6. KAPITEL

Ich kann zu Ihnen sagen, wenn es darum geht zuzusehen, wie jemand verhaftet wird, bin ich – ich wollte, es wäre anders – kein unbeschriebenes Blatt. Ich habe bereits von der jungen Frau erzählt, zu der mich wilde, quälende Liebe packte, als sie an den Haaren über das Pflaster vor dem Smolny-Institut geschleift wurde. Und auch, wie ich zum Verhör gebracht wurde, als eine meiner beiden Unterschriften auf einer Petition aufgetaucht war. Ich war alles andere als begeistert von der Aussicht, bei der Verhaftung des »Täters«, wie der Sheriff sich mit der Vorliebe des Bürokraten für menschenverachtenden Jargon ausdrückte, dabei sein zu müssen. (Letzten Endes ist es wohl leichter, Menschen festzunehmen, wenn sie nicht mit einem Henkel ausgestattet sind.) Das dumme war nur, daß ich mich nicht drücken konnte, ohne Norman auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, daß ich ihn bei der Besprechung von Rains Verhaftung belauscht hatte.

Also berichte ich jetzt von der Verhaftung des mutmaßlichen Täters.

Ich will mit dem Wetter beginnen. Im großen Weltenplan ist angeblich vorgesehen, daß Aprilschauer unerbittlich zur Maiblüte führen, aber in dem Jahr hatte wohl jemand seine Instruktionen nicht bekommen. Es war ein scheußlicher, klatschnasser Maiabend, zweifellos die Spätfolge einer geringfügigen Turbulenz, die ein Nachtfalter irgendwo in Sibirien mit einem Schwirren seiner Flügel ausgelöst hatte. Dicke Regentränen platzten schneller an der Windschutzscheibe, als die mit halsbrecherischem Tempo laufenden Scheibenwischer sie beseitigen konnten. Das war auch der Grund, warum alles, was ich beobachtete, verschwommen war, erst wegen des Regens und dann wegen der Tränen, die mir aus den Augen liefen, warum, werde ich Ihnen noch sagen.

Vielleicht.

Ich saß hinten im Auto des Sheriffs, als wir ganz langsam auf das Gelände von Purchase Honeycuts Gebrauchtwagen-Basar am Ortsrand von Hornell fuhren. Der andere Wagen, in dem Bobby und Bubba saßen, fuhr die Auffahrt auf der anderen Seite des Geländes hinauf und blockierte die Einfahrt. Die vier Scheinwerfer beleuchteten das ebenerdige, rundum verglaste Gebäude. Norman nahm das Automikrofon vom Armaturenbrett.

»Habt ihr schon was von den Fernsehfritzen gesehn?« fragte er Bubba über Funk.

Ich notierte mir »Fernsehfritze« auf der Rückseite eines Umschlags, als das Funkgerät plötzlich loskreischte.

». komm sie grade.«

Ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift CHANNEL 8 NEWS hielt am Straßenrand. Ein Mann sprang heraus, schulterte eine lange Kamera, die ebenfalls den Schriftzug von Channel 8 News trug, und fing zu filmen an.

»Hier verdienen wir unser Brot«, sagte der Sheriff.

Er hatte einen gelben Feuerwehr-Regenmantel an und trug ein batteriebetriebenes Megaphon und einen Revolver, den er hinter seinem Rücken versteckte. Er machte mir ein Zeichen, daß ich das Fenster herunterkurbeln sollte.

»Sie bleiben im Wagen sitzn«, sagte er, »falls der Täter sich der Festnahme widersetzn sollte.« Bei dieser Anspielung auf eine mögliche Schießerei funkelten seine Augen, als ob er sich schon vorstellte, wie groß die Schlagzeilen sein würden.

Der Sheriff überzeugte sich, daß die Fernsehleute auch wirklich drehten, und wedelte dann mit dem Megaphon in Bubbas und Bobbys Richtung, die daraufhin die Pistole zo gen und sich in Bewegung setzten. Im Gleichschritt wateten er und Norman durch eine riesige Pfütze auf das Glashaus zu, dessen Neonschild Purchase from Purchase über der Eingangstür zischte, als würde es Pferdebremsen per Stromschlag grillen.

Eine Gestalt erschien in der offenen Glastür.

Der Sheriff und seine drei Gehilfen blieben schlagartig stehen. Der Sheriff setzte das Megaphon an den Mund.

»Hier spricht Chester Combes, der Kreis.«

Ein ohrenbetäubendes Jaulen aus dem Megaphon erstickte seine Worte.

»Wie gesagt, hier spricht Chester Combes, der Kreissheriff. Ich hab mir gedacht, ich könnt ein paar Takte mit dir reden, Word.«

»Über was?« rief der Mann an der Tür in den Regen.

»Über das Ableben von Purchase Honeycut und den neunzehn andern Mordopfern.«

Word Perkins kicherte hysterisch. »Ein Schwachkopf wie du war da nie von allein draufgekomm. Ich geh jede Wette ein, daß du dir hast Hilfe holen müssen bei dem Gasprofessa, der nich auf dem hockt, was er weiß – daß er hergegang is und dir die Lösung geschenkt hat.«

Ich sah, daß Word seine Augen mit der Hand beschattete und in die Scheinwerfer blinzelte. »Sie sin doch da draußn, oder, Professa aus Petasburg?« rief er.

Ich machte mich möglichst klein und sah zu, wie sich der Sheriff mit dem Revolverlauf im Nacken kratzte. »Den Teil, wo der mich ein Schwachkopf nennt, müßt ihr rausschneidn, Jungs«, rief er den Fernsehleuten durchs Megaphon zu. Er drehte sich wieder um und machte einen Schritt auf das zischelnde Neonschild zu. Die Hilfssheriffs näherten sich aus verschiedenen Richtungen dem Haus.

»Word Perkins«, bellte der Sheriff durchs Megaphon, »es ist meine Pflicht, dir zu sagn, daß alles, was du sagst, als Beweis gegen dich.«

 

Durch den an der Windschutzscheibe herabströmenden Regen sah ich, wie der Täter sich ans Ohr griff und das Hörgerät herausriß. Dann trat er mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung zurück, warf die Glastür zu, bückte sich und drehte den Schlüssel in dem Schloß unten an der Tür. Der Sheriff und seine Hilfssheriffs stürmten auf das Gebäude los. Der Sheriff trat gegen die Glastür, aber die rührte sich nicht. Er richtete seinen Revolver auf den Mann drinnen.

»Ich befehl dir, die Tür aufzumachen, sonst mach ich sie auf«, brüllte er durchs Megaphon.

Word Perkins zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß er nicht verstand, was der Sheriff sagte. Er zog sich zurück und verschwand in einem Büro mit gläsernen Trennwänden. Ich sah, daß er einen Registraturschrank aufriß und ein paar Stapel Papier auf den Boden warf, bevor er einen Gegenstand herausholte, der in ein Stück Stoff eingewickelt war. Langsam und, so kam es mir von weitem vor, verloren in der unheimlich stillen Welt, in der man seine eigenen Schritte nicht hört, kam er wieder nach vorn in den Ausstellungsraum und trat, durch die verschlossene Glastür von ihnen getrennt, dem Sheriff und seinen drei Gehilfen gegenüber. Der Kameramann stellte sich hinter den Sheriff und filmte über dessen Schulter.

