3. Kapitel
Farbenspiele
Sandy schob Lilli auf die Veranda hinaus und zog Richie am Arm hinter sich her.
Lilli blieb auf dem Rasen stehen, erstarrt wegen der heulenden Sirenen und kreisenden Blaulichter am Fuße ihres sicheren Wohnorts oben auf dem Queen-Anne-Hügel.
»Kommt wenigstens mit zur Bibliothek«, drängte Sandy. »Dort werden Bücher vernichtet.«
»Wen kümmert’s?«, sagte Richie.
»Mich! Hör zu, wenn du mir hilfst, diesen einen Dämon einzufangen, stehe ich für immer in deiner Schuld.«
»Wäschst du dafür einen Monat lang meine Wäsche?«
Sandy verdrehte die Augen. »Meinetwegen, ja.«
»Na schön«, gab Richie nach. »Wie gefährlich kann ein Bücher fressendes Monster schon sein?«
»Ein Wesen, das Gedanken auslöscht?«, gab Lilli zu bedenken. »Womöglich ist es der gefährlichste Dämon von allen.«
»Ach was, bestimmt nicht«, sagte Sandy. »Und es ist nur ein paar Straßen entfernt.«
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»Hey, Kinder, was habt ihr hier draußen zu suchen? Es ist lebensgefährlich!«, ertönte eine alte schnaufende Männerstimme.
Die drei wandten sich um und erblickten Mr. Neebor, der über einen Wellblechzaun lugte, den er um sein gesamtes Grundstück gestellt hatte, so dass der eigentlich hübsche Bungalow nun wie eine Militäranlage aussah. Nur Mr. Neebors kahler Schädel und seine hin und her wandernden, argwöhnisch blickenden Augen waren zu sehen.
»Was haben Sie mit Ihrem schönen Garten angestellt?«, entfuhr es Sandy.
»Ich habe ihn gesichert«, antwortete der Alte, als wäre ihre Frage ziemlich dumm. »Dort draußen sind sonderbare Dinge im Gange, falls ihr es noch nicht bemerkt habt. Unheimliche Dinge, beängstigende Dinge. Wesen, die man erst bemerkt, wenn sie einem schon im Nacken sitzen. Und wenn man darauf nicht vorbereitet ist …« Neebor machte eine Geste, als würde er sich die Kehle durchschneiden, worauf die drei zusammenzuckten.
»Wir müssen hinunter in die Stadt«, sagte Sandy. »Meine Arbeitstelle in der Bibliothek hängt davon ab.«
Neebor schob den ganzen Kopf über den Zaun, so dass sie sahen, wie sein missbilligender Blick sich vertiefte. »Ihr habt doch nicht einmal ein Auto«, sagte er.
Das stimmte. Lillis VW-Käfer war bei dem Zusammenprall mit dem Dämonenfresser zerstört worden. Nate besaß kein Auto. Und Sandys Volvo stand vor dem Haus ihrer Eltern, in einem Viertel, in dem es so viel Verkehr gab, dass man mit einem öffentlichen Bus schneller vorankam als im Privatwagen.
»Ich warne euch, auf den Straßen ist es nicht sicher.« Neebor setzte einen Soldatenhelm auf. »Bleibt besser hier.«
»Finde ich auch«, sagte Lilli.
»Wir gehen!«, rief Sandy und packte die Handgelenke ihrer Freundin. »Ich habe die beiden bereits überredet, und von dem bisschen Chaos da unten lassen wir uns nicht einschüchtern und in Einsiedler verwandeln.«
»Ich bin kein Einsiedler«, brummte Neebor. Dann huschte ein trauriger Ausdruck über sein Gesicht. »Oder doch?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Sandy hastig. »So habe ich es nicht gemeint.«
»Gut gemacht, Superhirn«, flüsterte Richie. »Den alten Mann mal schnell zu beleidigen …«
»Das mit dem Auto ist ein gutes Argument, Mr. Neebor«, sagte Sandy sanft. »Ich wünschte, wir hättens eins, aber leider ist dem nicht so.«
»Nehmt doch meins«, sagte Neebor.
Die drei starrten den Alten verblüfft an.
