20. Kapitel
Im Stadion
Lilli steuerte den Abschleppwagen zwischen den vielen Autos hindurch, die überall kreuz und quer auf den verlassenen Straßen standen; den meisten wich sie aus, andere rammte sie einfach zur Seite. Sie und Sandy fuhren am Stadtzentrum vorbei nach Süden und konnten, sobald sie die Wolkenkratzer hinter sich gelassen hatten, über das Industriegebiet hinweg zu den bereits überschwemmten Schiffswerften blicken. Die Fluten kamen durch die Straßen in die Innenstadt gekrochen und stiegen hinter dem Hafenviertel schon an den ersten hohen Gebäuden empor. Auch Seattles zwei Stadien konnten die Mädchen sehen.
»Da ist es, das Safeco-Field-Stadion.« Vom Beifahrersitz aus deutete Sandy nach vorn.
Während sie hinschauten, schossen riesige, laut knisternde blaue Lichtbögen zwischen den Trägern des ausfahrbaren Daches heraus.
Lilli warf Sandy einen furchtsamen Seitenblick zu. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir da wirklich reingehen sollen«, sagte sie. »Die Sache ist mir nicht geheuer.«
»Gefällt es dir nicht, ein Held zu sein?«, entgegnete Sandy.
Lilli schüttelte den Kopf. »Was der Bürgermeister gesagt hat, war eindeutig: Von den fünf Arbeitern, die sie reingeschickt haben, ist keiner zurückgekehrt.«
»Aber das waren keine Dämonenhüter«, sagte Sandy.
»Du bist auch keiner«, erwiderte Lilli.
Sandy runzelte die Stirn. »Es kann sein, dass die Arbeiter dringend Hilfe benötigen. Wir sehen uns dort einfach mal um. Hauptsache, wir sind verschwunden, ehe das Wasser kommt.«
»Ich kann ja auf dem Parkplatz warten, während du reingehst«, schlug Lilli vor.
»Dies ist die Gelegenheit, etwas wirklich Wichtiges zu leisten«, sagte Sandy. »Hier geht es um mehr als die Beseitigung von Müll oder Graffiti.« Sandy suchte Lillis Blick und sah sie durchdringend an.
Es fiel Lilli schwer, anderen Menschen ihre Hilfe zu verweigern, ganz gleich, in welche Gefahr sie sich dabei begab. Ihre Entscheidungen basierten nicht auf Logik. Ihr ganzes Leben bestand aus einer Aneinanderreihung impulsiver Entscheidungen. Wenn ihr etwas richtig vorkam, dann tat sie es eben. Graffiti einzusammeln erschien ihr richtig. Müll zu bekämpfen auch. Die Sache mit dem Stadium dagegen kam ihr weder richtig noch falsch vor… es war einfach etwas Unbekanntes. Und das Unbekannte war furchteinflößend. Sie verlangsamte den Abschleppwagen, als sie die Einfahrt zum Stadionparkplatz erreichten.
»Wie entscheidest du dich?«, fragte Sandy. »Ich gehe nur rein, wenn du mitkommst.«
Lilli atmete tief durch. »Na gut, ich begleite dich. Aber nur kurz, okay?«
Lilli und Sandy gingen auf das Stadion zu, blickten mit großen Augen um sich. Dann schauten sie durch das Eingangstor und… sahen nichts. Sie betraten das Stadiongelände. Wenig später entdeckten sie die ersten beiden bewusstlosen Arbeiter, die sich noch am Metallgeländer des Aufgangs zum zweiten Rang festhielten. Anschließend debattierten Lilli und Sandy, ob sie nun wieder kehrtmachen sollten, wobei Lilli diejenige war, die sofort gehen wollte. Aber was auch immer den Arbeitern das Bewusstsein geraubt hatte, war nicht mehr in der Nähe des Aufgangs, deshalb konnte Sandy Lilli überreden, sich noch ein bisschen umzuschauen.
Die drei anderen Arbeiter lagen auf dem zweiten Rang. Für Lilli sah es so aus, als hätten auch sie sich davor ans Treppengeländer gelehnt. Zwei von ihnen zeigten noch mit erstarrten Armen in die Luft. Ihre erschlafften Körper lagen mitten auf dem umlaufenden Gang.
»Mein Gott«, sagte Sandy leise.
»Wir müssen sofort verschwinden«, sagte Lilli zum dritten Mal.
