17. Kapitel

Wieder vereint

Nate setzte zurück und wendete den Abschleppwagen in Richtung eines weiteren bedrohlichen Müllhaufens. Der Haufen wartete nicht, bis man ihn niederwalzte – er grub sich lieber freiwillig in den Boden, bis nichts mehr von ihm übrig war.

»Hey, Mann!«, rief Richie freudig, als Nate an ihnen vorbeidonnerte und auf einen dritten Müllhaufen zuhielt, der eilig davonwogte. Der Abschleppwagen überholte und rammte ihn, schleuderte seine Bestandteile quer über den Platz.

Nate hielt an, ließ den Wagen im Leerlauf stehen und stieg aus. Lilli, Sandy und Richie rannten ihm entgegen. Als sie ihn erreichten, wetteiferten Lilli und Sandy um die beste Position, um Nate als Erste umarmen zu können.

»Hallo, alle miteinander!«, sagte Nate grinsend. Aber er konnte sich nicht entscheiden, welches Mädchen er zuerst umarmen sollte, ohne das andere zu verärgern.

»Du hast uns das Leben gerettet, Alter!«, rief Richie und machte einen Satz nach vorn, um Nate in die Arme zu schließen.

»Nett«, sagte Lilli. »Er bevorzugt den kleinen Punker.«

Statt sie zu umarmen, hielt Nate den beiden Mädchen die Hände zum Abklatschen hin. Sandy und Lilli sahen sich stirnrunzelnd an, dann klatschten sie ihn halbherzig ab.

»Wow, das war echt hammermäßig!«, sagte Richie. »So was hab ich noch nie gesehen!«

»Ja«, murmelte Sandy. »Hammermäßig unsensibel.«

»Total!«, sagte Richie. »Er hat die Haufen voll plattgemacht! «

»Glaubt ihr, die rühren sich noch mal?«, fragte Lilli und schaute sich nervös um.

Nate war sich nicht sicher. Das war er nie. Aber er hoffte, der Müll würde bleiben, wo er war; er wollte nicht, dass Lilli sich sorgte, und es freute ihn, dass Richie so beeindruckt von ihm war.

»Das will ich doch nicht hoffen«, sagte er.

»Alter«, fragte Richie, »seit wann bist du zurück? Wie hast du uns gefunden? Was ist draußen auf dem Meer passiert? «

»Lange Geschichte«, erwiderte Nate. »Ich erzähle euch alles, sobald wir hier aufgeräumt haben.« Nun war Nate derjenige, der sich nervös umschaute. Er war sich nicht sicher, wie viele weitere Mülldämonen es noch auf der riesigen Deponie gab. »Lasst mich einfach sagen, ich bin froh, wieder hier zu sein.«

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Sie fuhren auf der Deponie umher und trieben die riesigen Müllberge zur Mitte des Geländes, dann zwangen sie sie, sich aufzulösen. Diejenigen, die sich nicht fügen wollten, riss der Abschleppwagen mit seinem modifizierten Kühlergrill in Stücke. Zweimal jedoch griffen hohe Müllberge das Fahrzeug an und hätten es fast unter sich begraben. Und ein kleinerer Haufen raste ihnen hinterher, bis Nate den Rückwärtsgang einlegte und das angriffslustige Monster mit den Reifen in drei Teile zerlegte. Einzelne Müllstücke flohen, dann gruben sie sich in die schlammige Erde und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Nach mehr als einer Stunde harter Arbeit und einigen heiklen Situationen bestand die gesamte Deponie nur noch aus platt gewalztem oder im Erdreich vergrabenem Müll, und lediglich einige wenige lose Zeitungsseiten flatterten noch im Wind darüber hinweg.

Die vier Freunde sanken erschöpft und erleichtert in der engen Fahrerkabine zusammen.

»Wir haben diese Schlägertypen umgebracht«, sagte Sandy nach einer Weile.

»Was?!!!«, rief Nate erschrocken.