»Wirklich?«, fragte Lilli. »Sie würden uns Ihren Chevy leihen?«
»Was? Nein! Den würde ich nie hergeben, er ist mein ganzer Stolz. Ihr könnt meinen Ersatzwagen nehmen«, erklärte Neebor. »Er steht in der Garage, und ihr scheint ihn dringend zu brauchen.«
Er wandte sich zur Garage um. Nachdem sie sich achselzuckend angesehen hatten, folgten ihm Lilli, Sandy und Richie. Sie standen nebeneinander, während der Alte das Garagentor nach oben schob.
»Ich hatte geahnt, dass Sie ein weiches Herz haben«, sagte Sandy.
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»Mag sein, aber erzähl es nicht herum«, murmelte Neebor. »Ihr könnt ihn haben, aber bringt ihn mir in einem Stück zurück, ja?«
Das Tor rollte nach oben, und die drei ließen enttäuscht die Schultern hängen. Es war ein uralter, komplett rosafarben lackierter Abschleppwagen mit einer riesigen Fußskulptur auf dem Führerhaus. An der Seite stand der Schriftzug Lincoln’s Toe Truck.
Sandy stammelte: »Er ist … er ist…«
»Ein Klassiker«, sagte Neebor zärtlich. »Ich weiß.«
»Was für eine Schrottkarre«, murmelte Richie.
»Er sieht toll aus«, rief Lilli. »Ich finde ihn herrlich.«
»Und die Farbe erst«, fuhr Richie fort. »Ich lass mich in der Öffentlichkeit doch nicht in einem rosa Laster sehen. Er schaut aus wie aus dem Barbie-Katalog von anno dazumal.«
Zoot lugte aus dem Muster auf Lillis Rock hervor und versetzte Richie einen Hieb mit seiner rosafarbenen Faust. Richie fuhr herum und trat Lilli in den Allerwertesten, wo er ihren kleinen Hilfsdämon zu erkennen glaubte.
»Aua!«, rief Lilli.
»Alles in Ordnung?«, fragte Neebor.
»Ja, alles in Ordnung«, sagte Sandy. »Achten Sie nicht auf die beiden. Wir nehmen den Wagen. Vielen Dank.«
Kurz darauf saßen die drei im Führerhaus, Lilli hinterm Lenkrad. Sie fuhr, weil ihr Käfer einen langen Schalthebel gehabt hatte, genau wie Neebors Abschleppwagen. Außerdem wussten sie und Richie, das Sandy grauenvoll Auto fuhr, auch wenn sie es nicht offen aussprachen.
Sie ließen Neebor zusammengekauert hinter seiner Metallbarrikade zurück. Er schlug ihre Einladung, sie zu begleiten, aus, und Lilli hoffte, dass die Rostdämonen, die sie nahebei lauern sah, ihn in Ruhe lassen würden, solange sie unterwegs waren.
Die meisten der normalerweise gut besuchten Geschäfte in Belltown, das zwischen dem Queen-Anne-Hügel und der Innenstadt lag, waren an diesem Tag geschlossen oder hatten gänzlich dichtgemacht. Lilli kam sich vor wie in einem Kampfgebiet. Die Straßen waren leergefegt. Niemand war zu sehen… zumindest fast niemand.
Lilli, Richie und Sandy fuhren in dem rosafarbenen Abschleppwagen die Straße hinunter.
»Das ist so bescheuert«, meckerte Richie, kurbelte das Fenster herunter und schob den Kopf hinaus.
»Lass das lieber«, warnte ihn Sandy. »Ich habe gehört, dass Gangs und Durchgedrehte auf vorbeifahrende Autos schießen.« Sandy saß zusammengekauert in der Mitte der Sitzbank, drehte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück, hielt nach Gefahren Ausschau.
»Ja, du kleiner Trottel«, sagte Lilli. »Rein mit dir.« Mit der freien Hand packte sie Richies T-Shirt und zog ihn vom Fenster zurück. »Hier drin ist es sicherer. Der Wagen ist ein Panzer.«
Es stimmte. Unter seiner rosafarbenen Lackierung war der Abschleppwagen ein metallener Koloss, dem man so schnell nichts anhaben konnte. Richie wollte den Wagen sogleich in DJF umbenennen – Dämonenjägerfahrzeug.