»Aber was ist hier geschehen?«, fragte Sandy.
»Sieht so aus, als wären alle gleichzeitig umgekippt.«
»Sie haben aufs Spielfeld geblickt«, fügte Sandy hinzu.
»Aber derjenige, der sie ausgeknockt hat, war nicht dort unten.«
»Nein. Er oder es war überall«, sagte Sandy und überlegte angestrengt.
»Wie kann es denn überall gewesen sein?«
»Nicht das Geländer anfassen!«, rief Sandy unvermittelt und packte Lilli bei den Schultern, dann deutete sie auf die blauen Funken auf dem Metalldach. »Unser kleiner Sparky ist erwachsen geworden.«
Lilli kannte den kleinen Kerl. Sparky, der dämonische Funke. Er manifestierte sich mitten im Haus als schwacher Stromschlag oder blitzte durch Steckdosen und Lichtschalter. Er war nie besonders gefährlich gewesen. Nun aber, da er ungehindert durch die Stadt hatte ziehen können, war er groß und tödlich geworden. In der massiven Metallkonstruktion des Stadions hatte er ein Zuhause gefunden, wo er seine Kraft ins Unermessliche steigern konnte.
»Die Arbeiter haben einen Stromschlag bekommen«, sagte Sandy. »Sie müssen hinausgetragen und wiederbelebt werden.«
»Die armen Burschen haben Glück, dass sie noch am Leben sind«, murmelte Lilli.
»Unsere Aufgabe hier ist simpel«, erklärte Sandy.
»Wir verschwinden?«, sagte Lilli hoffnungsvoll.
»Ja. Und wir schicken Sanitäter her. Wir müssen ihnen nur einschärfen, auf keinen Fall die Geländer oder andere Metallteile zu berühren.«
Dem hatte Lilli nichts hinzuzufügen. Die Mädchen gingen zum Ausgang, wandten sich zur Treppe um und blickten aus dem Stadion. Was sie dort sahen, ließ Lilli erschrocken aufkeuchen, und diesmal tat Sandy es ihr nach.
Hohe Wellen schwappten an die Stadionmauer und krochen bereits den Aufgang hoch. Die Straßen der Stadt waren verschwunden, überspült von den heranrückenden Wassermassen. Die Wolkenkratzer nördlich des Stadions waren noch zu erkennen, aber nur als Ansammlung hoher, rechteckiger Inseln inmitten der sich ausbreitenden Fluten. Das Seattle, das darunter lag, war verschwunden, der Abschleppwagen auch.
»Wir sitzen in der Falle!«, rief Lilli.
Das Wasser stieg vor ihren Augen. Es kam aus allen Richtungen auf sie zu, umspülte das Stadion, suchte nach Eingängen.
»Es kommt her«, sagte Sandy. »Rein ins Stadion.«
»Das ist der Plansch«, sagte Lilli. Sie mutmaßte nicht und war auch nicht paranoid. Sie konnte den Dämon spüren.
Sandy stöhnte. »Hat er es auf uns abgesehen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht.«
»Wenn, dann ist er hinter dir her. Ich bin ja nicht diejenige, die ihm eins ausgewischt hat.«
»Ich glaube nicht, dass der Ozean in solchen Kategorien denkt«, murmelte Lilli.
»Lass uns zum höchsten Punkt gehen.«
Sie wandten sich um, eilten zu den bewusstlosen Arbeitern zurück und begannen, sie über die Betonstufen zur höchstgelegenen Sitzreihe zu schleifen. Lilli starrte auf die überflutete Stadt, wollte sich gerade an eine Metallabsperrung lehnen. Sandy packte ihr T-Shirt und riss sie zurück.
»Was tust du?«, beschwerte sich Lilli.
»Schau her«, entgegnete Sandy. Sie zog eine Büroklammer aus der Tasche. »Geh ein Stück zurück.«
Sandy schnippte die Büroklammer an die Absperrung, und sogleich blitzte ein helles blaues Licht auf. Die Büroklammer tanzte in der Luft, dann fiel sie geschwärzt und qualmend zu Boden.