Word Perkins schälte den Gegenstand aus dem Tuch, als ob er eine Orange pellt. Der Gegenstand entpuppte sich als stupsnasiger Revolver. Der Sheriff und die drei Hilfssheriffs gingen in die Hocke, die Pistolen im beidhändigen Anschlag. Word Perkins nahm in aller Ruhe eine Patrone aus den Falten des Tuches und rieb die Spitze der Kugel an etwas, was später als Knoblauchzehe identifiziert wurde. Mit dem Daumen drückte er die Patrone in die Kammer, dann hob er den Revolver hoch und steckte sich den Lauf ins linke Ohr.

 

»Das machst du nicht!« schrie der Sheriff durchs Megaphon, aber der Täter konnte ihn natürlich nicht hören.

Ich kurbelte mein Fenster ganz herunter und steckte den Kopf hinaus, um besser zu sehen, aber es war trotzdem noch alles verschwommen. Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte, strömten aus meinen blutunterlaufenen Augen. Ich weinte, wie ich nicht mehr geweint hatte, seit. seit.

Durch den Tränenschleier sah ich, wie Norman herumwirbelte und mit der Hand das Objektiv der Fernsehkamera abdeckte. Gott segne ihn für sein Taktgefühl, sogar ein Täter hat ein Anrecht auf ein bißchen Intimsphäre, wenn er sich das Gehirn rauspustet. Ich sah auch weg. In mir gütiger Gott, wäre es doch nur ein Traum gewesen, den ich so leicht hätte überstreifen und wieder loswerden können wie den ärmellosen Pullover, den meine Mutter mir gestrickt hatte, als sie aus dem Gefängnis kam –, in mir hörte ich die gedämpfte Explosion, sie hörte sich an wie ein scharfer, trockener Husten hinter einer geschlossenen Tür, ich sah die gesichtslosen Männer, die die Wohnung durchsucht hatten, zum Badezimmer stürmen, sah einen die Tür aus den verrosteten Angeln treten, ich hörte meine Mutter einen Schrei ausstoßen, der so unmenschlich war, daß er meine Trommelfelle durchbohrte. Und dann drängte ich mich durch die Männer, die um die Badewanne standen, sank neben ihren dicksohligen, eisenbeschlagenen Schuhen auf die Knie und starrte mit offenem Mund auf die sirupartige Flüssigkeit, die zwischen den dicken Lippen hervorsickerte, die so oft spielerisch meine kindlichen Lippen geküßt hatten.

Mein Vater.

Mein Vater umklammerte die deutsche Luger, die er aus dem Großen Vaterländischen Krieg mitgebracht und jedesmal zusammen mit der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force hervorgeholt hatte, wenn er die Geschichte erzählte, wie er höchstpersönlich Polen befreit hatte, als bewiese die Existenz dieser beiden Trophäen, daß er tatsächlich dort gewesen war. Rücksichtsvoll wie immer war er in die Badewanne gestiegen, bevor er sich erschoß, um nicht unser kostbares ostdeutsches Linoleum mit Blut zu beflecken. Seine starren Augen waren auf meine gerichtet, in ihnen lag, so schien es mir damals, und so scheint es mir heute noch, ein melancholischer Tadel, eine unausgesprochene Frage. Warum hast du es getan? fragten seine Augen. Und dann starrte er mich an, ich weiß nicht, wie ein sechsjähriges Kind so etwas merken kann, aber es stimmt, das ist ein wahres Detail, er starrte mich tatsächlich an, ohne mich zu sehen. Und da zählte ich zwei und zwei zusammen und konnte mir plötzlich denken, was das Wort bedeutete, das meine Eltern mir partout nicht hatten erklären wollen.

Das Wort lautete: Tod.

Ich konnte mir auch denken, was mit meiner Schildkröte und meinem Goldfisch und mit dem jüngsten Bruder meiner Mutter geschehen war, meinem verrückten Onkel Hippolyt, der mir jedesmal gestreifte Zuckerstangen mitbrachte, wenn er zu uns kam, bis er eines Tages nicht mehr kam und meine Mutter alle Fotos von ihm im Familienalbum verbrannte. Vielleicht lag es daran, daß diese vielen Informationen, die alle innerhalb eines so kurzen Zeitraums gespeichert wurden, die Schaltungen meines Gehirns überlasteten, oder vielleicht war es der Anblick eines dieser gesichtslosen Männer, der mit seinen schmutzigen Wurstfingern meinem Vater die Augen zudrückte – wie auch immer, mir drehte sich der Kopf von all den Fragen, auf die es plötzlich unbequeme Antworten gab.

Ich habe normalerweise keinen Blick für Details, aber in diesem Fall kann ich die Szene so genau rekonstruieren, als hätte sich die ganze Episode erst gestern abgespielt. Mit meinen sechs Jahren hatte ich bereits die Gewohnheit angenommen, mich dem momentanen Chaos zu entziehen, indem ich mich in Traumwelten flüchtete. Ich weiß noch, daß ich den Atem anhielt und entgegen aller Wahrscheinlichkeit hoffte, das Ganze sei ein Traum, aus dem ich mich jederzeit wieder ausklinken konnte.

Ich ließ alle Hoffnung fahren, als die gesichtslosen Männer den Leichnam meines Vaters in einen blutbefleckten Kartoffelsack steckten, ihn die Treppe hinunterschleiften der Aufzug war wie gewöhnlich kaputt – und ihn auf die Ladefläche eines Pritschenwagens warfen. Tränen strömten mir aus den Augen, die von dem vielem Weinen blutunterlaufen wurden und für den Rest meines nicht enden wollenden Lebens so bleiben würden, als ich durchs Fenster auf die Straße hinunterschaute und sah, wie der Kartoffelsack von einer Seite auf die andere rollte, während der Wagen sich von unserem Haus entfernte.

In der Rückschau erkenne ich dies heute als genau den Moment, in dem meine Kindheit endete. Nach dem Selbstmord meines Vaters war ich nie wieder jung. In emotionaler Hinsicht blieb ich stehen. Die Gefühle, die ich an jenem Tag empfand, sind auch die Gefühle, die heute mein Leben beherrschen. Wenn ich das Chaos verabscheue und fürchte, so kommt das nicht von ungefähr.

Für manche ist es immer zu spät für eine Kindheit, von glücklich ganz zu schweigen.

Wo war ich?

Yo! Eine weitere trockene Explosion drang an mein Ohr. Ich fuhr herum und sah gerade noch, wie der Sheriff das Schloß beiseite trat, das er aus der Tür geschossen hatte, und durch die Glastür rumpelte. Drinnen lag ein Körper reglos wie eine Stoffpuppe auf dem Boden. Über der Tür zischte giftig das Schild PURCHASE FROM PURCHASE. Autos kamen angerast und hielten mit quietschenden Reifen an der Bordsteinkante. Journalisten mit Kameras und Mikrofonen und Filmleuchten und Tonbandgeräten drängten zur Tür und rempelten sich gegenseitig um, um einen besseren Blick auf den soeben verschiedenen Täter zu bekommen. Blitzlichter erhellten stroboskopisch die Szenerie. Der Sheriff kam aus dem Gebäude, Pistole und Megaphon hingen schlaff an den Goldstreifen seiner Hosenbeine herab. Er ging ruckartig, so als fehlte jedes zweite Einzelbild aus dem Film. Er beantwortete ein paar Fragen, schüttelte den Kopf, wies mit dem Kinn zu mir herüber.