»Ich glaube, das ist der schönste Abschleppwagen, den es je gegeben hat«, sagte Lilli und strich über das alte Armaturenbrett. »Er hat Persönlichkeit.«
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Richie schüttelte den Kopf. »Das Ding sieht aus, als hätte jemand aus rosa Knete einen Klumpfuß geformt und Räder drangehängt.«
Lilli beobachtete die leere Straße. Sie konnte viele der untergeordneten Dämonen erkennen, die überall aus den Gassen geflitzt kamen und an den Gebäuden entlanghuschten. Es erstaunte sie, dass so viele der Wesen in ein einziges Haus hineingepasst hatten. Selbst über die ganze Stadt verteilt wimmelte es nur so von ihnen. Aber es waren überwiegend die Kleinen und Ungefährlichen. Es waren die Hauptdämonen, die es aus der Welt der Menschen zu entfernen galt – Dämonen der ersten und zweiten Ebene. Lilli hatte sie nie kategorisiert, ehe sie Nate begegnet war, aber im Dämonenhüter-Kompendium standen ganz spezifische Angaben. Dämonen, die nur auf einen einzigen Sinn einwirkten, gehörten zur fünften Ebene, die auf zwei Sinne einwirkten zur vierten und so weiter bis hin zur ersten Ebene; diese Dämonen wirkten auf alle fünf Sinne des Menschen. Wahrscheinlich gab es noch andere, die den Sinnen innewohnten, die der Mensch nicht verwendete, Zeit zum Beispiel – Menschen lebten nur in der Gegenwart, während ein Zeitdämon sich theoretisch in der Erdgeschichte hin und her bewegen konnte. Sandy hatte ihr diese Theorie erklärt. Sie hatte das Kompendium regelrecht verschlungen, nur wenig gebremst durch die langwierigen Übersetzungsarbeiten, die nötig waren, um all die verschiedenen Sprachen in dem Buch zu enträtseln. Es war eines der nützlicheren Dinge, die ihre pedantische Freundin zur Dämonenhütersache beitrug, obwohl sie selbst kein Hüter war.
Der Abschleppwagen hielt mitten im Herzen des Belltown-Viertels an, und die drei starrten aus dem Fenster.
Alles war mit Graffiti bedeckt. Es war kein schöner Anblick. Keine leuchtenden Sonnen oder freudig grinsenden Gesichter. Stattdessen verunstalteten hässliche Schmierereien die Fassaden – hastig hingesprühte Spitznamen und Symbole der Leute, die diese Gemäuer für sich beanspruchten. Einige der Namen waren mit unheilvollen roten Linien durchgestrichen, und es gab Botschaften, die das Gebiet als Territorium verschiedener Gangs auswiesen. Sprüche, die Eindringlinge vor dem sicheren Tod warnten, vervollständigten das furchteinflößende Bild.
»Jemand sollte diese Schmierereien entfernen«, sagte Sandy und verzog angewidert das Gesicht.
»Sieh mich nicht so an«, entgegnete Richie. »Ich schrubbe keine Wände. Ich hab nur eingewilligt, bei der Bibliothekssache zu helfen. Außerdem sieht’s so aus, als wären die letzten Leute, die sich an den Graffiti zu schaffen gemacht haben, durchgestrichen worden.«
Lilli runzelte die Stirn. »Kaum zu glauben, dass Menschen mit so unschuldigen Farben ein so hässliches Karma erzeugen.« Sie öffnete die Tür, um auszusteigen.
»Was hast du vor?«, fragte Richie.
»Ich meine, es ist doch nicht die Schuld der Farben«, fügte Lilli hinzu.
Sandy und Richie eilten ihr nach und hielten in alle Richtungen Ausschau nach Hinweisen auf Gefahr, während Lilli die Hausmauern anblickte.
»Das meiste ist reiner Vandalismus«, sagte sie. »Aber selbst inmitten dieses Chaos steckt einige Schönheit.«
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Sandy stand in der Nähe des Sicherheit verheißenden Abschleppwagens. »Tatsächlich? Ich sehe keine.«
»Zoot, bist du da?«, rief Lilli.
Zoot nahm aus seiner Verkleidung als Rundschwanz-Seekuh auf Lillis Schulter eine dreidimensionale Gestalt an und rutschte an ihrem Arm entlang zu Boden. Er trat vor und verschmolz mit einer Ziegelsteinmauer voller Graffiti. Lilli bemerkte, dass Sandy Zoot sogar außerhalb des Hauses erkennen konnte. Es stimmte, dass ihre Freundin kein Hüter war und nicht die Fähigkeit besaß, Geschöpfe des Chaos in der geordneten Welt der Menschen zu erkennen. Aber die Dämonen wurden kühn, seit sie die Stadt übernommen hatten. Sie begannen sich zu zeigen, sogar Zoot.