Lilli traute ihren Augen nicht. »Sparky! Du kleiner Mistkerl! «
»Siehst du«, sagte Sandy. »Genau das hatte ich vermutet. Er steckt hier im Metall drin, und er ist auch nicht mehr klein. Er ist tausendmal größer als an dem Tag, als er meinen Laptop durchschmoren ließ. Er hat den Arbeitern einen Stromschlag versetzt, als sie sich ans Geländer gelehnt haben. Vermutlich haben sie nicht damit gerechnet, dass das Problem, das sie untersuchten, im Stadion selbst drinsteckt.«
Lilli blickte um sich. Die Metallgeländer verliefen kilometerweit durchs gesamte Stadion. Zehntausende von Sitzen hatten Metallbeine. Und das riesige ausfahrbare Metalldach, das im Moment das halbe Spielfeld verdeckte, bot dem elektrischen Dämon zahllose Fluchtwege und Rückzugsorte. Sie sah ihn nun ganz deutlich – ein bläuliches Glühen, das durch die Metallteile des Stadions strömte.
»Schau!«, sagte Sandy.
Der Plansch war hereingelangt. Er hatte das Spielfeld überflutet und die unterste Sitzreihe erreicht.
An den Stellen, wo das Wasser die Metallbeine der Sitze umspülte, eruptierte eine gewaltige Funkenexplosion.
»Woah!«, riefen beide Mädchen wie aus einem Mund.
Das blaue Glühen zog sich schnell aus der untersten Sitzreihe zurück und sprang zur nächsten Reihe über. Der Plansch folgte ihm, stieg zur zweiten Sitzreihe an. Sparky kreiste nervös durch das Stadion, raste durch die Geländer und sprang von Sitz zu Sitz.
»Sie sind aufeinandergeprallt!«, rief Sandy.
»Sie kämpfen gegeneinander«, verbesserte sie Lilli.
Sandy nickte.
»Der Plansch ist nicht hinter mir her«, fuhr Lilli fort. »Er hat es auf Sparky abgesehen.«
»Elektrizität… natürlich! Sie ist auch eine Art Element. Sie bekämpfen sich…«
Die Mädchen beobachteten, wie der Plansch im ersten Rang hin und her wogte, während sie die Arbeiter schnell zum zweiten Rang hinaufschleiften. Sparky war außer Reichweite, aber das Wasser stieg weiter. Die Trainerbänke waren längst überspült, die Fangzäune verschwunden. Bald erreichte der Plansch die zwanzigste Sitzreihe und riss die fahrbaren Verkaufsstände um, die nun zur Mitte des überspülten Spielfelds hinaustrieben.
»Der Plansch ist der Stärkere«, sagte Sandy und half Lilli, den letzten Arbeiter zur höchsten sicheren Stelle hinaufzuschleppen, die sie finden konnten. »Er könnte Sparky ertränken und ihn vollständig entladen.«
Der elektrische Dämon setzte seinen Rückzug in den höheren Stadionbereich fort, aber der Plansch ließ nicht locker, stieg unvermindert an. Trotzdem würde es noch eine Weile dauern, bis er den zweiten Rang erreichte. Erschöpft blickte Lilli auf das Knäuel verrenkter Leiber hinab, die sie auf den Betonstufen aufgestapelt hatten. Die Arbeiter atmeten, waren aber weiterhin bewusstlos.
»Was sollen wir mit ihnen tun?«
»Wir können nichts mehr tun«, sagte Sandy.
»Vielleicht lässt der Plansch uns ja gehen, falls er Sparky erwischt«, sagte Lilli hoffnungsvoll.
In dem Moment schlug draußen eine Riesenwelle an die Stadionmauer und erschütterte es in seinen Grundfesten.
»Wohl kaum«, sagte Sandy.
Plötzlich schoss ein weißer Blitz aus den Dachträgern in die wogenden Wassermassen hinab, gefolgt von einem donnernden Bumm.
»Hey, Sparky schlägt zurück!«, rief Lilli.
»Er kann nicht gewinnen«, sagte Sandy.
»Wie lautet also unser Plan?«, fragte Lilli. Die beiden Mädchen sahen sich an. Das Wasser schwappte in den umlaufenden Gang oberhalb des ersten Ranges, spülte Hot-Dog-Brötchen und Fanartikel der Mariners fort; in wenigen Sekunden würde es den zweiten Rang erreichen.
»Wir haben keinen Plan«, gestand Sandy. »Was ist mit Zoot?«
»Er hasst Wasser. Es verdünnt ihn. Er wird nicht aus der Knobelbox rauskommen.«
Ein weiterer Blitz fuhr aus den Dachträgern ins Wasser hinab, gefolgt von einem weiteren ohrenbetäubenden Bumm.