»Haben wir nicht«, sagte Richie. »Der Müll hat sie gekillt. «

»Aber wir haben ihn auf sie losgelassen«, entgegnete Sandy.

»Was für Schlägertypen waren das?«, wollte Nate wissen.

»Mitglieder einer Gang, die sauer auf uns waren«, erklärte Lilli. »Weil ich sie neulich zum Kotzen gebracht habe.«

Nate verstand nur Bahnhof, ließ sie aber weiterreden.

»Sie sind uns hierher gefolgt, um uns zusammenzuschlagen oder uns noch Schlimmeres anzutun. Der Müll hat sie unter sich begraben.«

»Die haben es nicht anders verdient«, fügte Richie an. »Sie waren Müll in Menschengestalt.«

»Richie!«, schalt ihn Sandy. »Wir töten nicht.«

»Nein«, pflichtete Nate ihr bei. »Wir lösen Probleme.«

»Aber wenn es sein muss, treten wir Leuten in den Hintern«, entgegnete Richie.

»Aber nur, wenn es wirklich nicht anders geht«, sagte Lilli.

»Ich bin kein Mitglied einer Bürgerwehr«, erklärte Sandy. »Wir handeln in offiziellem Auftrag.« Sie deutete auf den Aufdruck an ihrer Jacke.

»Moment mal«, sagte Nate verwirrt. »Was hat das zu bedeuten …?«

 

Nach dem Massenbegräbnis auf der Mülldeponie fuhren die Freunde nach Norden in Richtung Innenstadt. Lilli, Sandy und Richie erklärten, dass der Bürgermeister sie zur Deponie geschickt hatte.

»Ihr könnt doch nicht für den Bürgermeister arbeiten!«, empörte sich Nate. »Und ihr hättet ihm niemals verraten dürfen, dass wir Dämonen fangen.«

»Haben wir auch nicht«, sagte Sandy. »Er weiß nicht, wie wir tun, was wir tun. Er möchte einfach nur, dass wir damit weitermachen.«

Wütend trommelte Nate aufs Lenkrad. »Aber er gibt offizielle Nachrichten über uns heraus!«

»Ja«, sagte Richie. »Wir sind Helden.«

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»Das nimmt ein schlimmes Ende«, warnte Nate. »Die Geschichte von uns Dämonenhütern ist, dass man uns, wenn Dinge schieflaufen, mit der Mistgabel aus der Stadt jagt.«

»Erzähl uns, wie es dir auf See ergangen ist«, versuchte Lilli das Thema zu wechseln. »Und wie du uns gefunden hast.«

»Ja«, sagte Sandy. »Du musst uns auch so einiges erklären. «

Nate schilderte rasch, wie es ihn auf die Plastikinsel im Großen Pazifischen Müllstrudel verschlagen hatte, und er gab zu, ein Boot gestohlen zu haben, um nach Seattle zurückzugelangen. Dass Carma sich mit ihm angefreundet und ihm bei der Flucht geholfen hatte, erwähnte er nicht. Er wollte den anderen Mädchen nicht seine Beziehung zu Carma erklären müssen. Besonders nicht, weil ihm ihr langer Kuss so gut gefallen hatte, wie ihm rückblickend bewusst wurde. Gleich nach seiner Ankunft in Seattle war er nach Hause gefahren und hatte im Nachbargarten Mr. Neebor angetroffen, der dabei war, einen Zaun aus Autoreifen zu bauen, von denen vier offenkundig von seinem auseinandergefallenen Chevy stammten. Mr. Neebor hatte ihm erzählt, wo Lilli, Richie und Sandy mit seinem Abschleppwagen hingefahren waren, und Nate war nicht einmal ins Haus gegangen, sondern hatte sich sofort auf den Weg zur Mülldeponie gemacht.

Richie zuckte zusammen. »Während der Jagd auf die Müllberge haben wir den Wagen des Alten ganz schön ramponiert. « Es stimmte – der Abschleppwagen war verbeult und zerkratzt, hatte riesige Dellen im Kühlergrill und war völlig verdreckt.