»Schaut her«, sagte Lilli.
Sie wedelte mit der Hand, und Zoot begann, in zweidimensionaler Gestalt in den Graffiti herumzuschwimmen, auf der Suche nach kunstvollen Bildern. Bald erhellten sich bestimmte Stellen zwischen dem Gekritzel und Geschmiere. Sobald er auf ein verborgenes Kunstwerk stieß, breitete es sich aus, drang an die Oberfläche und überdeckte die Amateur-Schmierereien.
»Wow! Abgefahren!, rief Richie etwas zu laut. Seine Stimme schallte durch die leeren Straßen und hinein in Belltowns düstere Gassen.
Lilli bedeutete den von Zoot entdeckten Kunstwerken, zu ihr zu kommen, und sie gehorchten. Die schönen Bilder, die eben noch in dem hässlichen Durcheinander vergraben gewesen waren, glitten zur Mauerkante hinab und flossen dann über den Asphalt wie ein Schwarm hell leuchtender Mantarochen. Ihr intensiver chemischer Geruch erfüllte die Luft. Zoot watschelte neben ihnen her und lenkte sie auf Lilli zu wie ein Hund, der eine Schafherde vor sich hertreibt. Lilli ließ ihre geblümte Schultertasche am Arm hinabgleiten und hielt sie auf. Die Spray-Gemälde, Tintenzeichnungen und Kreidebilder strömten hinein.
»Gut gemacht, Zoot«, sagte sie. »Ausgezeichnet.« Sie wandte sich an Sandy und Richie. »Ich könnte die Bilder auch selbst von der Wand abziehen, aber Zoot braucht Bewegung, und er liebt es, sie zusammenzutreiben.«
Sandy betrachtete die Stellen, wo eben noch die Kunstwerke gehangen hatten. Nun waren es nur leere Flächen auf der Mauer. »Mensch! Du hast binnen Sekunden eine Menge Zeug entsorgt.«
Lilli klopfte auf ihre Tasche. »Ich habe nichts entsorgt. Ich habe Kunstwerke gerettet, die es wert sind, gerettet zu werden. «
»Und was ist mit dem Rest?«, fragte Sandy.
»Dranlassen«, sagte Richie. »Sind doch bloß irgendwelche Farbkleckse. Sie sind nichts. Und den Typen, die sie hinsprühen, würde es wahrscheinlich nicht gefallen, wenn wir uns daran vergreifen.«
»Moment mal!«, echauffierte sich Sandy. »Wir sollten auch den Müll von der Mauer runterholen, nicht nur eine Kunstsammlung starten. Wenn eine einzige Schmiererei dranbleibt, werden weitere folgen. Die Menschen werden sich nicht mehr in diese Gegend trauen, wenn es hier weiterhin wie in einem Kriegsgebiet aussieht.«
»Ja, Menschen wie ich. Die da würde ich auf keinen Fall anrühren.« Er deutete auf eine Reihe identischer Buchstabenfolgen.
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»Genau. Das sind Gangkürzel«, erklärte Lilli.
»Stimmt«, sagte Richie. »Du siehst doch all die durchgestrichenen Namen. Es bedeutet, dass eine Menge Leute dafür gebüßt haben, auf diese Mauer zu schreiben, die schon jemand anderem gehört.«
»Genau das ist das Problem«, sagte Sandy. »Wenn man dem kriminellen Kodex nachgibt, überlässt man den Kriminellen das Feld. Lilli, würdest du die Buchstaben bitte herunternehmen?«
»Hast du nicht gehört, was der Junge sagt?«, rief eine raue Stimme in der Nähe.
Lilli, Sandy und Richie fuhren herum und sahen zwei dunkle Gestalten aus dem eingeschlagenen Schaufenster einer Ladenfront steigen. Der eine war rund wie ein Apfel, der andere spindeldürr. Beide waren jung und trugen Kapuzensweatshirts und Baseballkappen mit einem X vorne drauf. Sie kamen gegenüber vom Abschleppwagen auf die Straße. Ihr schlurfender Gang war eigenartig und ihre Klamotten so ausgebeult, dass darunter locker ein ganzes Waffenarsenal stecken könnte.
