3. KAPITEL

»Ich war mit Handschellen an eine Filmkritikerin gefesselt, die ebenfalls die Petition unterschrieben hatte«, schreit Lemuel, um den Krach zu übertönen, den er nicht als Musik anerkennen will. »Ich habe gehört, daß sie drei Jahre in einem sibirischen Gulag war und zur Essenszeit Eiszapfen aus Milch gelutscht hat.«

»Und wie haben Sie Ihren Kopf aus der Schlinge gezogen?« ruft ein Verbindungsbruder, der zu Sakko und Krawatte einen Footballhelm trägt.

»Hey, genau, wie eigentlich?« erkundigt sich Rain und nimmt mit kokettem Lächeln einen Schluck Wein.

»Unser Lem hier hat die Petition unterschrieben, der Bulle hat ihn kassiert und zum Verhör geschleppt«, rekapituliert Dwayne, der Manager vom E-Z Mart, mit lauter Stimme, »aber sie haben ihn nicht angeklagt. Also muß er einen Kniff angewandt haben.«

»Einen Kniff?«

»Einen Trick«, erklärt Dwaynes Freundin Shirley. »Einen Schlich«, ergänzt Dwayne. »Eine Kriegslist.«

Lemuel lächelt säuerlich. »Ich habe in der Tat einen Kniff angewandt: ich hatte zwei Unterschriften«, schreit er. »Die eine war für meinen Personalausweis oder mein Soldbuch oder meine Anträge auf Erteilung eines Ausreisevisums. Die andere habe ich dort verwendet, wo es nützlich sein konnte, hinterher abzustreiten, daß es meine Unterschrift ist. Als ich endlich verhört wurde, sagte ich, jemand anderer hätte meine Unterschrift gefälscht. Ein Graphologe wurde hinzugezogen, und sie ließen mich laufen.«

»Das muß doch verdammt gefährlich gewesen sein, als Antikommunist in einem kommunistischen Land zu leben«, bemerkt Rain.

»In Rußland haben wir ein Sprichwort – es ist gefährlich, recht zu haben, wenn die Regierung im Unrecht ist.«

Lemuel dreht sich um und sieht den Paaren im angrenzenden Raum zu. In dem Schummerlicht sieht es aus, als ob sie auf und ab hüpfen, die Köpfe zur Seite hängend, als hätten sie sich den Hals gebrochen. Er beugt sich näher zu Rain hin und schreit ihr ins Ohr: »Sieht aus.« Der Krach hört so abrupt auf, wie er begonnen hat. ». wie kollektiver Schluckauf«, hört er sich schreien. Er errötet.

Die drei Musiker in einer Ecke des Raums stimmen einen Slowfox an. Shirley sinkt Dwayne in die Arme, und die beiden schleichen im Takt der Musik übers Parkett.

»Hey, getanzt wird doch bestimmt auch in Rußland?« mutmaßt Rain. Lemuel spürt, wie ihr Atem ihm das Ohr wärmt. »Wie war’s, wollen wir.« Ihr Zeigefinger beschreibt einen Kreis.

»Ich weiß nicht, ob ich weiß.« will Lemuel protestieren, aber Rain trinkt auf einen Sitz ihren Wein aus, läßt das leere Glas am Stiel baumeln, zieht Lemuel in den anderen Raum und schmiegt sich in seine Arme. Er spürt das Weinglas im Nacken, er spürt ihre Brüste an seiner Brust, er spürt ihre Schenkel an seinen Beinen und riecht ihren Lippenstift. Unwillkürlich kommt ihm das »Oj« des Rebbes von den Lippen.

Rain drückt ihren Mund an sein Ohr. Es kitzelt richtig, wenn sie etwas sagt. »Die Geschichte mit den zwei Unterschriften – wann war das?« will sie wissen.

»Vor acht Jahren.«

»Ich kann mich an etwas erinnern, was sich vor dreiund zwanzig Jahren zugetragen hat«, sagt sie träge, »ich erinnere mich an meine Geburt.«

»Das erfinden Sie doch, oder? Ich erinnere mich nicht einmal an meine Kindheit, hauptsächlich deshalb, weil ich keine hatte.«

»Nein, ehrlich, ich erfinde das nicht. Ich war noch sehr jung bei meiner Geburt, aber wer ist das nicht? Trotzdem erinnere ich mich an jede Einzelheit. Ich erinnere mich an das feuchte Dunkel und dann die Kälte und das blendende Licht. Ich erinnere mich, daß mich jemand verkehrt herum gehalten und mir einen Klaps auf den Po gegeben hat. Soll ich Ihnen die schmutzigen Details beschreiben?«

»Ein andermal vielleicht.«

Sie schlurfen schweigend über die Tanzfläche. Nach einer Weile kitzelt ihn Rains Stimme wieder am Ohr. »Sie sind verheiratet?«

»Ich war verheiratet. Ich bin geschieden.«

»Wie oft waren Sie verliebt?«

Lemuel möchte mit den Achseln zucken, aber es geht nicht so recht, weil Rain an seinen Schultern hängt. »Vielleicht einmal. Einmal. Ja, einmal.«

»Klingt, als ob Sie sich nicht sicher sind.«

»Doch, ich bin sicher. Ich war einmal verliebt.«

»In Ihre Frau?«

»Ich hab mich im Leningrader Hochzeitspalast eingefunden, um meinen Namen in das Buch unter dem Leninbild zu schreiben, weil der Vater meiner Braut Direktor des Steklow-Instituts für Mathematik war und ich alles dafür gegeben hätte, an diesem Institut arbeiten zu können. Außerdem hatte seine Tochter eine Sechzigquadratmeterwohnung ganz für sich allein.«

»Aber in wen waren Sie dann verliebt, wenn nicht in Ihre Frau?«

»In ein Mädchen.. Ich habe nie erfahren, wie sie hieß, nie mit ihr gesprochen.«

»Sie haben mit ihr gebumst, stimmt’s?« Lemuel wirft verlegen den Kopf herum. »Das kapier ich nicht. Wenn Sie nie mit ihr gesprochen haben, wenn Sie nie mit ihr gebumst haben, dann ist es, auch wenn sie existiert hat, genauso, als hätte es sie nie gegeben. Sie war eine Ausgeburt Ihrer Phantasie.«

»Sie war real«, beharrt Lemuel, aber Rain verfolgt ihren eigenen Gedankengang.

