10. Kapitel
Im Tempel der Leseratten
Lilli fuhr den pinkfarbenen Abschleppwagen bergauf, während ihre angeschlagenen Passagiere sich von den Blessuren erholten, die sie sich bei der Jagd auf den Hämmernden Mann geholt hatten. Sandy schimpfte über die fehlenden Airbags im Wagen, und Richie schwor, dass er die dämonische Skulptur eingefangen hätte, wenn Sandy nicht über den mit Trümmern übersäten Gehsteig gefahren wäre.
Lilli schüttelte nur den Kopf. »Zwei lebensgefährliche Begegnungen, und wir haben noch nicht mal die Bibliothek erreicht. Was für eine blöde Idee. Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören und zu Hause bleiben sollen.«
»Wir sind fast da«, murmelte Sandy, die immer noch erschöpft auf dem Beifahrersitz kauerte. »Gleich da vorn.«
»Gott sei Dank«, grummelte Lilli. Dann bog sie um die Ecke, die Bibliothek erschien vor ihnen, und Lilli war sich nicht mehr sicher, ob sie Dank empfinden sollte.
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Die Seattle Public Library, Seattles öffentliche Bibliothek, nahm den gesamten Straßenzug ein und erhob sich vor ihnen wie ein gläserner Monolith, den ein Gewirr aus Stahlträgern durchzog. Der schimmernde rechtwinklige Bau spiegelte den bleigrauen Himmel aus einem Dutzend Richtungen wider, so dass das Gebäude noch zehnmal düsterer schien als dieser düstere Tag.
Richie blickte nach oben. »Sieht wie ein Raumschiff aus«, sagte er. Er kannte die Bibliothek von früheren Besuchen.
Lilli kannte sie nicht. »Sieht beeindruckend aus«, hauchte sie ehrfürchtig.
Als sie vor dem Eingang hielten, trat sofort ein Wachmann zu ihnen heran.
»Hier ist Parken verboten, und die Bibliothek hat wegen eines Notfalls geschlossen.«
»Ich arbeite hier«, erklärte Sandy.
»Heute nicht«, brummte der Mann.
Richie schob den Kopf aus dem Fenster. »Das ist eine offizielle Angelegenheit. Wir sind hier, um illegal abgestellte Autos abzuschleppen. Schauen Sie sich doch um.« Er deutete auf die unzähligen falsch geparkten Fahrzeuge vor der Bibliothek.
»Die standen schon dort, als ich kam«, sagte der Wachmann entschuldigend. »Ich hätte sie dort nicht parken lassen. «
»Natürlich nicht«, sagte Lilli. »Und wir hier kümmern uns um das Problem.« Sie klopfte auf das Armaturenbrett.
»Ihr seht aber furchtbar jung aus, um im Abschleppgeschäft zu arbeiten.«
»Die Firma gehört meinem Vater«, sagte Lilli. »Zeig ihm deinen Ausweis, Sandy.«
Sandy zog ihren Mitarbeiterausweis der Bibliothek heraus.
Der Wachmann hob die Brauen. »Na schön, ich wurde ja nur herbeordert, um niemanden reinzulassen. Irgendwas ist mit den Büchern im Gange.«
»Wir lassen den Wagen hier stehen und machen erst einmal eine Bestandsaufnahme der Autos rings um das Gebäude, ehe wir mit dem Abschleppen beginnen«, erklärte Lilli.
Der Wachmann runzelte die Stirn, winkte sie aber zu einem mit roten Verkehrshütchen gekennzeichneten Parkbereich vor dem Gebäude weiter und nahm dann wieder seinen Posten am Haupteingang ein.
»Ich lüge nicht gern«, sagte Sandy.
»Du hast ja nicht gelogen«, bemerkte Lilli. »Das haben wir besorgt.«
Richie grinste. »Ja, das besorgen am besten die Profis.«
Sandy nickte. »Okay. Mit meiner Magnetkarte müsste sich der Mitarbeitereingang öffnen lassen.«
Sie stiegen aus dem Abschleppwagen und gingen zu einem Nebeneingang. Sandy zog ihre Karte durch das Lesegerät, aber das Lämpchen blieb rot. Sie versuchte die Tür zu öffnen. Sie ließ sich keinen Millimeter bewegen.