Im nächsten Moment trieb der große Wagen, auf dessen Rücksitz ich zusammengesunken saß, in einem Meer von Reportern. Blitzleuchten blendeten mich aus nächster Nähe, eine lange Fernsehkamera schob sich durch das offene Fenster in den Wagen, und ihr Objektiv fuhr surrend vor und zurück bei dem Versuch, sich auf mein tränenüberströmtes Gesicht scharfzustellen.

»Können Sie uns sagen, wie Sie hinter die Identität des Serienmörders gekommen sind?«

»Ich kann zu Ihnen sagen, daß ich die Spieltheorie angewandt habe, ebenso die Theorie der Zufälligkeit, um zu beweisen, daß der Täter versuchte, seine Verbrechen als absolut zufällig, also zusammenhanglos erscheinen zu lassen. Diese Entdeckung führte direkt zu dem Serienmörder.«

»Was hat er gesagt?«

»Würden Sie das bitte wiederholen?«

»Könnten Sie das noch mal ablaufen lassen und dabei direkt in die Kamera schauen?«

»Es ist so augenfällig wie die Nase in Ihrem Gesicht. Der bewußte Versuch, Zufälligkeit herzustellen, negiert die Zufälligkeit.«

»Wieso stehen Sie so auf Zufälligkeit?«

»Ob das Universum zufällig oder determiniert ist, erweist sich letztlich als die ultimative philosophische Frage. Unser Bild vom Wesen des Universums und davon, warum wir Passagiere des Planeten Erde sind, hängt von der Antwort auf diese Frage ab. Die Suche nach einem einzigen Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit kann daher als Suche nach Gott interpretiert werden.«

»Was sind Sie, ein religiöser Spinner?«

»Sagen Sie, sind Sie nicht der Gastprofessor am Institut für Chaosforschung, der sich auf dem Gelände der Atommülldeponie vor den Bulldozer geworfen hat?«

»Könnten Sie unseren Zuschauern sagen, wie man sich fühlt, wenn man ein Verbrechen aufklärt, an dem sich die Polizei die Zähne ausgebissen hat?«

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, rief ein Journalist: »Könnten Sie uns sagen, wie es ist, für den Selbstmord eines anderen verantwortlich zu sein?«

»Haben Sie schon früher einmal jemanden umgebracht?«

Ein Schrei kam mir aus tiefster Brust. »Um Himmels willen, ich war doch erst sechs. Ich war noch nicht mal halbwüchsig, von erwachsen ganz zu schweigen.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, er war erst sechzig.«

»Der ist doch bestimmt keinen Tag älter als fünfzig.«

»Wie schaffen Sie es, jünger auszusehen, als Sie sind?«

»Halten Sie eine bestimmte Diät?«

»Treiben Sie regelmäßig Sport?«

»Hatten Sie eine Schönheitsoperation?«

»Haben Sie sich Haare implantieren lassen?«

»Stimmt das Gerücht, daß Sie Ihr Alter falsch angegeben haben, um dem Wehrdienst in der Sowjetunion zu entgehen?«

»Es gibt keine Sowjetunion mehr«, setzte ich an, aber meine Worte gingen in einem Trommelfeuer von Fragen unter.

»Wie denken Sie über die Europäische

Wirtschaftsgemeinschaft?«

»Wie stehen Sie zur Euthanasie?«

Ich wollte ihnen sagen, daß ich mich mehr um die Not der Jugendlichen in Europa sorgte, aber es war offensichtlich, daß meiner Antwort niemand die geringste Beachtung geschenkt hätte.

»Was halten Sie von der Kriminalität in Amerika?«

»Was halten Sie von den amerikanischen Kriminellen?«

»Was halten Sie von Amerika?«

»Können Sie uns sagen, ob Sie aus Ihrem Aufenthalt hier irgend etwas gelernt haben?«

Es gelang mir, ein Wort dazwischenzuschieben. »Ich habe gelernt, das Herz auf dem Ärmel zu tragen. Ich habe gelernt, daß eine Stadt am Euphrat mehr Florida sein kann als Miami.«

»Würden Sie behaupten, daß es unbedenklich ist, Trinkwasser mit Fluor zu versetzen?«

»Sind Sie für oder gegen die Werte der Familie?«

»Wie stehen Sie zu Untreue in der Ehe?«

»Wie stehen Sie zum Inzest?«

»Wäre Gott wirklich gegen Inzest gewesen«, fing ich an, »hätte Er zwei Gärten Eden nicht weit voneinander geschaffen«, aber es war in den Wind gesprochen.

»Stimmen Sie der Theorie zu, daß Serienmord eine Suche nach seriellen Orgasmen ist?«

»Sind Sie als Chaos-Experte der Ansicht, daß vorzeitiger Samenerguß heilbar ist?«

»Bietet die Chaostheorie Hoffnung für Männer, die unfähig zum Orgasmus sind?«

Ich konnte kaum sprechen, ich fühlte, wie mir die Worte im Hals steckenblieben. »Es kommt auf den richtigen Start an«, brachte ich mühsam hervor, »man muß abwärts mobil sein. und ehe man sich’s versieht, wruuum, überschreitet man die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Interstate.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 55 Meilen sind?«

»Die Frage hat er schon das letztemal nicht beantwortet«, bemerkte eine bekannte Moderatorin.

 

Eine Sirene heulte in der Ferne, der Ton wurde immer höher, je näher sie kam. Die Journalisten drehten die Köpfe. »Danke für das Interview, Mr. Falk«, rief einer der Reporter durch das offene Fenster. Das Objektiv zog sich in die Kamera zurück. Die Journalisten hasteten davon, um die Ankunft des weißen Wagens mit dem Blinklicht zu filmen, das winzige orangefarbene Explosionen über die regennasse Straße schlittern ließ.

Der Anblick des orangefarbenen Lichts löste in mir eine Flut von Erinnerungen aus. Ich dachte an den Laster, der Sand auf die vereiste Straße gestreut hatte am Abend meiner Ankunft in Backwater, und an die winzigen orangefarbenen Explosionen auf der mit Eis lackierten Fahrbahn, ich dachte an den Eisregen, der von dem sibirischen Nachtfalter ausgelöst worden war, ich dachte an Rain und ihr Starterkabel, an ihren warmen Mund, der sich über einem Teil von mir schloß, das er bis dahin noch nicht besucht hatte.

Konnte es sein, lag es im Bereich des Möglichen, daß mich wilde, ewige, quälende Liebe zu einem Mädchen gepackt hatte, das wirklich existierte?

Erschüttert und zittrig stieg ich aus dem Wagen des Sheriffs und stolperte davon. Während ich langsam zwischen den gebrauchten Autos hindurch zur Straße ging, hallte Word Perkins’ irrsinniges Kichern in meinem Kopf.

Im Anfang war das Woat …

Der Regen hatte nachgelassen, feuchte Dunkelheit hüllte die Szene ein. Drüben drängten sich die Journalisten um den weißen Krankenwagen. Norman und Bobby und Bubba, die im weißen Licht der Fernsehlampen wie gespenstische Engel aussahen, drängten sich mit einer Trage, auf der in weißer Geschenkverpackung der Täter lag, durch die Menge. Sie gingen ans Heck des Wagens, klappten die Räder unter der Trage hoch, schoben die Leiche in den Wagen und schlossen die Türen. Norman schlug zweimal mit der Faust an die Seitenwand des Wagens.