»Ich versteh nicht, wie man Leidenschaft für jemand empfinden kann, den es gar nicht gibt.«

Lemuel versucht, das Thema zu wechseln. »Ich nehme an, Sie waren schon oft verliebt.«

Rain lacht. »Öfter als oft. Ich war schon ein paar dutzendmal kurzfristig verliebt. Vielleicht sogar ein paar hundertmal.«

»Was heißt kurzfristig«?«

»Dreißig Sekunden. Zwei Minuten. Zehn.«

»Wieviel Zeit muß vergehen, bevor Ihre Liebesaffären ernst werden?«

Rain ist gekränkt. »Die dreißig Sekunden oder zwei Minuten oder zehn ist es mir sehr ernst. Während ich liebe, bin ich verliebt.« Sie drückt ihren Minirock zwischen Lemuels Schenkel. »Und wenn ich verliebt bin, liebe ich im allgemeinen.«

»Und wie wir’s mit einer Liebesaffäre, die einen Monat oder ein Jahr dauert? Wie wär’s mit einer Ehe?«

»Mit der Ehe hab ich’s schon probiert«, klärt Rain ihn auf. »Hat mir nicht gefallen. Dann hab ich’s mit Scheidung probiert.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Mir kam’s vor wie eine ganze Eiszeit, aber es waren nur zwei Monate.«

»Was hat Ihnen an der Ehe nicht gefallen?«

»Mein Verflossener war gut im Bett, aber nicht bei mir.«

»Er hat Sie betrogen.«

»Er hat seine Freundinnen gebumst, falls Sie das meinen. Genau wie ich. Ich hab auch meine Freunde gebumst. Aber deswegen hab ich ihm nicht den Laufpaß gegeben.« Rain erzählt Lemuel, daß ihr Verflossener bei der Hochzeit Reis statt Vogelfutter ausgestreut hat. »Ich hätte eigentlich das Menetekel gleich sehen müssen«, ergänzt sie, »ich hätte ihn auf der Stelle verlassen sollen.«

Lemuel läßt nicht locker: »Aber Sie haben sich doch nicht wegen der Reiskörner scheiden lassen.«

Rain beugt sich zurück und sieht ihn forschend an. »Sie denken, die Story mit den Vögeln ist aus der Luft gegriffen?« Statt die Achseln zu zucken, zieht er die Augenbrauen hoch. Sie lächelt lieb, während sie in seine Arme zurückkehrt. Als sie wieder etwas sagt, ist ihre Stimme belegt. »Ich hab die ganze Zeit versucht rauszukriegen, wie Vernon mich haben wollte, und dann hab ich versucht, so zu sein. Nach ein paar Wochen auf diesem Karussell wußte ich nicht mehr, wer ich war. Hab mich aus den Augen verloren.« Ein schrilles Lachen bleibt ihr im Hals stecken. »Jetzt programmier ich mich nicht mehr. Ich versuch nicht mehr, so zu sein, wie irgendein Kerl mich haben will.« Sie holt tief Luft. »Ich bin verdammt noch mal, was ich bin.«

Ganz leise sagt Lemuel: »Sie werden sein, die Sie sein werden.«

Rain ist verblüfft. »Ja, genau das ist es. Was man sieht, ist, was man kriegt.«

Lemuel denkt an Nachmans Schilderung von Eva im Garten Jahwes. »Was ich sehe«, murmelt er verlegen, »ist eine versöhnende. Originalität.«

Rain bleibt wie angewurzelt stehen und sieht ihm tief in die Augen. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht leuchten. »Yo«, sagt sie leise.

Ein barfüßiger junger Mann in einer Dschellaba kommt hereingestürmt und sagt etwas zu den Musikern. Die Musik bricht jäh ab. Die Musiker verstauen ihre Instrumente und gehen hinter dem jungen Mann her aus dem Raum. Dwayne versucht Shirley zu überreden, mit den Musikern nach unten zu gehen. Sie streiten sich im Flüsterton. Shirley schüttelt hartnäckig den Kopf. Lemuel hört sie sagen: »Ich bin heute einfach nicht in der Stimmung, Schatz.« Verärgert stakst Dwayne allein hinaus. Shirley wirft Lemuel quer durch den Raum Blicke zu und schiebt sich einen Kaugummistreifen in den Mund.

Rain schmiegt sich wieder in Lemuels Arme und tanzt weiter. »Anscheinend fangen die jetzt unten mit den Videos an«, klärt sie ihn auf. Ohne den Tanz zu unterbrechen, drückt sie den Mund an sein Ohr und macht einen Trommelwirbel nach.

