21. Kapitel
Elementares Chaos
Nate und Richie starrten über die Backbordseite des Boots auf Südseattle.
»Das Wasser sammelt sich«, sagte Richie und deutete in die Ferne.
»Wasser sollte sich nicht sammeln«, entgegnete Nate. »Es findet den niedrigsten Punkt und breitet sich von dort gleichmäßig aus.«
Nik und Pernikus kletterten am Bug herum, glotzten aus jedem Blickwinkel auf ihre überschwemmte Stadt. Ein bisschen Chaos fanden sie ja gut. Genau genommen genossen sie es sogar. Aber der umwälzende Wahnsinn, der sich vor ihren Augen ausbreitete, erschütterte selbst ihre dämonischen Seelen. Auch Kail war erschüttert – Nate konnte es spüren. Der Spalterdämon hatte reglos in einem Riss im hölzernen Bootsrumpf gekauert. Aber nun ließ Kails schlotternde Angst vor dem Wasserdämon das ganze Gefährt erzittern. Die Stadt war überflutet. Die Menschen geflohen. Die Tausenden von Dämonen, die Nate freigelassen hatte, waren ertrunken oder fortgespült worden oder hatten ebenfalls die Flucht ergriffen.
Vor ihnen im Safeco-Field-Stadion flammte ein Licht auf, gefolgt von gedämpftem Donner.
»Ein Blitzschlag«, sagte Nate. Er spürte ihn genauso, wie er ihn sah und hörte.
»Das kann kein Blitz sein«, erwiderte Richie. »Es kam aus dem Innern des Stadions.«
»Sparky«, murmelte Nate.
Während sie über die Werften hinwegfuhren, erhob sich ein weiteres Geräusch aus dem Stadion. Ein heulender Wind.
»Das Geräusch kenne ich auch!«, rief Nate. »Es ist Flappy!«
Er schob den Gashebel nach vorn und riss das Steuerrad herum, beschleunigte das Boot auf Höchstgeschwindigkeit und hielt direkt auf das Safeco-Field-Stadion zu.
Das Wasser war kühler, als Lilli erwartet hätte, und ihr Körper verkrampfte sich, als ihr die Kälte bis in die Knochen drang. Ihre nasse Kleidung wog schwer, zog sie hinab. Sie wurde hin und her geworfen wie eine Stoffpuppe in der Waschmaschine, aber die Knobelbox hielt sie fest umschlossen in der Hand, denn sie wusste, dass der kleine Kasten das Einzige war, womit die drei Elementardämonen sich vielleicht würden einfangen lassen. Während es sie herumwarf, erhaschte sie kurze Blicke vom Himmel und von den oberen Sitzreihen, die das Wasser noch nicht erreicht hatte. Sie hegte keinen Groll gegen Sandy, weil die ihr nicht half. Sandy konnte sie einfach nicht erreichen, und, offen gestanden, würde ihre Freundin vermutlich auch sterben.
Lilli fühlte sich mies. Sie war oft ziemlich gemein zu Sandy gewesen. Sie befand, dass sie vor allem wegen ihrer jämmerlichen Eifersucht und aus unbewusstem Neid auf Sandys geordnetes Leben so eklig gewesen war, und sie bereute ihre kindische Verbitterung. Aber etwas zu bedauern fiel einem leicht im Angesicht des Todes. Sie hätte früher damit anfangen sollen, dachte sie, als es noch gezählt hätte und sie sich hätte entschuldigen können.
Lilli glaubte, irgendwo oberhalb der Werferplatte im Wasser zu treiben, ein gutes Stück vom dritten Rang entfernt, wo Sandy wahrscheinlich bei den bewusstlosen Arbeitern ausharrte und darauf wartete, selbst fortgeschwemmt zu werden. Der Plansch war ein großer Dämon, der größte, den sie je gesehen hatte. Und als Elementardämon war er so alt wie die Erde selbst. Wir spielen einfach nicht in seiner Liga, dachte sie.
Lilli dachte über ihr junges Leben nach, während ihre Arme und Beine allmählich zu müde wurden, um sich noch länger über Wasser zu halten. Letztlich freute es sie, die Dinge im Leben überwiegend positiv betrachtet zu haben, aber nun war der Himmel über Seattle nur noch bleiern, das wirbelnde Wasser war schwarz und die Lichtblitze von sterilem Weiß. Sie schloss die Augen und träumte von bunten Farben, als das Wasser sie verschluckte und alles auslöschte.