Die Sirene fing wieder zu jaulen an, erst schwach und dann mit einer Intensität, die mich an den unmenschlichen Schrei meiner Mutter erinnerte. Ich hielt mir die Ohren zu. Wenigstens Word Perkins konnte der Krach nicht mehr stören, dachte ich.

. das Woat war bei Gott.

Der Krankenwagen löste sich langsam vom Randstein und kam auf mich zu. Ich sah die Buchstaben über seiner Windschutzscheibe. Sie lauteten:

 

ECNALUBMA

 

Ich zermarterte mein erschöpftes Gehirn, konnte mich aber nicht erinnern, etwas auch nur entfernt Ähnliches in der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force oder einem meiner anderen Englischbücher gelesen zu haben. Und es kam mir auch nicht wie Liliputanisch vor.

Also mußte es eine neue Sprache sein.

Das Chaos war über die englische Sprache gekommen.

 

Der Sheriff läßt den Kopf eines Streichholzes an seinem Daumennagel detonieren und hält die Flamme an die Zigarre, die aus seinem Mund ragt. »Ich tat hingehn und eim Pferd ein Zungkuß aufn Arsch geben«, sagt er und unterbricht sich, um an seiner Zigarre zu saugen, bis sie richtig brennt, »bloß um die Gesichter von den Jungs in der Kriminalabteilung zu sehn, wenn sie sich die Abendnachrichten anschaun.« Er atmet aus, wedelt den Qualm weg. »Das eine muß man dem Täter ja lassen«, brabbelt er weiter, »indem daß er sich selber umgebracht hat, hat er dem Kreis die Kosten für einen Prozeß erspart, ganz zu schweigen von der Inhaftierung später.«

Norman ist ungewöhnlich gedrückt, während er den Wagen des Sheriffs auf die Interstate lenkt, Richtung Backwater. »Ob du’s glaubst oder nich, ich hab noch nie gesehn, wie sich einer das Gehirn rauspustet«, sagt er.

»Ich hab mal ein Täter gesehn«, sagt der Sheriff und überläßt sich seinen Erinnerungen, »das war oben in Boston, ich war damals noch Hilfssheriff, der hat Wind davon gekriegt, daß er verhaftet werden soll, und einen Gartenschlauch vom Auspuff ins Innere von seim Auto gelegt, sich eingeschlossen und den Motor angelassen. Er is gestorben und hat sich dabei eine Kassette von Judy Garland angehört.« Der Sheriff verdreht nostalgisch die Augen und krächzt heiser den Text: »I’m always chasin’ rainbows …« Der Song is noch gelaufen, immer noch mal und noch mal, wie wir das Auto aufgebrochen haben. Komisch, daß eim manchmal so ein Melodie nie mehr aus dem Kopf geht.«

Sheriff Combes verdreht sich auf dem Beifahrersitz, um mit Lemuel zu sprechen, der hinten im Dunkeln in der Ecke hockt. »Wo sie kein Amerikaner sind und so, sind Sie wahrscheins nie dem Regenbogen nachgelaufen.«

Verträumt sagt Lemuel: »Zu meiner Zeit bin ich auch dem einen oder andern Regenbogen nachgelaufen.«

Ein paar Meilen fahren sie auf der Interstate, ohne daß einer ein Wort sagt. Dann bricht Norman das Schweigen: »Daß Word Perkins die Kugel mit Knoblauch eingerieben hat, bevor er sich erschossen hat, is ja der Beweis, daß der Täter wirklich der Täter war.«

»Knoblauch, meine Fresse, daß er sich erschossen hat, is der Beweis, daß er der Täter war«, widerspricht der Sheriff. »Täter, die nichts getan haben, pusten sich nich das Gehirn raus.«

»Es gibt Ausnahmen von dieser Regel«, bemerkt Lemuel sibyllinisch.

»Warum sollte sich ein Täter umbringen, wenn er nich der Täter is?« fragt Norman arglos.

Bevor Lemuel antworten kann, blendet ein entgegenkommender Sattelschlepper mit seinen aufgeblendeten Scheinwerfern Norman und den Sheriff. Norman blinkt ihn mehrmals an und muß sich die Hand vor die Augen halten.

»Scheißkerl«, flucht er.

Bubbas Stimme kommt kreischend aus dem Funkgerät. »Was meint ihr, soll ich wenden und das Arschloch festnageln?«

Der Sheriff schaut auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. »Wir sind schon spät dran«, sagt er ins Mikrofon. »Wenn wir nicht in der Kampus Kave eintrudeln, bevor die ihre Lasagne weggeputzt habn, gehn die Staatspolizisten her und verhaften die Täterin alleine.«

Lemuel sieht Normans Augen im Rückspiegel. Der Hilfssheriff schaut in den Spiegel und versucht, das Dunkel zu durchdringen. »Mir is grade was eingefallen«, sagt er, »nämlich daß unser guter Lemuel da hinten eine Zeitlang mit der Tussi zusammengewohnt hat, die in Backwater den Leuten die Haare schneidet.«

Lemuel wird klar, daß Norman drauf und dran ist, zwei und zwei zusammenzuzählen, und daß er in seiner Einfalt womöglich darauf kommt, daß das Ergebnis vier ist. »Wir haben im April Schluß gemacht«, sagt er rasch. »Ich hab sie seitdem. nicht mal von weitem gesehen.«

»Unser Lemuel ist ein beglaubigter Held«, sagt der Sheriff, der seinen eigenen Gedanken nachhängt. »Ich werd ihn für unsre Bürgermedaille vorschlagn, dafür, daß er die Polizei so vorbildlich unerstützt hat.«

Der Wagen rauscht an dem Schild vorbei, das an der Stelle steht, wo das platte Land aufhört und der Ort Backwater anfängt. Lemuel sieht es durchs Fenster. »Backwater University, gegründet 1835. Sitz des Instituts für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung.« Darunter hat jemand »Chaos – leck mich!« gesprayt.

Könnte es sein. Liegt es im Bereich des Möglichen. Ist er womöglich auf eine weitere, bis jetzt ungeahnte Eigenschaft des Chaos gestoßen? Oder ist das Grafitto nur eine Kapitelüberschrift in Etikette und oraler Sex – Ein Leitfaden für Greenhorns?

Norman sieht das Haus des Rebbe und fährt langsamer.

Lemuel beugt sich vor. »Könnten Sie mich in der Stadtmitte absetzen?« fragt er beiläufig. »Ich hab bis Mitternacht Zugang zum Supercomputer des Instituts.«

Eine Minute später fährt Norman vorsichtig auf den Bürgersteig, hinter den beiden Autos der Staatspolizei, die vor der Kampus Kave parken. Hinter ihnen hält der Wagen mit Bobby und Bubba. Der Sheriff dreht sich auf seinem Sitz um und streckt Lemuel zum Abschied drei Finger hin.