»Was ist das?«

»Trommeln.«

»Trommeln?«

»Die Trommeln, die ich im Kopf höre, verstehen Sie?«

»Wahrscheinlich nichts Ernstes.«

»Hören Sie sie nicht?« Sie lehnt ihren Kopf an Lemuels Ohr. »Hören Sie genau hin. Ratata, ratata. Ich hör sie. Es ist eine Botschaft in Morsezeichen. Direkt in meinem gottverdammten Ohr.«

»Was für eine Botschaft?«

»Die Botschaft lautet: ›Du wirst alt.‹ Sie lautet: ›Nicht mehr lange, und du wirst durchsichtige Blusen tragen, und keiner wird hinsehen.‹ Sie lautet: ›Du hast noch nichts mit deinem Leben angefangen, außer daß du dich abstrampelst. Du bist so besessen von Safer Sex, daß du gar keinen Sex mehr kriegst.« An manchen Tagen hör ich die gottverdammten Trommeln gar nicht. Aber sie sind immer da. Wenn ich die Augen schließe und mich darauf konzentriere, hör ich sie. Ratata. Ratata.«

»Sind Sie nicht noch ein bißchen zu jung, um sich Sorgen übers Altwerden zu machen?«

Verärgert rückt Rain von ihm ab. »Man ist nie zu jung, um sich übers Altwerden Sorgen zu machen. Ich hab D. J.s Russische Literatur 404 belegt – da geht’s hauptsächlich um L. N. Tolstoi –, um meine Scheine in Geisteswissenschaften zusammenzukriegen. L. N. Tolstoi, den kennen Sie doch, oder? Der hat mal was in der Art gesagt, daß eins im Leben sicher ist, nämlich daß man lebt und deswegen stirbt. Die einzige Zeit, wo der Körper nicht am Sterben ist, ist, wenn man bumst. Das ist jetzt von mir, nicht von Tolstoi. Lächeln Sie nicht so überheblich wie alle Männer, wenn sie was nicht verstehen – das ist eine gottverdammte wissenschaftliche Tatsache. Wenn man bumst, bleibt die Zeit stehen. Wenn man bumst, gibt es sowas wie ›Zeit‹ überhaupt nicht.« Rain wirft das leere Weinglas zielsicher in einen Papierkorb. »Volltreffer«, murmelt sie. »Ich muß mal pinkeln.«

Während Rain durch eine Tür verschwindet, steuert Shirley in Schlangenlinien auf Lemuel zu. Sie trägt hochhackige Schuhe, einen wippenden Minirock und einen handgestrickten Pullover mit Schulterpolstern.

»Super Party«, sagt sie.

Lemuel nickt halbherzig.

Sie hält ihm einen Kaugummi hin. Lemuel schüttelt den Kopf. »Ich hab Sie vom Supermarkt wiedererkannt«, sagt Shirley, schiebt sich den frischen Kaugummi zu dem anderen in den Mund und kaut munter drauflos, »aber ich kann mich nicht erinnern, Sie schon mal bei einer Delta-Fete gesehen zu haben.«

»Ich habe noch nie an einer Delta-Fete teilgenommen.«

»Sie sind ein ungeladener Gast«, ruft Shirley aus. »Ich mag Männer, die nicht eingeladen sind. Tanzen Sie oder so?«

Lemuel zieht sich an eine Wand zurück und räuspert sich. »Es spielt keine Musik mehr.«

Sie macht einen Schmollmund. »Das hält Sie aber nicht ab, mit dem Tender zu tanzen.«

Sie sinkt Lemuel in die Arme, so daß er keine Wahl hat. »Ich heiße Shirley«, verkündet sie. »Ich bin Dwaynes Herzblatt. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Unbeholfen versucht sie zu tanzen, verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Das war ja eine super Geschichte, die Sie da vorhin erzählt haben, von den zwei Unterschriften. Ich kann meinen Namen rückwärts schreiben. Yelrihs.«

Lemuel blickt sich hilfesuchend um. Im anderen Raum sieht er den Rebbe, der in gespielter Bewunderung den Kopf wiegt.

An Lemuels Hals hängend, sagt Shirley: »Dwayne und ich, wir haben Marihuana vom Tender geraucht, bevor wir hierher gekommen sind. Ich bin so high, zwei Stunden hab ich solche Schmerzen gehabt, aber die sind wie weggeblasen.«

Sachte macht Lemuel Shirleys Handgelenke von seinem Hals los. Sie packt ihn am Ärmel. »Sie sprechen mit Akzent«, bemerkt sie. »Ich mag Männer, die nicht eingeladen sind und komisch reden.« Als Lemuel sich von ihr losreißt, bedrängt sie ihn: »Ich könnte Ihnen beibringen, Ihren Namen rückwärts zu schreiben.«

Lemuel tritt den Rückzug an. »Oh, Scheiße«, stöhnt Shirley. »Ich bin einfach nicht so gut wie Rain.«

Lemuel geht langsam zum Rebbe hinüber, der sich angeregt mit D. J. unterhält. Er unterbricht sich, um Lemuel zu begrüßen. »Hekinah degul. Nennen Sie das Studieren? Andererseits, wer könnte behaupten, daß man auf einer Verbindungsparty nichts über das Chaos lernen kann?«

D. J., noch ganz in Gedanken, läßt Lemuel über den Kopf des Rebbes hinweg ein höfliches Lächeln zukommen. »Sie waren bei Sodom«, erinnert sie Nachman.

