1. Kapitel

Chaos in Seattle

Das alte Haus auf dem Queen-Anne-Hügel mit Blick auf Seattles Innenstadt trug noch die Narben von Nates Kampf gegen den gigantischen Dämonenfresser. Mit seinem wurmartigen Körper hatte das Ungetüm den Putz und das Lattenwerk von den Wänden geschlagen, und übrig geblieben waren nur ein paar kleine unversehrte Erhebungen hier und dort. Die Türen fehlten, waren aus den Angeln gerissen. Das eingeschlagene Dachbodenfenster, der aufgerissene Gehweg darunter und der zerpflügte Garten kündeten von den nach draußen geschwappten Gewalttätigkeiten. Das Haus sah aus wie für den Abriss vorbereitet. Aber es wohnten immer noch zwei Dämonenhüter darin.

Lilli rollte sich aus dem Bett, zog einen Sarong über die jugendlichen Hüften und streifte ein Batik-T-Shirt über, dann trat sie ans Fenster des Schlafzimmers im ersten Stock, das sie von Nate, der vor einigen Tagen verschwunden war, übernommen hatte.

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Sie vermisste ihn. Zwar hatte sie ihn kaum gekannt, aber sie kannte ja ohnehin kaum jemanden, weil sie immer nur wenige Monate an einem Ort blieb. Selbst während ihrer Jahre in San Francisco war sie immer auf dem Sprung gewesen, hatte in Wohnungen und Häusern von Bekannten geschlafen, die sie netterweise bei sich aufnahmen, solange sie ihnen keine Probleme bereitete. Das hatte sie gelehrt, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Ihre Freundschaften waren immer von begrenzter Dauer gewesen – die Art von Freundschaften, die einer plötzlichen, intensiven Verbindung entspringen oder die sich als peinliche Irrtümer erweisen. Sie war sich nicht sicher, in welche Kategorie Nate fiel, aber er war der einzige Dämonenhüter, dem sie bis dahin begegnet war. Genau genommen hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie eine Dämonenhüterin war, bis er es ihr erzählt hatte. Nicht dass sie sich um den Job gerissen hätte. Bis sie Nate begegnet war, hatte sie sich einfach nur für ein bisschen seltsam gehalten … oder verrückt.

Lilli zog die Vorhänge auf. Unten in Seattle tobte das Chaos. Autoalarme brüllten, und Sirenen heulten in einem misstönenden Duett. Es gab so viele Notfallgeräusche, dass sie praktisch keine Bedeutung mehr hatten.

Ist ja gut, dachte sie. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Wir wissen es ja.

Lilli schüttelte den Kopf. Es gab nichts, was Seattles Einwohner tun konnten, die armen Ahnungslosen. Sie wussten nicht, womit sie es zu tun hatten. Die Dämonen liefen frei herum und stellten alles auf den Kopf. Nate hatte eine über viele Jahrhunderte zusammengetragene Sammlung durchtriebener Plagegeister auf die Stadt losgelassen. Das leibhaftige Chaos. Er hatte Tausende von Dämonen auf freien Fuß gesetzt, und jeder einzelne war eine Manifestation der Unordnung, ganz so wie der pummelige hellrosa Hilfsdämon, der ihr selbst gehörte.

Lillis Sarong veränderte seine Farbe, wechselte von Blau zu einem knalligen Rosa. Die Farbe floss in ihr T-Shirt hinauf, überdeckte das Batikmuster, und plötzlich erschien ein Augenpaar am linken Ärmel. Es schaute zusammen mit ihr aus dem Fenster.

»Hallo, Zoot«, sagte Lilli.

Zoot war ein visueller Dämon, eine Manifestation und ein Farbwandler. Er schälte sich aus dem T-Shirt-Stoff und nahm mit einem leisen Plopp eine dreidimensionale Gestalt an, dann stieg er auf ihre Schulter und rieb sich eines seiner übergroßen grünen Hörner. Er roch nach feuchter Farbe.

»Die Menschen sind auf dem Weg in die Anarchie«, sagte Lilli zu ihrem Hilfsdämon. »Und wir können nichts für sie tun.«

In Wahrheit wollte sie mit alledem nichts zu schaffen haben. Das allgegenwärtige Chaos brachte ihr Herz auf unangenehme Weise zum Rasen, selbst wenn sie nur aus der Sicherheit des alten Hauses darauf hinabblickte. Es reichte ihr schon, sich um die überlebenden Dämonen im Haus und um die Heimkehrer zu kümmern, die, nachdem sie festgestellt hatten, dass die Welt ihnen dann doch etwas zu feindselig war, nach und nach wieder bei ihnen eintrudelten.