Das Versorgungsboot schoss über die niedrige Mauer an der Stadionnordseite hinweg und sauste mit gebührendem Sicherheitsabstand zwischen den hohen Flutlichtmasten und dem Safeco-Field-Schild aufs Spielfeld. Klugerweise wich Nate auch den elektrifizierten gelben Foul-Metallstangen aus, weil er instinktiv die Gefahr spürte, die von ihnen ausging.
»Sparky ist auf jeden Fall hier, und er ist riesig geworden«, rief er Richie zu. »Flappy schwirrt hier auch irgendwo herum.«
Im nächsten Moment spürte Nate die beiden Dämonen; seine hellwachen Dämonenhütersinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Aber da war noch ein anderes Wesen, eines, das noch größer war. Viel größer. Er erkannte es ohne jeden Zweifel, sowohl aus seiner fernen Vergangenheit als auch von ihrer jüngsten Begegnung auf dem Ozean, und er hatte das Gefühl, dass der Dämon auch ihn erkannte.
»Der Plansch!«, sagte Richie und deutete auf den riesigen Wasserstrudel vor den nicht überdachten Tribünenplätzen. Nate nickte. Tatsächlich machte der Wasserdämon keinerlei Anstalten, sich zu verbergen.
Während sie über das überflutete Spielfeld fuhren, schoss ein greller Blitz vom Dach auf sie herab. Ehe er Nate oder Richie treffen konnte, verbog sich der metallene Flaggenmast des Boots und fing den Blitz ab. Der Mast brummte elektrisch, und Nikolai, der am Fuße des Masts stand und ihn gekrümmt hatte, um den Blitz zu stoppen, leuchtete auf wie ein pelziges blaues Weihnachtslicht. Der Stromschlag war stark genug, um einen Elefanten zu töten. Nate streckte Nik die Hand entgegen, doch Richie schlug sie zur Seite, während der kleine Hilfsdämon vibrierte und einen elektrischen Hopstanz aufführte.
»Nicht!«, rief Richie. »Fass ihn nicht an!«
Pernikus sprang zu seinem Gefährten hinüber, aber es war zu spät. Nikolais Fell stand in Flammen.
»Er verbrennt!«, rief Nate.
»Wir brauchen Wasser, Mann!«, brüllte Richie. Er schob Nate zum Steuerrad zurück, damit der das Boot auf Kurs hielt, und schöpfte über die Bordwand hinweg einen Eimer voll Wasser aus den Fluten. Er kippte es dem brennenden Dämon über den Kopf, und Nik brach auf den Holzplanken zusammen, triefnass, verkokelt und reglos.
»Er ist tot!«, rief Nate.
»Reiß dich zusammen!«, brüllte Richie in Nates Ohr. »Hier geht’s noch um das Leben anderer Leute.«
Nate blieb hinterm Steuerrad stehen, blickte aber funkelnd zu den Dachträgern empor.
»Sparky! Hör auf, bevor du noch jemanden umbringst!«, rief er.
Aber Nate wusste, dass der elektrische Dämon nicht auf ihn hören würde. Sie hatten nie eine enge Beziehung gehabt. Genau genommen hatte sich der heimtückische Funke, als sie zusammengewohnt hatten, immer wieder einen Spaß daraus gemacht, sich irgendwo zu verstecken und Nate aus heiterem Himmel einen Stromschlag zu verpassen. Wenn er ihm schon zu Hause nicht gehorcht hatte, dann würde er es hier im Freien erst recht nicht tun. Selbst wenn Sparky sich ergeben würde, Nate war nicht sicher, ob er ihm verzeihen könnte, was er gerade mit Nik gemacht hatte.
Das Boot rumpelte durch die wütenden Wellen, die kreuz und quer durch das Stadion wogten, gegeneinanderprallten und über dem Deck herabkrachten. Nate und Richie waren pitschnass. Die Kälte des Plansch drang ihnen bis in die Knochen. Aber als sie über die Werferplatte hinwegwogten, spürte Nate noch ein anderes verzweifeltes Gefühl, das nichts mit der Kälte zu tun hatte. Er wusste nicht, was es bedeutete oder woher es kam, aber plötzlich begann sein Herz zu rasen. Zuerst glaubte er, das Gefühl hätte mit Nikolais Stromschlag zu tun. Dann trat Richie zu ihm heran und packte seine Schulter.