Der Rebbe nimmt den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf. »Ich habe heute nachmittag den Anfang von Genesis 18 gelesen. Das ist da, wo Abraham es Jahwe ausreden will, alle Einwohner von Sodom umzubringen. – Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?« fragt ihn Abraham. Abraham ist durchaus dafür, die Sünde auszurotten, aber nicht auf die Gefahr hin, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Jahwe zerstört Sodom dennoch. Er bringt die Gerechten mit den Gottlosen um. Fragt sich nur: Warum?«

»Er ist faul«, mutmaßt D. J. »Er will sich nicht die Mühe machen, die Spreu vom Weizen zu sondern.«

Rain gesellt sich zu ihnen. »Wer ist faul?« fragt sie D. J. »Ihre Koteletten sehen phantastisch aus«, sagt sie zu Nachman. »Wann strecken Sie endlich die Waffen und verraten mir das Geheimnis?«

»Hekinah degul«, erwidert der Rebbe. »Meine Schläfenlocken sind top secret.«

D. J. hat für Rain nur ein kaltes Lächeln übrig. »Guten Abend, meine Liebe.«

»Warum bringt Jahwe die Gerechten mit den Gottlosen um?« will Lemuel wissen.

»Ich bin froh, daß Sie das fragen«, sagt der Rebbe. »Weil Jahwe durch und durch aus Zufälligkeit besteht. Er hat Zufälligkeit im Blut, in den Knochen, im Kopf. Zufälligkeit ist Sein modus operandi. Wenn Er bestraft, bestraft Er zufällig, also wahllos. Daher erfahren wir erst am Ende der Story, ob Sein auserwähltes Volk am Schluß gesund und munter im Land, wo Milch und Honig fließet, leben oder mausetot in der Wüste liegen wird. Nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte, wo Jahwe auf dem Berg Sinai herumhängt, das ist Exodus Kapitel 19. Er weist Moses an, die Juden, die unten im Glutofen der Wüste schmachten, davor zu warnen, Ihn anzuschauen, sonst müßten viele von ihnen zugrunde gehen. Okay, vielleicht hatte Er da einen schlechten Tag – Zahnschmerzen, eine Magenverstimmung, Durchfall, was weiß ich. Der Sinai war nicht gerade ein Club Med. Aber muß Er deshalb gleich ein Kapitalverbrechen daraus machen, daß jemand Ihn ansieht? Wir können nur folgern, daß Er da eine launische Phase hat. Einmal droht Er, Isaak umzubringen, ein andermal schickt Er einen Todesengel, der Jakob um die Ecke bringen soll, und bei einer dritten Gelegenheit versucht Er höchstpersönlich, Moses zu ermorden, Seinen gesalbten Stellvertreter – ich spreche von Exodus Kapitel 4, Vers 24 bis 26. Ha! Mit Jahwe auf unserer Seite, wozu brauchen wir Juden da noch Feinde? Er droht so oft, wie andere Leute furzen – einmal in die Frucht vom Baum der Erkenntnis gebissen, und es ist um dich geschehen, schau Mich an, und du trittst vor deinen Schöpfer, rühr Meine Lade an, und du kriegst einen tödlichen elektrischen Schlag. Ich spreche vom ersten Buch Chronika, Kapitel 13.« Mit schräggehaltenem Kopf rezitiert der Rebbe hingerissen den Text als eine Art Singsang: »Und sie ließen die Lade Gottes auf einem neuen Wagen führen, aus dem Hause Abi-Nadabs. Usa aber und sein Bruder trieben den Wagen. David aber und das ganze Israel spielten vor Gott her, aus ganzer Macht, mit Liedern, mit Harfen, mit Psaltern, mit Pauken, mit Cymbeln und mit Posaunen. Da sie aber kamen auf den Platz Chidon, reckte Usa« – dieser arme Teufel, das sage ich, nicht die Bibel – »seine Hand aus, die Lade zu halten; denn die Rinder schritten beiseit aus. Da erzürnte der Grimm des Herrn über Usa, und schlug ihn, daß er seine Hand hatte ausgereckt an die Lade.« Der Rebbe bebt vor Empörung. »Erwägen Sie bitte die Möglichkeit, ja, ich spiele sogar mit dem Gedanken an Wahrscheinlichkeit, daß dieser Gott unserer Väter, dieser Jahwe, geheiliget werde sein Name, einen Charakterfehler hat. Dieser Charakterfehler besteht darin, daß Er nur mit Leuten klarkommt, die Ihn fürchten. ›Dienet dem Herrn mit Furcht‹, rät uns der Psalmist, ich spreche vom 2. Psalm, Vers 11. Und wodurch erzeugt Jahwe die Gottesfurcht? Indem er unberechenbar ist, dadurch. Mit anderen Worten, indem er nach dem Zufallsprinzip straft.«

»Ich versteh, was Sie meinen«, sagt Rain. Drei Köpfe drehen sich langsam zu ihr hin. »Wenn Gott nicht nach dem Zufallsprinzip strafen würde ja? –, wenn Er nur beglaubigte Sünder oder stotternde Blondinen oder linkshändige Lesbierinnen umbrächte, wüßte jeder, wo er dran ist. Man wüßte, ob man ein potentielles Opfer ist oder nicht. Und diejenigen, die sich ausrechnen würden, daß sie keine potentiellen Opfer sind, würden Gott nicht fürchten. Ich meine, wieso auch? Wieso Gott fürchten? Wenn man kein potentielles Opfer ist? Aber weil Gott nach dem Zufallsprinzip straft, könnte jeder ein tatsächliches Opfer werden, ohne je gewußt zu haben, daß er ein potentielles Opfer ist. Und nach dem Motto ›sicher ist sicher‹« – Rains Stimme versickert allmählich – »fürchten deshalb alle Gott, hab ich nicht recht?«

»Ich hätte es vielleicht eleganter formuliert«, erklärt der Rebbe, »aber Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Er wendet sich wieder D. J. und Lemuel zu. »Furcht ist Sein Charakterfehler, Zufall ist Sein Laster, Zufall ist Sein Beiname. Jahwe hält das auserwählte Volk durch das Zufallsprinzip auf Trab. Er ist zu dem Schluß gekommen, daß es ohne jir’a, das bedeutet Gottesfurcht, keinen emuna, das bedeutet Gottesglaube, geben kann. Und wer könnte behaupten, daß er nicht recht hat?« Der Rebbe sieht Lemuel mit einem Grinsen an. »Nehmen wir zum Beispiel Sie – Sie strampeln sich ab, um den Zufall aufzustöbern, und dabei haben Sie ihn direkt vor der Nase! Suchen Sie Gott! Sela.«