»Ich würd zu gern wissen, was Sie mit dem Computer treibn, wenn Sie nich grade Serienmorde aufklärn.«

Lemuel stößt die Tür auf. »Eine legitime Frage«, sagt er. »Ich bin froh, daß Sie sie gestellt haben. Die Antwort lautet, daß ich mich durch die Dezimalstellen von Pi bis zur Unendlichkeit durchwühle.«

»Aha«, knurrt Norman.

»Wird Ihn davon nich ganz schwindlig im Kopf?«

Ein Bein schon im Freien, sagt Lemuel: »Verglichen mit dem High, das man angesichts des Unendlichen bekommt, ist Marihuana Kinderkram.«

Lemuel geht den Block entlang auf das Institut zu, schaut sich um, ob die Luft rein ist, kehrt um und späht durch das »e« von »Kampus Kave« auf dem Fenster. Mit ihrem strahlendsten Lächeln verteilt Molly Zahnstocher an die vier State Trooper und einen Kameramann vom Fernsehen, während sie alle aufstehen und dem Sheriff und seinen Gehilfen die Hand schütteln.

Lemuel begreift, daß er keine Sekunde zu verlieren hat. Im Sturmschritt überquert er die Main Street, geht an dem Vierundzwanzig-Stunden-Waschsalon vorbei, biegt in die ungepflasterte Gasse ein und läuft, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Holztreppe hinauf. Keuchend hält er das Ohr an die Tür. Als er nichts hört, tastet er nach dem Schlüssel auf dem Sims über der Tür. Als er ihn findet, atmet er erleichtert auf. Mit zitternder Hand versucht er, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Er holt tief Luft, stützt die rechte Hand mit der linken, steckt den Schlüssel hinein und schließt auf.

Der Raum ist in das unheimliche Licht des Projektors getaucht, der mit einem Stück malvenfarbener Seide zugedeckt ist. Mayday liegt zusammengerollt auf ihrer Decke und sieht Lemuel unverwandt mit trüben, vorwurfsvollen Augen an. Lemuel bückt sich und streichelt ihr den Kopf.

Auf dem Plattenspieler kratzt die Nadel endlos in der letzten Rille einer Platte. Lemuel bemerkt nachlässig auf die Couch geworfene Kleider und fängt instinktiv an, sie zusammenzulegen – ein gefältelter Mini, ein hautenger gerippter Pullover, meergrüne Strumpfhosen, ein grauer Calvin-Klein-Slip. Seine beiden Herzen, das auf dem Ärmel und das in seiner Brust, lassen mehrere Schläge aus, während er ein gestreiftes Buttondown-Hemd, ein Paar Designer-Jeans und seidene Boxershorts zusammenfaltet.

Aus dem Schlafzimmer kommt leises Stöhnen aus der Kehle von jemandem, der gerade vögelt.

Lemuel hört einen Moment zu, dann steigt er lautlos über den Hund und schnappt sich den Hite Report aus dem Regal. Er packt das Buch mit beiden, plötzlich klammen Händen, geht rückwärts aus dem Zimmer, schließt hinter sich ab und legt den Schlüssel auf den Sims zurück.

Er hat gerade noch Zeit, sich zwischen der Garage und einem leerstehenden Gebäude zu verstecken, da tauchen schon an beiden Enden der Gasse Scheinwerfer auf. In Schlangenlinien, um den Schlaglöchern auszuweichen, kriechen vier Autos aufeinander zu und halten alle unter der Treppe, die in Rains Loft hinaufführt. Die Scheinwerfer gehen aus. Türen werden zugeschlagen. Eisenbeschlagene Schuhe poltern die Treppe hinauf. Knöchel klopfen an die Tür.

»Jemand zu Hause?« Unverkennbar Normans Stimme.

»Ruf noch mal, Norman.«

»Bist du da, Rain?«

Eine nackte Glühbirne geht über der Tür an. Die Tür öffnet sich. Eine vertraute Stimme reagiert auf die Anwesenheit eines ganzen Pulks von Polizisten.

»Was läuft, Norman? Was läuft, Sheriff?«

»Miss Rain Morgan«, intoniert der Sheriff mit Amtsstimme, »wir haben hier einen amtlichen Durchsuchungsbefehl.«

Norman ergänzt: »Sie können sich und uns jede Menge Scherereien ersparen, wenn Sie das ausgehöhlte Sexbuch mit dem Titel The Weight Report freiwillig herausgeben.«

Von drinnen ruft eine Männerstimme: »Was ist denn, Babe?«

Das weibliche Wesen an der Tür stöhnt auf. »Ach du Scheiße, das hat mir grade noch gefehlt.«

Der Sheriff, seine drei Hilfssheriffs, die vier State Trooper und die Fernsehreporter, die alles mit einer auf der Schulter getragenen Kamera filmen, drängeln in die Wohnung.

Lemuel klemmt sich den Hite Report unter den Arm und verschwindet die dunkle Gasse hinunter.

Im Haus von Rebbe Nachman putzt sich Lemuel an dem schäbigen Teppich in der Diele die Schuhe ab, bevor er ins Wohnzimmer geht. Hinter der geschlossenen Küchentür spielt ein Radio. Er umklammert immer noch Rains ausgehöhltes Buch, fragt sich, ob darin wohl irgendwo der geheiligte Name Gottes genannt wird, und betrachtet die hüfthohen Büchertürme, die sich mit den Rücken nach außen an die Wände lehnen und sich die halbe Treppe hinaufziehen. Draußen auf der Straße hat er mit dem Gedanken gespielt, das Buch samt Inhalt in eine Mülltonne zu werfen, sich aber dagegen entschieden – irgend jemand hätte das Buch, auf dem sicher massenhaft Fingerabdrücke von Rain waren, finden und der Polizei übergeben können. Besser, er versteckt es – aber wo? Der letzte Ort, wo man nach einem Buch suchen würde, überlegt er, ist ein Stapel Bücher. Und der erste Stapel, der ihm in den Sinn kommt, ist Nachmans Sammlung von Büchern mit dem Namen Gottes.

Lemuel kann gerade noch den Hite Report in einen Stapel auf einer der unteren Treppenstufen schieben, da geht die Küchentür auf.

»Lemuel?«

Der Rebbe, der liliputanischer wirkt, als Lemuel ihn je gesehen hat, kommt ins Wohnzimmer gehastet und knipst die Deckenlampe an. Seine geringelten Schläfenlocken tanzen nervös auf und ab, er geht gebückt wie eine Klammer und späht mit ängstlich aufeinander zustürzenden Kakerlakenbrauen die Treppe hinauf. Als er zu sprechen anfängt, klingt seine Stimme ungewöhnlich heiser, so als hätte er zuviel Parolen geschrien. Aber wofür. Oder wogegen?

