zog ihn zum Bürgersteig, wo sie warteten, bis die Straßenbahn vorbeigefahren war, bevor sie die Straße überquerten, die für den restlichen Verkehr gesperrt war. „Nun geh und sei mal ein bisschen nett zu der Lady. Sie sieht aus, als wollte sie unbedingt ein bisschen Kleingeld loswerden.“
Jared rührte sich nicht vom Fleck. „Warum versuchen wir nicht mal was anderes?“
Sie sah ihn an. „Was zum Beispiel?“, fragte sie langsam.
Er deutete mit dem Daumen auf seinen Rucksack und beugte sich zu ihr hinab, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.
Ihre großen braunen Augen begannen zu leuchten. „Oh, das ist klasse!“
Er ging auf ihr „Ziel“ zu, während P. J. hinter ihm herhüpfte. Eine Sekunde später spürte er, wie sein Rucksack geöffnete wurde und sie darin herumwühlte. Als sie einen Laut der Verzweiflung äußerte und damit begann, Dinge herauszurupfen, musste er beinahe lächeln. Mann, sie war echt gut.
„Warte mal“, sagte sie. Sie schlug auf den Rucksack, als er weiterging. „Du sollst anhalten! Es ist nicht drin!“
Er verdrehte den Kopf, um zu ihr nach hinten zu schauen. „Was soll das heißen, es ist nicht drin? Es muss drin sein! Du hast bloß nicht richtig nachgeschaut!“
„Nein, wenn ich es dir doch sage? Es ist nicht drin!“
Er setzte ungeduldig den Rucksack ab, ließ ihn fast vor den Füßen der Frau, von der sie sich ein paar Dollar erhofften, auf den Boden fallen und begann selbst zu suchen. Eines nach dem anderen zog er alle Sachen heraus. „Oh Mist!“, sagte er. Es war nicht einmal schwer, sich verzweifelt anzuhören. Schließlich war er verzweifelt – verzweifelt bemüht, dafür zu sorgen, dass P. J. und er morgen wenigstens eine Mahlzeit bekommen würden. „Was machen wir denn jetzt?“
„Mom wird uns umbringen“, heulte sie.
„Entschuldigung“, sagte eine sanfte Stimme. Beide sahen die Frau an. „Ist mit euch alles in Ordnung?“
„Ja, danke, alles in Ordnung, Ma’am“, sagte Jared, während P. J. gleichzeitig „Neeeeiiiiiin“ heulte.
„Habt ihr etwas verloren?“
Er sah in ihre freundlichen Augen, bemerkte ihre ausgetretenen Schuhe und stellte fest, dass sie gar keine Touristin war. Verdammt, sie sah aus, als ginge es ihr nicht viel besser als ihnen beiden. Er fühlte sich niedriger als eine Kakerlake, weil er wusste, dass er es trotzdem versuchen würde. Er hob die Sachen auf, die er ausgepackt hatte, und stand langsam auf. „Es ist nichts.“
P. J. haute ihn. „Na klar, wenn man mal davon absieht, dass wir jetzt kein Geld mehr haben, um nach Hause zu kommen! Mom wird uns umbringen!“
Die Frau zog eine Geldbörse aus der Tasche, die schon bessere Tage gesehen hatte, und holte drei zerknitterte Dollarnoten hervor. Jared warf einen Blick in das Portemonnaie und stellte fest, dass ihr selbst nur zwei Dollar blieben.
Sie hielt ihm die Geldscheine hin. „Vielleicht hilft euch das ein bisschen weiter.“
Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, wie sehr es ihnen weiterhelfen würde, aber er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, das Geld zu nehmen. P. J. hatte dagegen keinerlei Bedenken und nahm der Frau die Scheine ab. „Vielen Dank, Ma’am. Sie haben uns gerade das Leben gerettet.“
„Das freut mich.“ Sie lächelte die beiden freundlich an. „Dein Bruder erinnert mich an meinen Sohn.“
„Oh, das tut mir leid. Ist er auch so hässlich?“
Die Frau sah traurig aus. „Nein, er war ein wirklich hübscher Junge.“
P. J. blieb stocksteif stehen. „War?“
„Er starb im Irak.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Ja, mir auch.“ Sie drehte sich zur Straßenbahn herum, die hinter ihnen entlangratterte.
Jared holte einen Stift und einen Zettel aus der Tasche. Er hielt der Frau beides hin. „Würden Sie uns bitte Ihre Adresse aufschreiben?“, fragte er. „Damit wir Ihnen das Geld so schnell wie möglich zurückzahlen können.“
„Das ist wirklich nicht nötig.“
„Bitte!“
Sie sah ihn einen Moment lang eindringlich an und schrieb dann etwas auf den Zettel. Gerade als sie ihm den Zettel zurückgab, kam die Straßenbahn, und sie stieg ein. „Viel Glück, Kinder.“
Sie sahen zu, wie die Straßenbahn in der Ferne entschwand.
Dann wandte sich P. J. zu ihm um. „Na, das hat ja super geklappt und anfangs auch richtig Spaß gemacht.“ Sie sah ihn unglücklich an. „Nur, warum fühle ich mich so beschissen?“
„Aus dem gleichen Grund wie ich, schätze ich.“ Jared steckte den Zettel sorgfältig in die Hosentasche, obwohl er wusste, dass er kaum eine Chance hatte, der Frau ihre Großzügigkeit zu vergelten. „Ist es okay, wenn wir ihr Geld für morgen aufheben?“
„Ja. Wir sollten jetzt sowieso rüber zum Skyline gehen.“ Sie sah ihn an und sagte mit wenig Überzeugung: „Bestimmt fühlen wir uns viel besser, wenn wir erst mal was im Magen haben, oder?“
„Na klar“, log er. „Ganz bestimmt.“