»Eine eindrucksvolle Vorstellung«, bemerkt Lemuel sanft. »Aber Jahwes Zufälligkeit, angenommen, Er existiert, und angenommen, sie existiert, ist weder rein noch unverfälscht. Sie erscheint uns bloß als Zufälligkeit, weil wir nicht genug über Jahwe wissen und darüber, was in seinem Kopf vorgeht. Am Schluß wird sich Jahwes Zufälligkeit als dasselbe entpuppen wie alle Zufälligkeit – das heißt, als Pseudo-Zufälligkeit, als ein bloßer Fußabdruck des Chaos.«

Der Rebbe zuckt die Achseln, beugt sich zu D. J. und tuschelt mit ihr. Sie errötet und sagt ganz leise »Nicht jetzt«.

Der Rebbe läßt sich nicht beirren. »Vielleicht haben Sie schon einmal von Rebbe Hillel gehört, einem ilui, das bedeutet Genie, wenn es jemals eins gegeben hat. Er hat im zweiten Jahrhundert gelebt und ist unter anderem bekannt für den Spruch: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Rain packt Lemuel am Ellbogen und zieht ihn zur Tür. »Wohin bringen Sie mich?« erkundigt er sich.

Das spöttische Gelächter des Rebbes verfolgt ihn. »Denken Sie daran, was Augustinus, der Achetyp eines Goi, einmal gesagt hat«, ruft er ihm nach. »›Herr, mache mich keusch, aber noch nicht gleich.‹«

»Ich bringe Sie in den Bauch der Erde«, verrät Rain ihm fröhlich und zieht ihn die Wendeltreppe zum Kellergeschoß hinunter. Sie müssen sich durch Jungen und Mädchen durchschlängeln, die auf den Stufen sitzen und eine Zigarette herumgehen lassen.

»Yo, Rain«, sagt einer der Jungen. »Wir sitzen fast auf dem trockenen.«

Ein gutaussehender Junge mit schwarzen Haaren und einem Raubvogelgesicht hält Rain am Knöchel fest. »Wir könnten Nachschub gebrauchen.«

Rain macht sich los. »Du kannst mich mal«, gibt sie zurück, »im Salon besuchen.«

Lemuel fällt auf, wie konzentriert die Jungen und Mädchen der Zigarette mit den Blicken folgen. Ein Rauchwölkchen steigt ihm in die Nase. Der Duft kommt ihm irgendwie bekannt vor.

Als sie an einer offenen Tür am Fuß der Treppe vorbeigehen, sieht er ein halbes Dutzend Jungen in violetten Strickjacken, auf die ein großes gelbes »BU« aufgenäht ist, um einen blanken Holztisch mit mehreren Krügen in der Mitte herumsitzen. Eine Studentin, der die langen Haare übers picklige Gesicht fallen, füllt aus einem der Krüge winzige Schnapsgläser. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. »Okay … jetzt«, sagt sie. Die Jungen heben die Gläschen hoch und kippen den Inhalt.

»Kinderkram«, meint Rain und bugsiert Lemuel zu einem Zimmer am Ende des Gangs. »Ich zeige Ihnen, womit sich erwachsene Menschen die Zeit vertreiben.«

Sie zieht Lemuel in das Zimmer. Schwarzweißbilder flimmern auf einem Fernsehschirm. Dunst treibt träge durch das schwach flackernde Licht. Lemuel schnuppert. Das erinnert ihn an. ah! Die Regenwolke, die über Nachmans Börsenseiten gehangen hat. Er atmet den Rauch ein, ihm wird schwindlig.

Eine Stimme aus dem Dunkel: »Hey, Rain.«

»Yo, Warren.«

»Bist ja doch da.«

»Pssst.«

»Psssssst«, sagt jemand zu dem, der »Pssst« gesagt hat.

»Ist doch sowieso ohne Ton«, sagt Rain. »Warum dürfen wir dann nicht reden?«

»Ist das deine neue Masche, Rain«, fragt ein anderer, »Gräber schänden?«

»Fick dich ins Knie, Elliott«, antwortet Rain flüsternd. »In mancher Hinsicht – aber das geht über deinen Horizont – ist er jünger als wir beide zusammen.«

»Verwechselst du da nicht Jugend mit Unschuld?« lacht Elliott.

»Wenn ihr hochgeistige Gespräche führen wollt, verzieht euch nach oben«, meckert Dwayne.

»Jetzt haltet endlich die Klappe«, ruft jemand anders.

Die Rauchschwaden verdunkeln den Fernsehschirm. Auf eine Geste von Rain hin läßt sich Lemuel umständlich auf einem Kissen nieder und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er allmählich etwa ein Dutzend Jungen und Mädchen eng beisammen auf niedrigen Sofas und Kissen. Mehrere sind scheinbar zusammengewachsen wie siamesische Zwillinge. Aus der dunkelsten Ecke des Zimmers kommt ein kehliges Schnurren wie von einer Katze, die gestreichelt wird.

Rain schiebt ihre Arme unter die von Lemuel. »Das ist vielleicht einer der besten Fickfilme, die ich je gesehen hab«, haucht sie.