»Ich fühl mich plötzlich, als müsste ich gleich kotzen!«, rief Richie. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht!«, brüllte Nate gegen Wind und Wellen an. »Aber mir geht es genauso!«
Pernikus stand am Bug und deutete in die Tiefe.
»Was ist dort?«, rief Nate.
Im aufgewühlten Wasser war es schwer zu erkennen, aber als das Boot an der Stelle vorbeikam, auf die Pernikus deutete, erhaschte Nate einen kurzen Blick auf einen Batikstofffetzen.
»Lilli!«, brüllte er.
»Sandy!«, brüllte Richie im selben Moment und deutete auf die nicht überdachte Tribüne. Sandy kauerte auf der Betonstufe unterhalb der bewusstlosen Arbeiter, die sie und Lilli dort hinaufgeschleppt hatten, und die gierigen Wellen umspülten ihre Füße.
Unter dem Boot brodelten die wütenden Wassermassen, aber sie konnten in dem geschlossenen Stadion nicht genug Schwung entwickeln, um das Gefährt umzuwerfen. Unter dem Stadiondach sammelte Sparky sich für einen weiteren Blitzschlag. Und ringsum tobte Flappy, schleuderte Trümmer durch die Luft und verursachte so heftige Windstöße, dass Pernikus sich am Querbalken festklammern musste.
Das Wasser stand inzwischen so hoch, dass Nate aus dem Stadion auf Seattles Zentrum blicken konnte. Die Spitzen der Wolkenkratzer waren noch zu erkennen, aber der Rest war komplett überschwemmt. Er konnte es nicht fassen, mit welcher Kraft das Meer herangeflutet war. Es führte Krieg gegen die anderen Elemente, wollte den verteufelten elektrischen Dämon vernichten und schnaubte vor Wut ob des schwer fassbaren Windes. Es tötete gedankenlos Menschen, ohne jedes Mitgefühl, während es sein Ziel verfolgte, die anderen Elemente auszulöschen. Nate schauderte, als ihn eine Erkenntnis überkam – die Fluten, die Seattle zerstörten, waren dasselbe unaufhaltbare, herzlose Monster, das seine Eltern in den Tod gerissen hatte. Er hatte dem Wind die Schuld dafür gegeben. Er hatte Dhaliwahl die Schuld gegeben. In gewisser Weise hatte er sogar sich selbst die Schuld dafür gegeben. Aber letztlich war es die kalte See gewesen, die ihm die Eltern geraubt hatte. Er blickte himmelwärts zu seinem loyalen Freund und Gehilfen.
»Flappy! Es tut mir leid! Ich brauche deine Hilfe!«
Als nichts geschah, fragte sich Nate, ob sein Ruf in all dem Lärm untergegangen war oder ob Flappy ihn ignorierte. Empfinden Dämonen Stolz?, fragte er sich. Ließ Flappy ihn im Stich, genauso wie er Flappy im Stich gelassen hatte?
Nate besaß keine Superkräfte. Er war kein Zauberer. Seine einzige Fähigkeit bestand darin, das Chaos wahrzunehmen, vielleicht auch, es zu begreifen. Ringsum tobte der Sturm. Der Wind, die See und die Blitze, alle rangen sie um den Flecken Erde, den die Menschen Seattle nannten.
Erde…, dachte Nate.
»Fahr zur Tribüne!«, befahl er Richie, zerrte ihn ans Steuerrad und deutete auf Sandy. »Volle Kraft voraus!« Nate drückte schnell den Gashebel nach vorn und sprang vom Boot, mitten hinein ins Herz des Plansch.
Die Welt wurde still und kalt, als er mit entschlossenen Schwimmzügen in den Wasserdämon hinabstieß, die Augen weit aufgerissen, in alle Richtungen Ausschau haltend. Er versuchte zu spüren, wo Lilli war, doch er war umgeben von der schieren Essenz des monströsen Dämons. Nates ausgeprägtes Gespür wurde von dessen Leblosigkeit gedämpft. Sonderbarerweise konnte der Plansch Nate nicht angreifen, während der im Innern des Ungetüms war. Seine gewalttätigen Kräfte bestanden darin, Land zu überfluten und auf ahnungslose Opfer herabzukrachen. Nate dachte, dass er, wenn er unter Wasser atmen könnte, sich ewig im Bauch des Monsters würde treiben lassen können, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Fast verleitete der Gedanke ihn, es einfach zu versuchen.
