6. Kapitel
Ankunft im Plastikcamp
Nate wurde mit dem Gesicht nach unten über die seltsame Plastikinsel geschleppt; jeweils ein Insulaner hielt einen Arm oder ein Bein. Eine Weile war der Untergrund körnig, so wie am Strand, aber dann wich der »Plastiksand« einer glatten glänzenden Oberfläche. Dort, wo der Boden dick und fest war, erschien er milchfarben, und Nate hatte keine Vorstellung, wie weit er wohl in den Ozean hinabreichte. An den dünneren Stellen war der Boden dagegen fast durchsichtig, und Nate konnte die verschwommenen Umrisse der Fische erkennen, die keine fünfzehn Zentimeter unter den Füßen seiner Häscher im Müll umherschwammen, der im Ozean trieb.
»Ich möchte wissen, wo wir sind und wo wir hingehen«, beschwerte er sich, aber er konnte den Hals nicht weit genug anheben, um in die Gesichter der Insulaner zu schauen.
»Lass es einfach geschehen«, sagte das hübsche Mädchen. Sie trug sein linkes Bein. »Es ist der beste Weg, sich bei uns zu akklimatisieren.«
»Ich will mich aber nicht akklimatisieren. Ich will wissen, wo ich bin und warum ihr mich überwältigt habt und verschleppt.«
»Was erwartest du denn?«, erwiderte sie. »Du lässt dich unangekündigt bei uns anspülen. Wir wissen nicht, ob du ein illegaler Waljäger bist, ob du von der Regierung oder einem Ölkonzern kommst oder ob du bloß Treibgut bist.«
Nate hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, und schaukelte einige Minuten still zwischen ihnen hin und her, ehe er wieder aufblickte und sah, dass sie auf eine Gruppe niedriger Erhebungen zugingen, die igluartig aus dem Plastikboden aufragten. Gebäude, dachte Nate verblüfft. Die Leute leben tatsächlich hier. Die Dome waren ebenmäßig gerundet und reflektierten das Sonnenlicht, so dass sie aus der Ferne betrachtet nur wie Meereswellen aussahen.
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Sie gingen um eines der höheren Iglus herum und traten auf einen kleinen Platz in der Mitte der Ansiedlung. Überall lagen Plastikgeschirr, Plastikkleidung, Plastiktische und andere Utensilien verstreut. In den Iglus ringsum gab es Luken, von denen eine offen stand. Nate sah, dass die geschlossenen Luken sorgsam eingepasst waren, wie wasserdichte Einstiege. In einer geschmolzenen Vertiefung im Zentrum des Platzes lagen getrocknete Seegrasbündel. Eine Feuergrube, dachte Nate. Drum herum waren im Plastikboden Stufen eingelassen, die eine Art Mini-Amphitheater schufen, in dem etwa zwanzig Leute Platz fanden. Auf der anderen Seite der Siedlung stand das einzige mechanische Gerät, das Nate sehen konnte. Es war eine Art Kläranlage mit einem breiten Wasserschöpfer, der in einem großen Loch im Boden steckte. Die Anlage saugte Meerwasser an und spie aus einer Öffnung an der Rückseite winzige Plastikkörner in einen großen Speicher. Das gefilterte Wasser floss in einem dicken Feuerwehrschlauch durch ein anderes Loch ins Meer zurück.
Die Insulaner legten Nate am Boden ab, und die Männer stiegen mit eingezogenen Köpfen durch die offene Luke des nächsten Iglus; das hübsche Mädchen und die mürrisch dreinblickende Frau blieben zurück, um ihn zu bewachen.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte Nate.
»Habe ich doch schon gesagt«, antwortete die Hübsche. »Wir sind im Großen Pazifischen Müllstrudel, dem Gebiet im Pazifik, wo sich all der Plastikmüll sammelt.«
»Aber diese … diese Insel hier, die ist doch über einen Kilometer breit.«
»Anderthalb Kilometer, um genau zu sein, aber unter der Wasseroberfläche ist sie noch viel größer.«
»Und sie besteht vollständig aus Plastik?«
»Ja. Das Plastik sammelt sich in diesem Gebiet. Es zersetzt sich nicht. Es schwimmt praktisch ewig im Meer. Wir filtern es aus dem Wasser und verwenden Solarenergie, um es mit der Insel zu verschmelzen.«
»Sie ist jetzt schon riesig.«
»Stimmt. Und sie wächst immer weiter. Es herrscht ja kein Mangel an Baumaterial. Schätzungsweise schwimmen hier draußen hundert Millionen Tonnen Plastik im Wasser. «
»Wie heißt du?«, fragte Nate.