»Scheiße«, zischte Richie. »Gangmitglieder.«
Der fette Bursche krümmte seine knubbeligen Finger in drei Richtungen, machte ein Handzeichen, dessen Bedeutung Lilli nicht kannte. Er zeigte damit direkt auf sie. »Bist du hier, um dich zu unterwerfen, Puppe?«
»Wir haben keine Lust auf irgendwelchen Ärger, Mann«, mischte Richie sich ein.
»Ja, wir sind bloß vom Gemeinnützigen Reinigungsdienst«, sagte Sandy. »Mit, äh… Unterwerfen haben wir nichts am Hut.«
»Wir waren nur an einigen wenigen Kunstwerken interessiert«, sagte Lilli vorsichtig. »Den Rest haben wir nicht angerührt, deshalb braucht ihr uns auch nicht anrühren.«
Hinter den beiden Gangmitgliedern holte Zoot seinen Dreizack heraus und begann, die Buchstaben an der Hauswand zu übersprühen. Richie zuckte zusammen.
Der Fettwanst wandte sich zu Richie. »Was ist dein Problem, Furzbacke?«
Der Dünne tippte seinem Kollegen auf die Schulter. »Guck mal, Dickie.«
Dickie wandte sich um und sah, dass ihr Kürzel in leuchtendem Rosa mit den Großbuchstaben GRD übersprüht worden war. Zoot war längst mit der Farbe verschmolzen, versteckte sich darin.
»GRD?«, las Dickie verdattert ab.
»Gemeinnütziger Reinigungsdienst«, sagte der Dünne. »Mann, das sind diese Arschgesichter hier!«
»Zoot!«, rief Lilli.
»Wie hast du mich genannt, Puppe?«, fragte Dickie, während ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg.
Als die Kerle zu Lilli herumfuhren, sprang Zoot aus den Farben heraus und setzte sein Werk fort. Sandy blickte auf. Lillis pinkfarbener Hilfsdämon hatte schnell die Wörter Verpisst euch angemalt.
»Du Idiot! Nein!«, rief Sandy.
Dickie funkelte Sandy an. »Jetzt nennst du mich auch einen Idioten, ja? Das war nicht klug von dir.«
Der Dünne schaute nach oben und sah das Verpisst euch. »Wie habt ihr das gemacht?«, wollte er wissen.
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»Ist doch egal«, sagte Dickie. »Die drei sind tot.« Er zog eine Spraydose heraus, während der Dünne Richie packte und festhielt. Dickie schüttelte die Dose kurz, dann sprühte er ihren Inhalt in Richies Gesicht. Richie krümmte sich schmerzerfüllt, rieb sich die Augen.
Lilli packte ihn und zog ihn von den Burschen fort, die nur lachend dastanden.
»Glaubt ihr, einen Dreizehnjährigen zu drangsalieren macht euch zu starken Männern?«, brüllte Sandy.
»Komm«, raunte Lilli ihr zu. Sie nickte in Richtung des Abschleppwagens und nahm Sandys Arm. Sie hatten gute Chancen, den Wagen zu erreichen. Aber Sandy setzte ihre Schimpftirade fort.
»Damit könnt ihr vor euren Kollegen prahlen, was?«, zeterte sie. »›Wir haben ein dreizehnjähriges Kind fertiggemacht. Echt cool.‹«
Lilli wich zum Abschleppwagen zurück, Richie im Arm, der noch immer nichts sehen konnte.
Sandy indes blieb stehen, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, plötzlich fuchsteufelswild. »Ihr seid keine Graffitikünstler. Ihr seid Schmutzfinken, Typen ohne Talent, die ihr Territorium markieren, indem sie ihre bescheuerten Symbole an Hauswände sprühen. Ihr seid wie Hunde, die Feuerhydranten anpinkeln.«
»Sandy«, flüsterte Lilli. »Ich glaube nicht, dass es ratsam ist, die Typen zu beleidigen.«
Sandy ignorierte Lilli, um die beiden Rowdys im Blick zu behalten. Es war schon schlimm genug, sie alle zu bedrohen, aber dass die Kerle sich am Jüngsten von ihnen vergriffen hatten, fand sie feige und unverzeihlich.
»Das da ist euer Kürzel, stimmt’s, Fettwanst?«, rief sie Dickie zu. Sie deutete auf die drei riesigen Buchstaben – ZDS –, die Zoot mit einer kreischbunten Linie durchgestrichen hatte. »Steht das für Zu Dumm für Seattle?«
»Falsch,« knurrte Dickie. »Es bedeutet Zerstört Die Stadt.«
»Oh, wie furchteinflößend«, sagte Sandy. »Mir schlottern die Knie.«
Sandys Unterhaltung mit den Schlägern gab Lilli Zeit, Richie zum Abschleppwagen zu führen. Sie bugsierte ihn hinein, war bereit, die Tür zuzuschlagen.