Aber dann sah er Lilli unter ihm im Wasser treiben, ihre wallende Kleidung flatternd wie eine Engelsrobe. Es riss ihn aus seiner Trance, und plötzlich meldete sich seine brüllende Lunge. Er konnte nicht unter Wasser atmen, und Lilli konnte es auch nicht.
Über ihm lag Richie rücklings auf dem Deck, umgeworfen, als Nate den Gashebel nach vorne geschoben hatte und das Boot unvermittelt vorangeschossen war. Anders als bei einem Auto verblieb der Hebel auch in dieser Position, wenn man ihn losließ. Und so raste das Boot führungslos weiter, als Nate von Bord sprang. Richie versuchte vergebens auf die Beine zu kommen. Das Boot sprang nach links, nach rechts, sprang auf und ab. Nik war verbrannt, lag reglos da. Übrig geblieben war nur Pernikus.
Der dämonische Unruhestifter packte das Steuerrad des Boots. Es war ihm unmöglich, es geradeaus zu fahren, selbst wenn er es gewollt hätte, was eindeutig nicht der Fall war. Vielmehr riss er es mit aller Kraft nach links herum, wodurch Richie quer über den Boden in den Passagiersitz geschleudert wurde. Das Boot raste im Kreis und wühlte den kleinen Bereich des Plansch zu weißem Schaum auf, sehr zu Pernikus’ Vergnügen.
»Juchuhhhh!«
Der Plansch löste die Aufmerksamkeit von Sandy und den bewusstlosen Arbeitern, zog die Wassertentakel zurück und flutete die Tribüne hinunter, riss Hunderte von Sitzschalen heraus. Die daraus resultierende Woge schlug gegen die Bootsseite und schleuderte das Gefährt zwanzig Gänge weiter gegen die Tribune.
In der obersten Reihe brach ein Dutzend Sitze entzwei, als das Boot über die Tribüne pflügte, aber nicht zum Stillstand kam, ehe der Boden des Holzrumpfes auf den Beton traf, in dem die Sitze verankert waren. Mit einem ohrenbetäubenden Knirschen krachte der Bug gegen die Stadionstufen.
Kail, der erdverbundene Spalterdämon, schoss sofort aus dem zersplitterten Rumpf heraus und grub sich in das Stadion, raste durch die Stufen ins Fundament hinunter und geradewegs ins Erdreich unter dem überschwemmten Spielfeld. Als Nate Kail gefangen hatte, hatte Sandy ihn gewarnt, dass direkt unter der Stadt eine große geologische Verwerfungslinie verlaufe. Daran hatte Nate sich erinnert, und Kail hatte die Verwerfung entdeckt.
Angestachelt vom Kampf der anderen Elementardämonen, erweckte Kail seine Kräfte zum Leben. Er raste durch die Erde in den massiven Fels hinein und verschob dadurch die unterirdischen Kontinentalplatten, worauf das ganze Stadion erbebte, während Kail die Welt unter dem Stadtzentrum auseinanderriss.
Richie, der bereits mit zahllosen blauen Flecken übersät war, flog gegen das Armaturenbrett. Sein Ellbogen verbog sich in einem unnatürlichen Winkel, und ein lautes Knack ertönte, als in seinem Unterarm die Elle brach. Pernikus flog ebenfalls durch die Luft. Er wurde durchs Fenster katapultiert und krachte gegen eine gigantische Brause-Werbetafel, wo er an der Oberlippe eines riesigen Gesichts in einem giftgrünen Schleimschwall explodierte.
Nachdem die beiden geringfügigen Ärgernisse außer Gefecht waren, entfernte der Plansch sich wieder vom Boot. Der Wasserdämon hatte gerade damit begonnen, zu seinen anderen todbringenden Aufgaben zurückzufluten, als unter dem Stadion ein schallendes Knirschgeräusch erklang. Der Beton erbebte, und die Sportstätte wurde bis in ihre Grundfesten erschüttert. Wegen der Tumulte im Stadioninneren und der beiden tobenden Elementardämonen über ihm hatte der Plansch den dritten Dämon übersehen, der sich im Bootsrumpf versteckt gehalten hatte. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten machte der Wasserdämon sich Sorgen.