»Hast du nicht gesagt, mit der Karte kommen wir rein?«, sagte Richie.
»Die Dämonen haben uns ausgesperrt«, stöhnte Sandy.
Lilli blickte an dem imposanten Gebäude nach oben. Die schimmernde Oberfläche spiegelte die ganze Welt wider, die sie umgab, doch hinter den Gemäuern verbargen sich dämonische Geheimnisse. »Vielleicht gibt es einen guten Grund dafür«, sagte sie nervös.
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»Wir müssen es eben herausfinden«, erklärte Sandy.
»Wir wissen ja nicht mal, womit wir es zu tun bekommen«, sagte Lilli.
»Schlimmer als ein riesiger Metallmann, der uns erschlagen will, kann es nicht werden«, sagte Richie. »Und du musst zugeben, du hast unseren Gegnern heute zweimal mächtig in den Hintern getreten. Du hast einen Lauf, Lilli.«
Lilli zog die Stirn in Falten. »Kennst du den Sinnspruch ›Höre auf, solange du gewinnst?‹«
»Dies ist der falsche Zeitpunkt, um kalte Füße zu bekommen«, sagte Sandy. »Wir haben uns schon bis hierher durchgekämpft. Und vergiss nicht, es geht um Bücher.«
»Bücher sind dein Ding, nicht meins.«
»Bücher sind jedermanns Ding!«, ereiferte sich Sandy.
Beide Mädchen sahen Richie Hilfe suchend an.
Mit einem Schulterzucken wandte er sich zu Lilli. »Hier muss ich Frau Superhirn leider zustimmen. Bücher sind eigentlich ganz cool.«
Lilli seufzte, gab sich geschlagen. »Hey, Zoot«, rief sie. »Kannst du uns weiterhelfen?«
Zoot tropfte aus Lillis Kleidern und bildete eine pinkfarbene Lache am Boden. Lilli deutete auf die versperrte Tür, und der verflüssigte Dämon glitt einfach darunter hindurch.
»Er bringt uns rein«, sagte Lilli. »Aber falls wir auf irgendetwas stoßen, das Schlimmeres vorhat, als uns Farbe ins Gesicht zu sprühen oder uns mit einem Riesenhammer zu Klump zu schlagen, dann steige ich in Neebors Wagen und fahre hoch nach Kanada.«
»Wenn du hilfst, die Bücher zu retten«, sprudelte es aus Sandy heraus, »werde ich dich nie wieder um einen Gefallen bitten, der mit Dämonen zusammenhängt, nie wieder.«
Lilli schnippte mit den Fingern, und Zoot nahm wieder seine feste Gestalt an, um von innen die Tür zu öffnen. Sie schwang auf.
Die menschenleere Bibliothek sah von innen mindestens so spektakulär aus wie von außen.
Der nüchterne offene Innenraum hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einer altmodischen Bücherei und ihren verstaubten Regalen. Sie war hochmodern, mit viel Glas und Metall und einem Mobiliar in Modulbauweise. Von überall strömte helles Tageslicht herein.
»Sieht alles ruhig aus«, stellte Richie fest. »Kein Geschrei, keine Zerstörungen, keine schmierigen Monster. Wo soll’s denn brennen?«
»Die Bücherspirale ist oben«, sagte Sandy.
»Bücherspirale?« Lilli hob eine Braue.
»Eine über vier Stockwerke gehende Säule aus ringförmig angeordneten Bücherregalen; sie beginnt im sechsten Stock. Dort werden die großen Literatur- und Sachbuchsammlungen aufbewahrt. Genau dort soll es die Probleme geben.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, heißt das, wir müssen wegen der abgeschalteten Fahrstühle und Rolltreppen zu Fuß in den sechsten Stock hoch«, beschwerte sich Richie. »Obwohl es keinen Hinweis auf Schwierigkeiten gibt.«
»Bist du sicher, dass du nicht einfach paranoid bist wegen deiner heißgeliebten Bücher, Sandy?«, fragte Lilli.