Lemuel klopft panisch seine Jackentaschen ab, auf der Suche nach seiner Brille, setzt sie sich unbeholfen auf und heftet den Blick auf den Fernseher. Mittlerweile von dem Mief ziemlich berauscht, hat er das Gefühl, verkehrt herum durch ein Opernglas zu schauen. Alles ist so unglaublich klein. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, blinzelt heftig und konzentriert sich auf die winzigen Bildchen auf dem Fernsehschirm. Trotz des Qualms erkennt er drei silbrige Gestalten, die scheinbar eine Art stilisiertes Ballett ohne Musik aufführen, sich abwechselnd übereinander beugen und einander aufspießen.

»Elliott, kannst du nicht zurückspulen und das Ganze nochmal in Zeitlupe abspielen?« fragt Dwayne.

Jemand, der auf der Couch sitzt, löst sich von seinem siamesischen Zwilling und richtet ein kleines schwarzes Kästchen auf den Fernseher. Der Film läuft im Schnellgang rückwärts. Mit einem Ruck trennen sich die ineinander verzapften Gestalten, und alles lacht. Das Bild erstarrt für einen Moment, dann beginnt das Ballett von vorne, diesmal in Zeitlupe.

In der dunkelsten Ecke stöhnt ein Junge: »Nein, hör um Gottes willen nicht auf.«

Ein Mädchen kichert leise. »Aber ich muß mal Luft holen.«

»Jetzt mach schon weiter, hm?«

»Pssst.«

»Oj!«

 

Als Lemuel Rain nach dem Film nach Hause begleitet, verliert er sich in einem betörenden Wachtraum. Er ist fünfundzwanzig Jahre jünger und Student an der mathematischen Fakultät der Lomonossow-Universität auf den Leninbergen mit Blick auf Moskau. Naheinstellung von Lemuel als Mauerblümchen bei einem Komsomol-Tanzvergnügen in einem Kellerraum des Kulturzentrums. Plötzlich werden die Lampen abgedunkelt, und Rockmusik dröhnt aus den Lautsprechern. Großaufnahme von Lemuel, wie er nach links schaut und feststellt, daß er einen siamesischen Zwilling an der Hüfte hängen hat, ein Mädchen mit langem, dunkelblondem Pferdeschwanz. Verschiedene Einstellungen von Studenten, die sich in quälend langsamer Zeitlupe bewegen, selbstgedrehte Zigaretten anzünden und aneinander aufspießen. Schwenk auf Lemuels siamesischen Zwilling, als dieser sich an ihn schmiegt. Auf Lemuels Gesicht: Er spürt, wie eine ihrer Brüste seinen Arm streift, riecht ihren Lippenstift. »Kinderkram« ruft sie, um die Musik zu übertönen. Ihre Worte kitzeln ihn am Ohr. Schneller Schnitt auf den siamesischen Zwilling, der nach dem Nachtfalter in seiner Hose greift. »Ich zeige Ihnen, womit sich erwachsene Menschen die Zeit vertreiben.«

Oj.

Rain, die neben Lemuel hergeht, bemerkt seinen ins Leere gerichteten Blick. »Einen Rubel für Ihre Gedanken?«

»Es gibt keinen Rubel mehr, jedenfalls keinen, der noch was wert wäre.«

Rain will das Flämmchen der Unterhaltung am Leben erhalten, prallt aber an seinem gutturalen »Mhm« ab. Sie kommen an einem 24-Stunden-Waschsalon vorbei, biegen in eine ungepflasterte Gasse ein, bleiben an einer schmalen Holztreppe stehen, die in den ersten Stock eines Hauses hinaufführt. Rain haucht auf ihre Fäustlinge, um sich die Finger zu wärmen, und wendet sich Lemuel zu. Sie sieht ihn an und versucht, zu einem Entschluß zu kommen.

Lemuel streckt ihr die Hand hin. »Ich danke Ihnen für den interessanten Abend.«

Rain übersieht seine Hand, bemüht sich um einen ironischen Tonfall. »War mir ein Vergnügen. Wie hat Ihnen denn der Porno gefallen?«

»Der Porno?«

Sie tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. »Der Pornofilm. Es wird doch wohl auch in Rußland solche Filme geben, oder? Würde mich interessieren, wie die amerikanische Pornographie im Vergleich dazu abschneidet.«

Ein aufgeregtes Grunzen entweicht Lemuels Kehle. »Ich hab verkehrt herum durchgeschaut. die Gestalten waren zu klein.«

»Sie haben ihn gar nicht gesehen?« Sie kann ihm die Antwort vom Gesicht ablesen. »Wachen Sie auf, L. Falk. Sie sind nicht bloß ein Stockfisch, Sie sind ein Weichkäse. Wenn ich auch nur halbwegs bei Verstand war, gab’s für mich nur eins: Verschwinde hier wie Wladimir! Da seh ich mir extra einen Hardcore-Film mit Ihnen an, und Sie gucken, verdammt noch mal, gar nicht hin! Wie soll ich Sie denn sonst scharf machen?«

»Mich scharfmachen?«

»Sie in Stimmung bringen. Hochbringen. Das Feuer anfachen für eine größere Verschmelzung.«

Ganz leise sagt Lemuel: »Sie haben mich scharfgemacht, als sie mir die Haare in den Nasenlöchern geschnitten haben. Sie machen mich scharf, wenn Sie ins Zimmer kommen.«