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Gleich am ersten Tag waren drei wandelnde Zierleisten, die die Wände der Eingangshalle geschmückt hatten, nach wenigen Stunden wieder zurückgekehrt. Klare Sache, dachte Lilli, wo sonst hätten sie auch hinsollen? Im Laufe der Woche waren weitere Dämonen heimgekehrt, und andere hatte sie bei ihren kurzen Spaziergängen in der Nachbarschaft entdeckt. Ein Schaukelstuhl-Pärchen hatte traurig zusammengesunken in einer Gasse gestanden, durchnässt vom kürzlichen Wolkenbruch. Ihr Holz war übel verzogen, und sie waren nicht mehr putzmunter wie sonst, aber immerhin noch am Leben. Andere Manifestationen hatten nicht überlebt – eine halbe Straße weiter verunzierten die Überbleibsel zahlloser lebendiger Staubflusen den Gehweg, getötet vom selben Wolkenbruch. Hausgeräusche wie quietschende Türen und Phantomschritte, die im Freien nichts zu suchen hatten, hatten sich in der Gartenlaube versteckt gehalten. Als Lilli hineinlugte, hatten sie vor lauter Verzückung darüber, wieder einen menschlichen Zuhörer zu haben, einen solchen Lärm veranstaltet, dass Lilli und Richie Ohrstöpsel hatten benutzen müssen, als sie die Audiodämonen kurz darauf mit einem Mikrofon in ein Aufnahmegerät saugten.

Nein, beschloss sie, sie musste nicht die ganze Welt retten. Es reichte ihr, sich um ihren kleinen Zipfel davon zu kümmern.

Lilli zuckte mit den Schultern, zog die Vorhänge zu und fuhr mit der Arbeit an dem Wandgemälde fort, an dem sie dieser Tage malte. »Es ist nicht unser Problem«, sagte sie ebenso zu sich selbst wie zu Zoot. Sie wedelte mit der Hand, und die Farben veränderten sich, zerflossen und breiteten sich aus.

Unten flog die zusammengenagelte Sperrholzplatte auf, die ihnen als behelfsmäßige Haustür diente.

»Hallo«, erschallte die Stimme von Nates Freundin Sandy. Lilli fragte sich, ob die Jung-Bibliothekarin eigentlich überhaupt noch als seine Freundin zählte, wo er nun fort war.

»Hallooooo!«, rief Sandy erneut. Lilli ging zum oberen Treppenabsatz und blickte hinunter. Sandy trug ihre dicke Brille und einen Laptop. Sie atmete schwer und schnell, als ob sie soeben zum Haus gesprintet wäre – und genau das hatte sie ja getan.

»Hallooooo! Ist außer mir noch irgendein anderes dreidimensionales Wesen im Haus?«

»Hey, Sandy«, rief Lilli hinunter. »Lange nichts von dir gehört.«

»Die Telefone sind tot, die Straßen blockiert. Überall ziehen Gangs herum. Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um herzukommen. Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Und was tust du?« Sie deutete auf Lillis Hände, an denen Farbe klebte. »Malen?«

»Es beruhigt mich«, sagte Lilli.

»Wie kann man in diesen Zeiten so ignorant sein? Und wo steckt Richie?«

»Keine Ahnung. Sehe ich aus wie sein Bewährungshelfer? «

»Sehr lustig. Jemand muss sich um ihn kümmern. Ohne strenge Führung verwandelt Richie sich ruckzuck in einen dieser plündernden Rowdys dort draußen.«

In dem Moment platzte Richie herein, einen Fernseher in den Armen. Keuchend stellte er ihn ab und trat die Tür hinter sich zu.

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»Lilli, guck mal, was für einen coolen Fernseher ich habe!« Dann sah er Sandy und runzelte die Stirn. »Oh, hallo Sandy.«

»Richie! Woher hast du den Fernseher?«, herrschte Sandy ihn an.