»Komm rüber, Sandy«, flüsterte Lilli. »Steig ein!«
Die Gangmitglieder traten auf Sandy zu, aber sie wich nicht zurück.
Lilli merkte überrascht, dass sie wütend auf Sandy und gleichzeitig wütend auf die Rowdys war. Es war ein verwirrendes Gefühl. Sie mochte keine Auseinandersetzungen. Zeit ihres einsamen Lebens hatte sie immer das Beste aus allem gemacht, hatte versucht, positiv zu bleiben und sich aus allem herauszuhalten. Leben und leben lassen. Allerdings hatte sie früher auch ein paar Gefährten gehabt, die ihr Trost spendeten – die sonderbaren Geschöpfe, die sie in den unentdeckten Nischen und Winkeln der Stadt auflas. Aber dann hatte der Dämonenfresser ihre Gefährten verschlungen. Als sie Nate kennen gelernt hatte, einen Jungen, mit dem sie so vieles gemeinsam hatte, hatte er statt ihrer lieber die pedantische Assistenz-Bibliothekarin als Freundin gewählt. Dann war er verschwunden und hatte sie – Lilli – mit seiner Freundin und einem leichtsinnigen Jungen zurückgelassen, für den sie sich nun plötzlich verantwortlich fühlte. Und diesem Jungen hatten die Gangmitglieder wehgetan, und wie es aussah, würden sie auch Sandy etwas antun.
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Tja, Jungs, ihr habt euch leider den falschen Tag ausgesucht, um uns dreien über den Weg zu laufen, dachte Lilli, und dann tat sie etwas, was sie niemals für möglich gehalten hätte. Sie stellte sich zwischen Sandy und die beiden Rowdys.
»Wollt ihr mir auch Farbe ins Gesicht sprühen?«, fauchte sie. »Viel Glück.« Sie gab Zoot ein Zeichen, worauf der pinkfarbene Dämon zwischen den beiden Gangmitgliedern hindurchhuschte und in den Farben an der Wand verschwand.
»Klar doch«, sagte Dickie, griff in eine seiner ausgebeulten Hosentaschen und zog einen Holzpflock heraus. »Deinen kleinen Freund haben wir ja schon gekennzeichnet.« Er schlug den Holzpflock ein paarmal in die offene Hand. »Aber erst bekommt ihr beide eine Abreibung.«
»Auch wenn ihr Mädchen seid«, warf der Dünne ein.
»Dann ist Ritterlichkeit wohl ausgestorben, schätze ich«, murmelte Sandy Lilli zu.
»Hinterher kennzeichnen wir euch auch«, sagte Dickie. »Vielleicht mit einem großen X im Gesicht.«
Lilli deutete auf ihre Füße und hob dann die Hände, als würde sie etwas heraufbeschwören. »Wie wäre es, wenn ich zuerst euch kennzeichne?«
Vom Boden herauf verfärbten sich die Turnschuhe der beiden Rowdys pinkfarben, danach auch ihre ausgebeulten Hosen. Ohne dass sie es merkten, waren ihre unteren Körperhälften plötzlich komplett rosa.
Schließlich blickte Dickie an sich herab. »Was ’n hier los?«, entfuhr es ihm.
»Wie hat die Braut das gemacht?«, fragte der Dünne und versuchte sich die Farbe abzuklopfen. Sobald er seine Hose berührte, wurden auch seine Hände rosafarben.
»Scheiß drauf! Wir schnappen sie uns!« Dickie trat auf Lilli zu, rosa und rasend vor Wut. Nach einem Moment einfältiger Verwirrung folgte ihm der Dünne.
»Wir teilen uns auf!«, rief Lilli Sandy zu, fuhr herum und rannte in die nächstbeste Gasse, lockte die beiden Gangmitglieder fort vom Abschleppwagen und ihrer Freundin.