Rain fällt die Kinnlade herunter, dann macht sie den Mund langsam wieder zu, während in ihr ein Entschluß Gestalt annimmt. »Als ob ich Subtext sprechen würde, stimmt’s? Das mit dem Subtext hab ich aus der Einführung in die Psychologie. Man sagt was, meint aber eigentlich was ganz anderes. »›Ich kann nicht‹ bedeutet ›Ich will nicht‹. ›Ich weiß nicht‹ heißt ›Ich will nicht drüber nachdenken‹. Zum Beispiel könnte ich Sie jetzt zum Yjacking einladen.« Sie bemerkt den verständnislosen Blick in seinen Augen. »Yo, ich vergesse andauernd, daß Sie von einem andern Planeten sind. Yjacking ist, wenn man zwei Kopfhörer in ein und denselben Walkman einstöpselt. Wenn ich Sie jetzt zu mir hinauf einlade zum Yjacking, dann ist das, was ich eigentlich sagen will, also der Subtext: ›Ich bin absolut heiß, ich glaube, Sie sind so wenig gewalttätig, daß Sie bei einem gewalttätigen Akt mitmachen können.‹ Verstehen Sie überhaupt, was ich sage, L. Ficker-Falk? Die meisten Kerle sagen ihr Leben lang das eine und meinen das andere. Im Gegensatz zu meiner Wenigkeit, und das ist der Grund, warum ich keine gottverdammten Umschweife mache.« Sie holt tief Luft. »Also was nun, wollen Sie, oder wollen Sie nicht? Mit mir ficken? UAwg.«

»Sie fragen mich«, wiederholt Lemuel die Frage, um sich zu überzeugen, daß er sie richtig entschlüsselt hat, »ob ich. ficken will?«

Rain ist kurz davor, die Waffen zu strecken. »Ja oder nein? Wollen Sie oder wollen Sie nicht?«

»Ficken ist. eine brutale Art. es auszudrücken.«

»Wie würden Sie’s denn sagen? Sich lieben?«

»Sich lieben, ja.«

»Sich lieben geht am Wesentlichen vorbei, L. Falk. Es unterschlägt die Gewalt. Es unterschlägt den Orgasmus.«

»Ich kann verstehen, daß Sie den Orgasmus nicht unterschlagen wollen.«

»Hören Sie gut zu, L. Falk: Ich klaue Sardinen im E-Z Mart, ich klaue Geld aus dem Klingelbeutel, ich mogle beim Strip-Poker und bei der Zwischenprüfung, und ich gebe meine Trinkgelder bei der Einkommensteuererklärung nicht an. Aber ich fälsche keine Wörter, okay? Ich nenne Dinge wie Ficken beim Namen. Und ich simuliere nie einen Orgasmus.«

Lemuel, dem die Worte fehlen, streift einen Handschuh ab, streckt die Hand aus und berührt Rains Wange mit der Rückseite seiner schwieligen Finger. »Sie sind ein junges Mädchen«, sagt er heiser. »Und auch ein schönes Mädchen. Junge Männer würden sonstwas dafür geben, mit Ihnen schlafen zu können. Sie brauchen nur zu lächeln, und schon können Sie alle Liebhaber bekommen, die Ihr Herz begehrt. Sie brauchen nur die Beine übereinanderzuschlagen, wenn Sie diesen kurzen Rock anhaben, und Sie müssen die Polizei rufen, damit sie die Ordnung wiederherstellt. Sie haben es nicht nötig, sich einen alten Mann wie mich ins Bett zu holen. Bitte sehr, sehen Sie mich doch einmal genau an, ich bin ein Stockfisch, ich bin ein Weichkäse, ich bin sechsundvierzig und demnächst hundertsechs, der Rücken tut mir weh, wenn ich bergauf gehe, die Knie tun mir weh, wenn ich bergab gehe. Ich bin auf der Flucht vor dem irdischen Chaos, aber ich trage offenbar mein eigenes Chaos bei mir, wohin ich auch gehe.« Lemuel hebt das Kinn um einen Teilstrich an. »Ich kann aufrichtig zu Ihnen sagen, daß ich kein großartiger Liebhaber bin. Ich kann sogar zu Ihnen sagen, daß ich nicht einmal ein guter Liebhaber bin. Von einem gewissen Alter an wird den Männern der Spaß am Sex durch die Sorge verdorben, daß sie versagen könnten. jeder Orgasmus ist ein Triumph. Ich bin eine schwache Batterie – man drückt auf den Anlasser, man hört ein knirschendes Geräusch, der Motor dreht sich, man hält die Luft an und hofft, er wird anspringen, betet sogar, aber nein, nichts.« Er zuckt die Achseln. »Überhaupt nichts.«

Rain kämpft mit einem Kloß im Hals, einem Schmerz in der Brust. »Hey, es gibt ja auch Starterkabel«, sagt sie, »oder man schiebt das Auto an und läßt es bergab rollen, dann läuft der Motor, auch wenn die Batterie leer ist. Und ehe man sich’s versieht, ist man auf der Interstate und überschreitet die zulässige Höchstgeschwindigkeit.« Sie lehnt sich an ihn und läßt ihre Lippen so leicht an seinen streifen, daß es ihm den Atem verschlägt. »Ich hab die Nase voll von den Aufsteigern«, flüstert sie. »Was ich brauche, ist jemand, der abwärts mobil ist.« Sie hält den Kopf schräg, klimpert mit den Wimpern und sieht ihn an mit den seetanggrünen Augen, die er bestimmt schon einmal gesehen hat. »Hey, was meinen Sie, sollen wir nicht mal Ihre Batterie prüfen, L. Falk. Yo?«

Lemuel überläßt sich einem höchst erfreulichen Gedankenspiel: Er stellt sich vor, was ihm hier geschieht, geschehe ihm tatsächlich. Er mustert sie aufmerksam, um festzustellen, ob sie an Wankelmütigkeit leidet, bevor er sich endlich räuspert.

Was dann herauskommt, ist ein zaghaftes »Yo«.