»Dann bleibt noch Flappy«, sagte Sandy.
Lilli schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal hatten wir Glück. Er befand sich innerhalb der Grenzen das Fährdecks. Falls wir ihn hier im Freien herausließen, würde ihn nichts daran hindern, zu gewaltiger Größe anzuwachsen und davonzuwehen, um noch größeren Schaden anzurichten. Er wird einfach zu wild, und zwei Naturgewalten auf einmal sind schlimmer als eine einzige.«
»Du bist doch eine Dämonenhüterin. Kannst du ihm nicht befehlen, was er tun soll?«
»Er ist Nates Gehilfe, nicht meiner. Es gibt keine Garantie, dass er tut, was ich sage. Außerdem befinden sich hier bereits zwei Elemente im Krieg, Wasser und Elektrizität. Falls man noch ein drittes hinzufügte, wären die Folgen unabsehbar.« Lilli knabberte an ihren Fingernägeln und schaute nervös um sich.
»Na ja, wir können auch einfach warten, bis wir ertrinken«, entgegnete Sandy. »Falls uns vorher kein Stromstoß tötet. Kann es wirklich noch schlimmer werden?« Sandy zog die Knobelbox aus ihrem Rucksack und begann am Deckel herumzufummeln.
»Warte«, sagte Lilli.
»Wir haben keine andere Wahl!«
»Gib her!« Lilli griff nach dem Kästchen und stieß es Sandy dabei aus den Händen. Es fiel auf die Betonstufen, und die beiden krochen darauf zu.
»Nichts aus Metall berühren!«, rief Sandy, während die Knobelbox an die Absperrung rutschte.
Ein scharfes Knistern durchschnitt die Luft. Die Mädchen hörten auf, miteinander zu ringen, und blickten auf. Die Absperrung glühte einen Moment lang blau, dann wurde die metallene Knobelbox in einem sprühenden Funkenregen zurückgeschleudert.
»Zoot!«, rief Lilli.
Sie packte das geschwärzte Kästchen, aber es war zu heiß. Sie ließ es los, und es fiel die Stufen hinunter ins Wasser, das inzwischen bis zum dritten Rang stand. Als es so unvermittelt mit dem kühlen Nass in Berührung kam, wurde die glühende Oberfläche der Knobelbox brüchig und brach dann auf.
Vom gewaltigen Druck in der Box zusammengequetscht, schnellte Flappy in einer Wasserexplosion heraus. Jetzt löste der Plansch seine Aufmerksamkeit von Sparky und schickte dem Winddämon eine brodelnde Fontäne hinterher, aber Flappy schlug wie verrückt mit den Flügeln und stieg schnell auf, breitete sich aus. Sobald er groß und hoch genug war, fuhr er herum und zerlegte den Wasserturm hinter ihm mit einer Folge teuflischer Windstöße.
Der Plansch schwappte wütend zurück.
Auf der anderen Spielfeldseite fluteten die Wassermassen über die niedrigere Stadionmauer und verbanden das überschwemmte Seattle draußen mit den ansteigenden Fluten im Innern.
Lilli rannte die Stufen hinunter und griff ins Wasser, um die Knobelbox herauszufischen. Der Plansch umspülte eiskalt ihre Haut. Es war eigenartig, in den riesigen Dämon hineinzufassen. Er fühlte sich nicht so wild oder ungezähmt an, wie sie erwartet hätte. Er war kühl und teilnahmslos, ja fast beruhigend und einladend, während er sich an ihren Ellbogen und Schienbeinen rieb wie ein gigantischer Hund. Sie tastete nach der Knobelbox, langte immer tiefer ins Wasser. Als sie sie zu fassen bekam, stand sie bis zu den Knien in den Fluten, den ganzen Arm im Wasser.
Die Welle schwappte lautlos von der Seite heran und spülte sie mühelos von den Stufen, so wie das Meer Treibgut vom Strand spült. Und plötzlich schwamm Lilli um ihr Leben.
Mit einer Hand umfasste sie die Knobelbox und versuchte sich mit der anderen über Wasser zu halten, während die Strömung sie an den Sitzreihen vorbei zur Stadionmitte trieb. Um sie herum zuckten Blitze, und der nachfolgende Donner übertönte ihre Hilferufe.