»Seit vier Stunden frage ich mich, ob dieser schlimasl wohl nie mehr wiederkommt.«

»Besser spät als nie.«

»Wie konnten Sie das tun?«

»Wie konnte ich was tun?«

»Ich dachte, ich wäre Ihr Freund.«

»Sind Sie auch.«

»Ich dachte, Sie vertrauen mir.«

»Hey, tu ich doch auch.«

»Dann erklären Sie mir, wenn das im Bereich des Möglichen liegt, warum Sie sich mir nicht anvertraut haben.«

»Anvertraut? Womit denn, um Himmels willen?«

Der Rebbe senkt seine Stimme zu einem krächzenden Flüstern. »Wir haben am selben Tisch gesessen, wir haben dasselbe Brot gegessen, wir tranken denselben Puligny Montrachet. Sie hätten mir wenigstens von den Codes erzählen können.«

Lemuel schließt die Augen. »Nicht auch noch Sie, bitte nicht!«

»Jedermann in Backwater, was sage ich, auch jedermann außerhalb von Backwater hat offenbar Bescheid gewußt, nur ich nicht. Was habe ich getan, daß ich es als letzter erfahre? Womit habe ich das verdient?«

 

»Wer hat’s Ihnen gesagt?«

»Ein kleines Vögelchen hat’s mir gezwitschert. Oj, Lemuel, Lemuel, wenn Sie mich ins Vertrauen gezogen hätten, hätte ich Ihnen jede Menge zores ersparen können.« Der Rebbe steigt auf die erste Stufe. »Kann ich übrigens immer noch. Ihnen eine Menge zores ersparen.«

Lemuel massiert sich mit Daumen und Mittelfinger die Augenlider. »Sagen Sie bloß nicht, Sie arbeiten für einen Geheimdienst.«

»Ein Spion zu sein, das ist so, als wäre man ein Messias.«

»Sagen Sie jetzt bloß nicht, daß Sie für die Israelis arbeiten.«

»Ich arbeite eigentlich nicht für sie.« Der Rebbe rückt auf der Treppe ein Stückchen höher. »Ich bin, was man gemeinhin einen Kopfjäger nennt und was ich als Herzjäger verstehe. Wenn ich einen warmen Körper gefunden habe, der vielleicht ein heißer Tip ist, hole ich die Verschlüsselungsanweisung, die man mir gegeben hat, aus ihrem Versteck hervor« – der Rebbe zeigt mit dem Bart auf einen besonders hohen Bücherstapel neben der Küchentür – »und schicke eine verschlüsselte Ansichtskarte an eine Adresse in Israel. Per Luftpost. Sehen Sie mich nicht so an. Ich schäme mich nicht, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein. Die Welt wimmelt von Antisemiten, will sagen, von Menschen, die die Juden mehr als nötig hassen. Es ist für die Prosemiten eine Sache auf Leben und Tod, die Post dieser Leute zu lesen.«

»Warum ich?«

»Wenn nicht Sie, wer dann? Ich flehe Sie an, Lemuel, verschließen Sie nicht die Ohren vor dem Menetekel. Es vergeht kein Tag, nicht einmal eine Stunde, in der ich nicht die letzten Seiten der Zeitung auf kleine Artikel durchsehe, die den Beginn eines neuen Holocaust ankündigen. Sie geben sich Mühe, nicht über Dinge zu lachen, die Ihnen absurd vorkommen. Ihr Zynismus ist eine Beleidigung für die Eltern, die Sie aufgezogen haben. Lesen Sie und weinen Sie. »Angeblich siebenhunderttausend Juden in einem kleinen polnischen Ort namens Oswiecim vernichtet« So hat die New York Times, die angeblich alle Nachrichten bringt, die es wert sind, im Druck zu erscheinen, zum erstenmal darüber berichtet, was die Nazischweine im Schild führten. Es war auf der letzten Seite, das Kreuzworträtsel war auffälliger, die Titelseite war einem hochaktuellen Artikel über die Sommerferien vorbehalten.«

Lemuel setzt sich auf die mit einem Teppich belegte Stufe. »Ich kann zu Ihnen sagen, Rebbe, daß ich die Nase voll habe von Code-Lexika. Und von Subtexten.«

Der Rebbe sinkt auf der nächsttieferen Stufe auf die Knie. »Lemuel, Lemuel, alles im Leben ist verschlüsselt. Die Thora, die mir teurer ist als der Sauerstoff, das Geflüster von Liebenden, das Geseire eines Rabbis, Ihr Links-Rechts-Entweder-Oder, sogar Romane, Romane ganz besonders, sie alle haben einen Subtext. Wenn es keinen Subtext gibt, ist das Fehlen des Subtexts der Subtext; die Aussage lautet dann: Ich möchte dich unbedingt überzeugen, daß das, was du siehst, auch das ist, was du kriegst. Wie Ihre frühere Freundin, die Schickse, sagen würde: Leben Sie Ihr Leben. In dieser meschuggenen Welt liegt zwischen der Erfahrung und der für ihre Beschreibung verfügbaren Sprache, ha!, zwischen der joie de vivre und ihrer Exegese, ein Abgrund. Codes, Subtexte sind die Brücke über den Abgrund.«

»An diesem Punkt sagen mir die andern Anwerber meistens, was für mich drin ist.«

»Oj, Sie haben meinen Subtext nicht entschlüsselt. Nichts – das ist drin für Sie. Wenn Sie nach Israel gehen, um den Juden zu helfen, Codes zu machen und Codes zu knacken, werden Sie in einer engen, lauten Wohnung in Tel Aviv wohnen – im Vergleich zu dieser Stadt wird Ihnen Petersburg wie das verlorene Paradies vorkommen. Wie jeder andere im Heiligen Land werden Sie ständig Ihr Konto überziehen, um über die Runden zu kommen. Sie werden Urlaub an einem verseuchten Meeresstrand machen, an dem es von Rotznasen wimmelt, die Ihnen Sand ins Gesicht kicken. Aber Sie werden Israel dienen, und durch Israel – Jahwe.«

»Ich bin noch immer nicht hundertprozentig sicher, daß es Ihn gibt.«

Der Rebbe hockt sich neben Lemuel. »Und wo steht geschrieben, daß man Gott nicht dienen kann, während man Ihn sucht?«

»Sagen Sie mir eins, Ascher. Glauben Sie wirklich, daß der Typ existiert? Nähern wir uns dem Problem mal aus einer anderen Richtung – haben Sie Ihn entdeckt oder haben Sie Ihn erfunden?«

Die Glotzaugen des Rebbe blitzen auf. Er fixiert Lemuel mit einem wilden Blick. »Wenn Sie einen dreiteiligen Anzug sehen, erfinden Sie den Schneider nicht, Sie entdecken ihn. Warum sollte es anders sein, wenn Sie eine blühende Rose sehen, einen Vogel im Flug, einen Schneesturm, der die Ostküste lahmlegt, einen Fußabdruck des Chaos im Treibsand der Zeit?«

Seufzend zieht er ein riesiges Taschentuch aus der Innentasche seines Sakkos, entfaltet es mit theatralischem Pomp und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Schließlich sagt er: »Ich habe Sie heute abend im Fernsehen gesehen. Dank Ihnen haben die den Serienmörder ans Kreuz genagelt, sozusagen. Sie sind wieder einmal der Held des Tages.« Eine seiner Hände legt sich auf Lemuels Unterarm. »Ich habe gesehen, wie Sie zusammengekrümmt in dem Auto gesessen haben, ich habe Sie sagen hören, die Suche nach einem einzigen Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit sei die Suche nach Gott. Also worauf warten Sie noch, Lemuel? Geben Sie sich einen Ruck. Tun Sie, wozu ich selbst mich nicht durchringen konnte. Wagen Sie den Sprung.«

Lemuel windet sich. »Was für einen Sprung meinen Sie?«

»Den Sprung des Glaubens. Okay, die Thora ist vielleicht eine Dose voller Würmer. War es David, der den Goi Goliath erschlug, ich spreche von 1. Samuel 17, oder ein Lokalheld namens Elhanan, ich spreche von 2. Samuel 21, Vers 19. Wie auch immer, die Thora ist dennoch das Werk Gottes und das Wort Gottes, gepriesen sei Sein heiliger Name. Der Subtext, die Codes, das, was zwischen den Zeilen steht, sind ebenfalls sein Werk. Sie und ich, Lemuel, wir können vielleicht aus entgegengesetzten Richtungen an die Thora herangehen, aber im tiefstem Innern sind Sie genauso koscher wie ich. Nicht von ungefähr bedeutet Ihr Name »der Gottesfürchtige«.