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»Schau, ich habe gehört, dass hier Bücher vernichtet werden. Deshalb haben die Dämonen die Menschen ausgesperrt. «
»Wie’s aussieht, ist dem aber nicht so«, sagte Richie und blickte durch den stillen, weitläufigen Innenraum. »Kein Vandalismus. Keine zertrümmerten Autos. Nicht mal ein zerrissenes Buch. Es gibt eine lange Liste von Dingen, die hier nicht geschehen sind. Hier drinnen ist niemand außer uns Dämonenjägern.«
Richie ging zum Auskunftsschalter.
Lilli schüttelte den Kopf. »Ich sage es nur ungern, aber ich muss dem Bengel beipflichten. Hier ist absolut nichts im Gange, tote Hose. Ich meine, wenn man es mit der Graffitigang oder dem Hämmernden Mann vergleicht, dann ist es…«
»Hey!«, rief Richie. Seine Stimme schallte durchs Erdgeschoss der Bibliothek. »Ich hab was entdeckt!«
Die Mädchen eilten zum Schalter, wo Lilli eine geduckte Kampfposition einnahm, bereit sich zu wehren oder zu fliehen.
»Was ist es?«, fragte Sandy atemlos.
Richie erhob sich hinter dem Schalter mit einem Skateboard in der Hand. »Das Fundbüro!«
Sandy verzog das Gesicht.
»Und seht euch die anderen coolen Sachen an«, sagte Richie und zeigte ihnen ein E-Book und ein Handy, auf dem er ein Zombie-Kampfspiel öffnete.
»Richie, wir sind hier, um Bücher zu retten, nicht um Zombies zu killen. Außerdem gehören dir die Sachen nicht.«
»Du klingst wie meine Mutter«, sagte Richie.
»Komm da raus«, befahl Sandy und winkte ihn hinter dem Schalter hervor. Richie verdrehte die Augen, sprang über den Tresen und schlenderte auf die unbewegte Rolltreppe zu.
»Das behalt ich aber, solange wir hier sind«, sagte er und klopfte liebevoll auf das Skateboard.
Lilli zuckte mit den Schultern und folgte den beiden.
Die drei stiegen die Rolltreppe hinauf, vorbei an neongelben Wänden und sonderbaren eiförmigen Kunstobjekten. Die Bibliothek war nicht gemütlich. Es roch sauber, fast steril, und der stählerne Fußboden und die klinisch weißen Wände ließen es wirken wie ein riesiges Laboratorium. Das kantige Mobilar verstärkte das Industrieflair noch, und Lilli fragte sich, wie man es sich auf einem harten kantigen Sofa bequem machen sollte, um in einen Roman reinzulesen.
»Ist es nicht herrlich hier?«, brach es aus Sandy heraus.
»Wenn du meinst«, entgegnete Lilli. »Jedenfalls ist es groß.«
Als sie den sechsten Stock erreichten, schlurfte Richie lautstark und hechelte vernehmlich.
»Schon gut, Richie«, sagte Sandy. »Ich habe es verstanden. «
»Was ist das?«, fragte Lilli.
Sie standen vor einer nach oben führenden Rampe, die sich um die zentrale Rolltreppe herumwand. Seitlich der Rampe gingen reihenweise Gänge mit Bücherregalen ab.
»Die Bücherspirale«, seufzte Sandy. »Alle Sachbücher befinden sich rings um die Spirale, so dass man wie auf einer Wendeltreppe durch die einzelnen Abteilungen nach oben gelangt.«
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»Da wird einem ja schwindlig«, sagte Richie.
Sie gingen an der Abteilung mit Regierungsdokumenten und Zeitungen vorbei.
»Hier scheint auch alles in Ordnung zu sein«, sagte Lilli.
»Deine Quelle muss dich falsch informiert haben«, fügte Richie hinzu.
Sandy räusperte sich gewichtig und trat an eines der Metallregale heran, blickte stirnrunzelnd den Gang hinunter. Schließlich zog sie eine Ausgabe des The Seattle Municipal Code heraus, Seattles Stadtordnung, und schlug das Buch auf.
Dann schrie sie.