Sie lächelte ihn freundlich an und sah überhaupt nicht aus wie eine Kidnapperin. »Man nennt mich Carma«, sagte sie.
»Es besteht kein Anlass zu so viel Freundlichkeit«, grummelte die mürrische Frau. »Wir wissen ja nicht mal, ob wir ihn hierbehalten.«
»Stimmt«, sagte Carma, »ich sollte dir einfach die Wikipedia-Version unserer Mission erzählen.«
Carma setzte sich neben Nate und ratterte die Informationen herunter wie ein altgedienter Touristenführer, aber im Tonfall eines gelangweilten Protestlers. Sie wusste alles in- und auswendig.
»Der Große Pazifische Müllstrudel ist eine Verdichtung aus Plastikmüll im zentralen Nordpazifik. Die Fläche, die er einnimmt, ist etwa so groß wie die gesamten USA. Der Strudel besteht aus Kunststoffteilen und anderen Abfällen, die in den Meeresströmungen festhängen. Das meiste sind kleine Plastikpartikel, die direkt unter der Wasseroberfläche treiben, so dass man sie aus dem Flugzeug und per Satelit nicht erkennen kann. Entdeckt wurde der Müllstrudel 1997 von einem amerikanischen Ozeanographen, der zufällig darauf stieß. Anfangs schenkten die Medien der Entdeckung einige Aufmerksamkeit, aber da diese Gegend so weit entfernt ist von der öffentlichen Wahrnehmung, hat es niemand wirklich ernst genommen.«
»Außer wir«, warf die mürrische Frau ein.
»Genau«, sagte Carma. »Wir nehmen es sogar sehr ernst.« Sie fuhr fort: »Durch die verschiedenen Meeresströmungen wird Müll aus dem gesamten Nordpazifikraum, auch aus Japan und den USA, zusammengetrieben. Achtzig Prozent stammen vom Festland, der Rest von Schiffen.«
»Von Schiffen?«, fragte Nate, den die Sache trotz seines Gefangenenstatus zu interessieren begann.
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»Ja. Zum Beispiel wenn ein Container voller Plastikprodukte über Bord geht«, erklärte Carma.
Nate nickte und erinnerte sich an die teuflischen Plastikenten.
»Ein Kreuzfahrtschiff mit dreitausend Passagieren an Bord kippt jede Woche acht Tonnen Müll ins Meer. Die Meeresströmungen treiben ihn in rund fünf Jahren von Nordamerika hierher in den Pazifikwirbel, und der Müll aus Asien braucht nur ein Jahr oder weniger bis hierher. Das Plastik wird relativ schnell in sehr kleine Fetzen zerrissen und verwandelt sich in winzige Partikel, die von Meerestieren mit Plankton verwechselt werden und dadurch in die Nahrungskette gelangen. Einige der größeren Stücke enden in den Mägen von Meeresvögeln, Seeschildkröten, Quallen und Geschöpfen, die von größeren Fischen gefressen werden, die wiederum der Mensch verzehrt. Lecker, was?«
»Und wer ist für all das verantwortlich?«, fragte Nate.
»Alle und niemand. Die gesamte Menschheit. Und an dieser Stelle kommen wir ins Spiel.«
»Wer seid ihr?«
»Wir sind Studenten, Sozialarbeiter, Programmierer und, schlimmer noch, Rechtsanwälte.«
»Aber wir haben unsere früheren Berufe aufgegeben, um uns ganz dieser Sache zu verschreiben«, fügte die mürrische Frau hinzu.
»Wir filtern den Müll aus dem Meer«, erklärte Carma. »Wir sind sozusagen die Meeresmüllabfuhr.«
In dem Moment kam der hünenhafte Mann aus dem Iglu.
»Er sagt, wir sollen ihn einsperren, bis er für ihn bereit ist«, verkündete der Mann.
»Bis wer für mich bereit ist?«, fragte Nate.
Carma lächelte entschuldigend. »Doktor McNeil. Unser Anführer. Er entscheidet, was aus dir wird.«
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