Sandy nickte fortwährend, während Nate seine Geschichte erzählte. Als er fertig war, sagte sie: »Ich habe vorhin im Internet einen Artikel über eine Gruppe von Leuten gelesen, die sich mitten im Pazifik an eine künstliche Insel geklammert hatten, ehe man sie vor einigen Tagen gerettet hat.«

Nates Brauen schossen in die Höhe. »Wirklich? Was haben die Leute gesagt? Erzähl schon!«

»Der Sprecher der Überlebenden meinte, ihr Anführer hätte sie gegen ihren Willen als Arbeitssklaven auf der Insel festgehalten.«

»Wer war dieser Sprecher?«

»Eine junge Frau«, sagte Sandy.

»Wie sah sie aus?«

»Es gab kein Foto von ihr.«

»Wie war ihr Name?!« Nate warf die Hände in die Luft.

»Ich weiß es nicht. Beruhige dich.«

»Hieß sie Carma?«, platzte es aus ihm heraus.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte Sandy. »Ist dir diese Carma denn so wichtig?«

»Nein«, sagte Nate etwas zu schnell. »Ich meine, ich habe vielleicht ein paarmal mit ihr geredet. Sie ist eine Freundin, schätze ich. Aber sie war nicht meine Freundin, falls du das meinst.«

»Quatsch, so etwas würdest du mir doch niemals antun«, sagte Sandy, die plötzlich ziemlich argwöhnisch klang.

Nate wurde klar, dass seine Zunge schneller gewesen war als sein Hirn und dass er sich vorsehen musste, weil Sandy nichts entging. Sie besaß die Gabe, ihm die Wahrheit zu entlocken, selbst wenn er sie keinesfalls verraten wollte.

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Zum Glück sprach Lilli ein anderes Thema an. »Du sagst, du hättest ein Boot gestohlen. Was ist denn mit der WANDERER geschehen?«

Nate schauderte. Er hatte den Wasserdämonen absichtlich nicht erwähnt. Die Erinnerung an die unselige Begegnung auf dem Meer war zu beunruhigend für ihn. Er versuchte woanders hinzuschauen, aber Lillis Blick war fest auf ihn gerichtet.

Auch Sandy bemerkte seine Reaktion. »Gibt es etwas, was du uns verschweigst?«, fragte sie.

»Ein Wasserdämon hat die WANDERER zertrümmert. Es war derselbe Dämon, der meine Eltern getötet hat. Er hat versucht, auch mich umzubringen, dessen bin ich mir sicher. Aber er hat mich nicht bis zur Plastikinsel verfolgt.«

»Ein Wasserdämon?«, fragte Lilli.

»Er hat sich als Monsterwelle manifestiert und die WANDERER zum Kentern gebracht. Ich selbst wäre fast ertrunken, wurde dann aber auf der Plastikinsel an Land gespült.«

»Hey!«, sagte Richie. »Dein Wasserdämon klingt mir aber verdächtig nach dem Plansch!«

»Der Plansch?« Nate sah ihn verwirrt an. »Wer ist das denn?«

»Na, der Dämon, der fast die Fähre zum Kentern gebracht hätte!«

Sandy und Lilli versuchten schnell, Richie zum Schweigen zu bringen, aber es war zu spät.

»Wie bitte?« Nate machte große Augen und begann zu zittern. »Der Wasserdämon ist hier? In Seattle?«

»Wirklich großartig, Richie«, schimpfte Lilli und versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Seit dem Vorfall auf der Fähre haben wir ihn nicht mehr gesehen«, sagte Sandy. »Vielleicht ist er ja verschwunden.«

»Erzählt mir alles, was auf der Fähre geschehen ist«, verlangte Nate. »Jede Einzelheit.«

»Okay, aber wir erzählen es dir während der Rückfahrt in die Stadt. Wir müssen nämlich in ein paar Minuten beim Bürgermeister erscheinen und ihm Bericht erstatten.«

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