»Sie haben eine überzeugende Show abgeliefert«, sagt Lemuel müde.

»Jedes Wort kommt aus dem Bauch«, erwidert der Rebbe ruhig.

Plötzlich wird Lemuel aggressiv: »Was ist für Sie drin, wenn ich auf der gepunkteten Linie unterschreibe?«

»Fragen Sie ruhig, fragen Sie, ich bin nicht beleidigt. Was für mich drin ist, ist eine Prämie für jeden neuen Mitarbeiter, den ich anwerbe. Woher, meinen Sie, bekomme ich das Startkapital für meine Talmudschule mitten in Brooklyn, von einer Goi-Bank?« Dem Rebbe gelingt ein Lächeln, das schief und zugleich fein ist. »Für mich ist drin, daß ich Gnade finde vor Jahwes Augen.« Unter sanftem Schaukeln seines Oberkörpers rezitiert er: »Und er führte mich heraus ins Weite, er befreite mich, weil er Gefallen an mir hatte.« Aus Gewohnheit spuckt er auch die Quelle aus. »Ich spreche von 2. Samuel 22, Vers 20.«

Jemand klopft energisch an die Haustür. Der Rebbe ist schlagartig hellwach und sieht Lemuel an. »Erwarten Sie Besuch?«

»Nein.«

Der Rebbe rappelt sich auf, tappt durch die Diele zur Haustür, öffnet sie einen Spaltbreit. Im nächsten Moment sieht er einen Schuh zwischen Tür und Rahmen.

Von seinem Platz auf der Treppe aus hört Lemuel einen gedämpften Wortwechsel. Sekunden später kommen Mitchell und Doolittle, gefolgt von fünf FBI-Klonen in engsitzenden dreiteiligen Anzügen, durch die Diele ins Wohnzimmer gestampft. Der händeringende Rebbe bildet die Nachhut.

Mitchell sieht Lemuel auf der Treppe. »Die Welt ist klein, oder, Sportsfreund?«

»Wollen Sie mal was Lustiges hören?« fragt der Rebbe mit ungewöhnlich schriller Stimme. »Diese Jungs, die in ein Privathaus eindringen, wo sie nicht eingeladen sind, ohne die Mesusa über dem Türpfosten zu küssen, ohne sich auch nur die Füße abzustreifen, diese Jungs mit ihren messerscharfen Bügelfalten denken, ich könnte Agent eines fremden Landes sein.«

»Wir denken das nicht«, korrigiert ihn Doolittle, »wir wissen es.«

»Wenn die Syrer in Backwater aufkreuzen«, bemerkt einer der Klone, »sind die Israelis nicht mehr weit.«

Die Klone schwärmen aus und fangen an, Schubladen zu durchwühlen. Der Rebbe packt einen am Ärmel. »Das dürfen Sie nicht.«

Mit einer raschen Drehung des Handgelenks entfaltet Doolittle vor Nachmans Gesicht ein Blatt Papier. »Der Richter, der das unterschrieben hat, ist da anderer Meinung.«

»Chasak«, murmelt der Rebbe. »Sei stark.«

Mitchell geht in die Hocke und fängt an, das oberste Buch auf einem schiefen Turm am Fuß der Treppe durchzublättern. »Was sind das für Schwarten?«

»Die habe ich im Lauf der Jahre gesammelt«, erklärt der Rebbe. »In jedem davon steht der Name Gottes.« Er schluckt schwer. »Es ist gegen jüdisches Gesetz, ein Buch mit dem Namen Gottes drin zu vernichten.«

»Wenn’s sein muß«, gelobt Doolittle, »werden wir jedes einzelne Buch in diesem Haus untersuchen.«

»Das würde Tage dauern«, gibt der Rebbe hoffnungsvoll zu bedenken.

»Zeit«, sagt Mitchell, während er ein Buch am Rücken packt und es ausschüttelt, »spielt bei uns keine Rolle.«

Doolittle bedeutet den anderen Agenten, mit der Durchsicht der Bücherstapel an den Wänden zu beginnen. Mitchell schaut zu Lemuel hoch. »Sie könnten sich auch nützlich machen und uns verraten, wo er das belastende Material versteckt hat.« Er packt ein Buch am Rücken, läßt es baumeln und schüttelt es. »Sie haben doch nicht vergessen, wer die Guten sind, oder? Zeigen Sie uns, auf welcher Seite Sie stehen.«

Lemuel zittert wie Espenlaub. In seinem Inneren – mein Gott, wenn es doch nur einer seiner Wachträume gewesen wäre – hört er, wie ihm jemand ins Ohr flüstert: Du möchtest doch dem Genossen Stalin zeigen, auf welcher Seite du stehst, Junge? Sag uns, wo dein Vater sein Code-Lexikon versteckt hat.

Er hört seine Antwort aus seiner verlorenen Kindheit aufsteigen. Was ist denn ein Code-Lexikon?

In einer Ecke kauernd, sieht er gebannt zu, wie einer der gesichtslosen Männer mit einem Brotmesser die Matratze seiner Eltern aufschlitzt und anfängt, sie auszuweiden. Zwei andere reißen die Kleider aus dem Schrank und geben sie an einen dritten weiter, der das Futter aus den Mänteln und Kleidern seiner Mutter herausschneidet und dann alles auf einen Haufen in der Ecke wirft.

Sei stark, ruft sein Vater ihm zu. Es gibt hier nichts, was sie finden könnten.

Einer der gesichtslosen Männer sieht Lemuels Vater in die Augen. Unterhaltungen sind während der Durchsuchung der Wohnung verboten, sagt er kalt. Lemuels Vater senkt den Blick.

Als der Schrank leer ist, zerlegen ihn die gesichtslosen Männer und lehnen die Teile an die Wand. Lemuel schmeckt Galle im Mund und rennt in die Küche, um in die Spüle auszuspucken. Jemand packt ihn am Arm.

Lassen Sie ihn los, bittet seine Mutter. Er ist doch erst sechs.

Als Lemuel wieder ins Schlafzimmer zurückkommt, heben die gesichtslosen Männer gerade die Rückwand des Schranks aus dem Rahmen. Einer von ihnen bemerkt ein loses Stück Tapete über den Dielen. Er geht in die Hocke, reißt die Tapete von der Gipsplatte, greift in den Spalt und bringt ein Buch zum Vorschein. Lemuels Vater wirft einen raschen Blick auf den Jungen, der kaum noch zu atmen wagt.