»Reg dich ab«, entgegnete Richie. »Er lag auf der Straße rum, okay?«

Sandy warf erst Richie und dann Lilli funkelnde Blicke zu. »Seht euch an! Ihr seid die einzigen Menschen in der Stadt, die wissen, was im Gange ist.« Sie ruderte mit den Armen und tigerte in der Eingangshalle auf und ab. »Da draußen ist die Hölle los. An einer Bushaltestelle in Fremont sind vier steinerne Statuen, die dort seit einer Ewigkeit standen, in einen öffentlichen Bus eingestiegen. Die Haltegriffe an der Kletterwand bei REI schlüpfen den Kletterern aus den Händen – der Laden musste extra einen Kran kommen lassen, um die Leute runterzuholen. Und ihr kennt doch die Kaugummimauer am Pike Place Market, wo die Leute in einer Art ›Kunstprojekt‹ Kaugummis ankleben?«

»Klar«, erwiderte Richie.

»Nein«, sagte Lilli, »aber das ist eine der coolsten Sachen, die ich je gehört habe.«

Sandy schüttelte den Kopf. »Es ist aber nicht mehr cool, wenn die Kaugummis von der Mauer abspringen und die Leute durch die Straßen jagen, um sich an ihre Schuhsohlen und in die Haare zu kleben.«

Sie sah ernst und zutiefst besorgt aus, aber Richie konnte nicht anders, als zu lachen.

»Aber am schlimmsten ist«, fuhr Sandy fort, »in der Stadtbibliothek werden unter mysteriösen Umständen Bücher zerstört, und sie müssen gerettet werden!«

»Na dann, viel Glück«, sagte Richie.

»Ja, gutes Gelingen«, pflichtete Lilli ihm bei.

»Dann wollt ihr also hier herumsitzen und Bilder malen und in einen gestohlenen Fernseher glotzen?«

»Nun, das war der Plan für heute«, sagte Richie.

»Genau, und?«, fügte Lilli an.

»Ihr müsst etwas unternehmen!«, rief Sandy aufgeregt.

»Ich glaube, du verwechselt mich mit jemandem, der sich freiwillig meldet, um die Probleme anderer Leute zu lösen«, verkündete Lilli.

»Kümmert dich denn unsere Gesellschaft überhaupt nicht

»Unsere Gesellschaft?« Lillis Augen verengten sich. »Die hat sich auch nicht um mich gekümmert«, sagte sie. Es stimmte. Niemand hatte sich um sie gekümmert, als ihre Welt ein Tollhaus war. Sie hatte sich ihr Leben mit eigenen Händen aufgebaut, ohne fremde Hilfe. Auf ihrer Schulter setzte Zoot eine empörte Miene auf, zeigte sich solidarisch mit seiner Hüterin.

»Richie? Was ist mit dir? Jemand muss diese Dämonen unter Kontrolle bringen.«

Richie blickte betreten zu Boden. »Es sind zu viele«, murmelte er.

»Du könntest es wenigstens versuchen«, erwiderte Sandy. »Fang doch mit den kleinen an.«

»Vielleicht erinnerst du dich, unser Anführer ist vor einer Woche abgehauen und auf große Fahrt gegangen«, sagte er.

»Aber er hat euch beiden sein Amt überlassen.«

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»Hat er nicht«, erklärte Lilli. »Er hat aufgegeben. Überlassen hat er uns nur dieses abbruchreife Haus. Wir sind nicht Seattles Dämonenhüter. Das war er.«

»Richie«, flehte Sandy ihn an.

»Aber ich hab doch gerade diesen coolen Fernseher besorgt. « Liebevoll klopfte er auf das große Gerät wie auf einen Schoßhund.

Sandy stampfte mit dem Fuß auf. »Ihr habt hier doch nicht einmal einen Kabelanschluss!«

»Außerdem hab ich keine richtige Ausbildung und kaum praktische Erfahrung«, fügte Richie hinzu.

»Was ist nur aus euch beiden geworden?«

»Die Probleme sind einfach zu groß für uns«, erklärte Lilli.

Richie nickte. »Es hat Jahrhunderte gedauert, bis eine ganze Reihe von Dämonenhütern die verrückten Dinger dort draußen eingefangen hatte. Was sollen da ein Straßenjunge, ein Bücherwurm mit Sehhilfe und ein schräges Hippie-Girlie ausrichten?« Er schaute von einem Mädchen zum anderen. »Nehmt’s nicht persönlich.«

»Vielen Dank«, sagten Lilli und Sandy gleichzeitig.

»Hey, ihr wisst genau, dass ich diese Sachen nur nett meine, okay?«

»Ich wünschte, Nate wäre hier«, brummte Sandy. »Ich frage mich, wo er gerade ist.«