Die Rowdys ließen Sandy stehen und folgten Lilli. Aber sobald sie die enge Gasse betraten, veränderte Zoot die Farben ringsum, verrührte das trübe Sonnenlicht mit dem Rostrot der Ziegelsteinmauern. Lillis Verfolger verlangsamten ihre Schritte, sahen sich verwirrt um, aber dann begingen sie den Fehler, tiefer in die Gasse hineinzulaufen. Währenddessen kippte die Gasse plötzlich auf die Seite und stellte sich auf den Kopf, oder zumindest hatte es den Anschein. Die beiden Gangmitglieder rangen um ihr Gleichgewicht. Die Farben an den Hauswänden zerflossen zu einem rasenden, knallbunten Strudel.
»Was ’n jetzt los?«, fragte der Dünne.
»Mir wird schwindlig, das ist los«, sagte Dickie, dann geriet er ins Stolpern und rannte gegen eine Hauswand.
Sein dünner Kollege wollte die Flucht ergreifen, schaffte aber nur drei Schritte, ehe er auf Hände und Knie fiel und sich erbrach. Voller Entsetzen sah er, dass sein Erbrochenes hellrosa war, als hätte er eine ganze Flasche Pepto Bismol ausgespuckt.
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Lilli kam aus dem Farbstrudel zum Vorschein und baute sich über den Schlägern auf. Sie sah aus wie die getuschte Karikatur eines menschlichen Wesens, ihr Gesicht vage und verschwommen, ihre Kleidung wehende Flicken aus bunten Farben.
Ihr verwaschener Mund klappte sperrangelweit auf. »Verschwindet aus diesem Viertel«, befahl sie. »Und kommt nie mehr zurück.«
»Sonst was?«, fragte der Dünne, dessen dicker Kollege noch immer benommen neben ihm am Boden kauerte.
Lilli machte eine fließende Handbewegung. Die Farben wirbelten wieder im Kreis, diesmal ohne Zoots Zutun. Der Dünne übergab sich erneut, spuckte rosafarbenes Erbrochenes an eine Hauswand, die über einen Meter entfernt war.
»Ich glaube nicht, dass dein Magen sich für so was eignet«, sagte die Karikatur-Lilli.
Er rappelte sich auf und stolperte davon, ohne sich um seinen fetten Kompagnon zu kümmern, der sich gleichfalls erhob, seinem Freund hinterhertrottete und dabei mehrere Mülltonnen umstieß. Die beiden taumelten aus der Gasse auf die Straße hinaus und stoben davon, bis sie nur noch bewegte Punkte in der Ferne waren.
Lilli marschierte zur Straße zurück und deutete auf die hässlichen Graffiti, die zu Hunderten die Hausfassaden ringsum verunstalteten. Sie waren von Natur aus gemein und boshaft und sträubten sich mit aller Kraft, aber schließlich fielen sie von den Mauern ab und wurden durch Lillis Willen zu ihr herangezogen. Sie ging zu einer Mülltonne, nahm den Deckel ab, stieß die Tonne um und bedeutete den Graffiti, sich dort hineinzubegeben. Sie flossen über die Straße und hinein in die Mülltonne, ein steter Strom aus bunten Symbolen, Kürzeln, Warnungen und obszönen Sprüchen.
Sie wusste, dass sie Triumph und ein Gefühl der Macht hätte verspüren sollen – sie hatte nicht gewusst, dass sie mit ihren dämonischen Trickbildern Menschen in die Flucht schlagen konnte –, aber vor allem fühlte sie sich erleichtert, weil die Auseinandersetzung vorüber war. Sie merkte, dass sie sich vor lauter Nervosität fast selbst erbrechen musste.
Sandy starrte ungläubig aus dem Abschleppwagen. Auf einer Länge von drei Straßenblocks waren alle Fassaden blitzsauber.
»Was ist mit den Schmierereien geschehen?«
Lilli hob den Mülltonnendeckel. Drinnen brodelte ein Graffitigewirr aus Spraydosenfarbe, Tinte und Kreide.
»Ich glaube, um diesen Abfall kümmern wir uns am besten zu Hause.«
»Dann ist unsere Arbeit hier erledigt«, sagte Sandy erleichtert. »Aber es war viel gefährlicher, als ich dachte. Und wir sollten Richie saubermachen.«
Richie hatte immer noch Farbe in den Augen und kauerte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Beifahrersitz.
»Oh mein Gott!«, rief Lilli, die plötzlich Schuldgefühle hatte, weil sie ihren angeschlagenen jungen Partner völlig vergessen hatte. Sie eilte hinüber, um ihm die Farbe aus den Augen zu entfernen.
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