Der leitende Agent blättert das Buch durch, dessen Seiten Eselsohren haben und voller unterstrichener Wörter und Sätze sind. Es ist Englisch, verkündet er. Er liest einen unterstrichenen Satz vor: »Stretching abdominal muscles in this manner fifteen minutes a day.« Er schlägt die Titelseite auf. The Royal Canadian Air Force Exercise Manual. Er schaut auf. Das ist eindeutig ein Code-Lexikon, das zur Verschlüsselung und Entschlüsselung geheimer Mitteilungen dient, befindet er. Er legt das Buch zu den Briefen und Fotoalben in eine Kiste, die in Schablonenbuchstaben die Aufschriften BEWEISMATERIAL und OBEN trägt.

Lemuels Vater schüttelt frustriert den Kopf. Sie verstehen nicht. Ich habe das Buch aus dem Großen Krieg mitgebracht. Ein kanadischer Pilot, den ich aus einem

Kriegsgefangenenlager befreite, hat es mir geschenkt. Ich benutze das Buch gemeinsam mit meinem Sohn Lemuel. Ich verwende es als Anleitung für Gymnastikübungen. Mein Sohn lernt damit Englisch.

Wäre das Buch nicht in der Wand versteckt gewesen, könnte Ihre Geschichte glaubwürdig klingen, sagt der leitende Agent.

Lemuels Mutter redet leise und eindringlich auf Lemuels Vater ein. Dieser sagt: Wir haben den Fehler gemacht, dem Jungen zu sagen, daß englische Bücher verboten seien. Als er sah, daß Sie das Wohnzimmer durchsuchen, muß er unter den Schrank gekrochen sein und es in der Wand versteckt haben, um weiterhin Englisch lernen zu können. Der Vater lächelt seinem Sohn verkrampft zu. Das Royal Canadian Air Force Exercise Manual ist sein kostbarster Besitz.

Plötzlich schauen alle Lemuel an, der in der Zimmerecke kauert. Stimmt es, daß du mit diesem Buch Englisch lernst? fragt ihn einer der gesichtslosen Männer.

Lemuel, der am ganzen Körper zittert, schüttelt den Kopf. Von Schluchzern unterbrochen, die ihm das Atmen schwermachen, wimmert er immer und immer wieder: Ich hab das Code-Lexikon nicht versteckt.

Lemuels Mutter fängt an zu weinen. Sein Vater streicht mit dem Handrücken über den Handrücken seiner Mutter. Mit Ihrer Erlaubnis, sagt sein Vater zu den gesichtslosen Männern, hole ich meine Toilettensachen aus dem Badezimmer.

»Es ist mein Buch!« hört Lemuel sich schreien. Gütiger Gott, er ist vierzig Jahre lang durch eine Wüste gewandert, aber besser spät als nie.

Plötzlich sehen wieder alle im Haus Lemuel an. »Von welchem Buch sprechen wir denn, Sportsfreund?« erkundigt sich Mitchell.

Lemuel zieht den ausgehöhlten Hite-Report aus dem Bücherstapel und reicht ihn Mitchell. Doolittle und Mitchell wechseln triumphierende Blicke. Der Rebbe will die Treppe hinaufsteigen, aber einer der Klone stellt sich ihm in den Weg. Mitchell nimmt das Buch, schlägt es auf und betastet die Röhrchen und Päckchen mit der Fingerspitze.

»Das ist ein Drogenversteck«, sagt er, sichtlich überrascht.

»Das kenne ich d.«, setzt der Rebbe an, aber Lemuel fällt ihm ins Wort.

»Yo, Ascher, darf ich das bitte auf meine Art erledigen, ja? Ich entschuldige mich dafür, daß ich Ihre Gastfreundschaft mißbraucht habe. Ich brauchte ein Versteck dafür.«

»Warum erzählen Sie diesen wildgewordenen Typen, daß das Buch Ihnen gehört?«

»Weil es im Grunde genommen die Wahrheit ist.«

»Ich dachte, wir sollten hier einen israelischen Agenten verhaften«, mault einer der Klone.

»Wir haben auch nichts dagegen, einen großen Fisch an Land zu ziehen«, sagt Doolittle.

»Denken Sie an die Möglichkeit«, sagt der Rebbe gekränkt zu Doolittle, »daß es als Antisemitismus ausgelegt werden kann, einen angeblichen israelischen Agenten als kleinen Fisch zu bezeichnen.«

Lemuel lächelt dem Rebbe unsicher zu. »Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Ascher. Ich kann zu Ihnen sagen, daß Sie ein gleichgesinnter Homo chaoticus geworden sind. Das Chaos, das mich wie ein Schatten begleitet – manchmal ist es vor mir, manchmal hinter mir –, liebe ich nach wie vor nicht, aber ich glaube, ich kann jetzt mit ihm leben.«

»Sie stecken bis zum Hals in der Scheiße«, warnt Mitchell Lemuel. »Man hat schon von Drogenhändlern gehört, die nach vielen Jahren im Knast verrottet sind.«

»Im Knast«, wendet Lemuel ein, »wäre ich nicht in der Lage, komplizierte statistische Varianten in großen Stichproben von Daten zu identifizieren, bei denen es sich um das schwächste Glied auch fast vollkommener Zufälligkeit handelt. Ich wäre nicht in der Lage, irgendeinen Code zu knacken, der heute auf der Welt benutzt wird.«

»Hört sich ja fast an, als stünden wir in Verhandlungen«, sagt Mitchell zu Doolittle.

»Ich glaube, hier bahnt sich so was wie ein Deal an«, sagt Doolittle.

»Machen wir reinen Tisch«, resümiert Mitchell. »Wenn wir den Hite Report vergessen, würden Sie dann aus der Kälte kommen und für die Guten arbeiten?«

Doolittle klopft die Details im Kleingedruckten fest. »Sie würden Codes für die ADVA knacken, die eine Unterabteilung von PROD ist, das eine Unterabteilung der NSA ist?«

»Ich stelle eine Bedingung«, sagt Lemuel. »Lassen Sie den Rebbe in Ruhe.«

»Opfern Sie sich nicht für mich«, fleht der Rebbe Lemuel an. »Ich habe Freunde in hohen Positionen.«

»Nennen Sie mir einen, Sportsfreund«, sagt Mitchell hämisch.

Der Rebbe richtet sich zu seinen vollen einsfünfundfünfzig auf. »Jahwe.«

Mitchell ist nicht beeindruckt. »Für welche Behörde arbeitet der?«

Lemuel fragt mit unbewegter Miene: »Yo! Sie haben noch nie von Strichweise Jahwe gehört? Der Typ ist meistens nicht so ganz auf dem laufenden, was so manches auf der Rückseite der New York Times erklärt, wie beispielsweise den Holocaust, aber er ist definitiv ein Macher. Es tut sich nicht viel in den Korridoren der Macht, wovon er keine Kenntnis hat.«

Die Schläfenlocken des Rebbe schlagen Kapriolen. »Gepriesen sei der Herr«, ruft er. »Endlich haben Sie den Sprung gewagt.« Seine Handgelenke schießen aus seinen gestärkten Manschetten hervor, als er die Arme hochwirft und Jahwe von Mann zu Mann anredet. »Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Strick des Vogelfängers«, jubelt er. »Der Strick ist zerrissen, und wir sind los.«

»Der redet Kauderwelsch«, sagt einer der Klone.

»Was ich rede«, korrigiert ihn der Rebbe mit einem biblischen Glimmen in den glänzenden talmudischen Augen, »ist Psalm 124, Vers 7. Sela.«