Zum zweitenmal hält ihm Rain die Hand hin, ohne zu lächeln. Zum zweitenmal nimmt Lemuel sie, ohne zu lächeln. Sie schlagen ein.

 

Ich hab auf den ersten Blick gesehen, daß L. Falk invalide war, sexuell, mein ich, nicht körperlich, ja? Mein Instinkt sagte mir, daß er Schwierigkeiten haben würde, ihn rauszukriegen, geschweige denn hoch. Deshalb bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es ausnahmsweise mal nichts schaden konnte, ein paar gottverdammte Umschweife zu machen. Ich knipste die Deckenlampe aus und stellte den Projektor an, mit einem Stück malvenfarbener Seide vor der Linse. Ich goß ihm einen Schluck billigen Kognak ein, zündete Räucherstäbchen an und probierte es mit Konversation.

»Also, womit genau verdienen Sie sich eigentlich Ihr Geld?«

An Mobiliar hab ich eine niedrige Couch, die ich einmal von einem Laster der Heilsarmee gerettet hab, und ein paar zusammenklappbare Küchenstühle, von denen manche sich noch zusammenklappen lassen und manche nicht, der Zahn der Zeit nagt eben an allem, nicht? Die Wohnung war ein einziges Chaos; es lag nicht daran, daß die Dinge nicht an ihrem Platz waren, sondern ehrlich gesagt eher daran, daß nichts einen festen Platz hatte. Ich verstaute mein Horn in der Badewanne und kickte die dreckige Wäsche unter die Kommode, legte die verstreuten Zeitschriften auf einen Stapel, versteckte die losen Tampons in Maydays Decke und schleifte die Decke, an die sich Mayday mit Krallen und Zähnen klammerte, ins Gästezimmer. Ich wollte nicht, daß meine arthritische Ratte von einer Hündin die Atmosphäre mit einem ihrer lautlosen Furze verpestete; der Tierarzt führt die Furzerei auf ihr Alter zurück, Mayday hat fünfzehn Hundejahre und zwei Hundemonate auf dem Buckel – was, apropos Zufälle, genausoviel ist wie hundertsechs Menschenjahre. Ich schlenkerte meine Schuhe weg, drapierte mich auf die Couch, so daß der Minirock an meiner grünen Strumpfhose hochrutschte, und nahm die Arme hoch, so daß sich meine Nippel von innen gegen mein Hemd drückten. Das letztere ist ein kleiner Trick, den ich gelernt hab, als ich einmal in den Sommermonaten in Atlantic City als Bewährungshelferin arbeitete. (Es ist eine unverschämte Lüge, daß die Bewährungshelferin, also meine Wenigkeit, gefeuert wurde, weil sie mit den auf Bewährung Entlassenen schlief; ich wurde gefeuert, weil ich gestand, bei Woolworth ein Paar Ohrringe für siebenund neunzig Cent geklaut zu haben.) Ich klopfte mit der flachen Hand auf die Couch neben mir, aber L. Falk zog sich einen Klappstuhl heran, drehte ihn herum, so daß die Lehne vorn war, und setzte sich rittlings drauf.

»Ich dilettiere in Chaosforschung«, sagte er, als war’s das, worauf ich mit angehaltenem Atem wartete, als war das eine Antwort auf meine Frage, »aber die große Leidenschaft meines Lebens ist der reine Zufall, den es wahrscheinlich gar nicht gibt.«

»Ich mag Ereignisse, die aus der Reihe tanzen«, sagte ich ihm.

»Aber ich kapier immer noch nicht, wie man Leidenschaft für etwas empfinden kann, was nicht existiert.«

»Ich kann zu Ihnen sagen, leicht ist es nicht.«

Ich sagte ihm, er solle eine Platte auflegen, während ich mir etwas Bequemeres anzog. Ich habe so ein arabisches Gewand; das Gute daran ist, daß es bis zum Nabel ausgeschnitten ist, das Schlechte, daß es kratzt, aber ich dachte mir, es war wohl am besten, alle Register zu ziehen. Ich hatte begriffen, daß L. Falks Nüsse schwer zu knacken sein würden.

Ich war im Schlafzimmer und sprengte die Laken mit Rosenwasser ein, als ein mir unbekanntes Musikstück anfing. »Wo haben Sie denn das gefunden?« rief ich durch die halboffene Tür.

»Auf dem Stapel Schallplatten.«

D. J. hatte den Rebbe zur CD bekehrt, und deshalb hatte der mir ein paar von seinen alten LPs geschenkt, an dem Abend, an dem er mir von der mündlichen Überlieferung im AT und dem Pionier der Geburtenkontrolle namens Onan erzählt hatte. Der Rebbe hätte auch einen Treffer landen können, ich meine, er spielte ein nichtgewalttätiges Spiel und war überzeugend genug, daß ich mitgemacht hätte, das Dumme war nur, daß ich gerade menstruierte.

Erinnern Sie sich an »wandte den Blick ab«? »Menstruieren« gehört in die gleiche gottverdammte Liga.

Wo war ich?

Yo! Als der Rebbe rot gesehen hat, sind seine Augen noch weiter hervorgetreten, er hat was von »unrein« gemurmelt und ihn wieder eingepackt.

Unrein.

Ich.

Sachen gibt’s.

Ich machte die Schlafzimmertür ganz auf und stellte mich so in Positur, daß ich gewissermaßen eingerahmt war. Das hab ich aus einem Lauren-Bacall-Film. Und dann hab ich geschnurrt wie ein Kätzchen: »Was für eine Platte haben Sie denn da aufgelegt?«

»Ein Quintett.« Er drehte sich zu mir um, er sah das arabische Gewand, er folgte dem Ausschnitt bis zum meinem Nabel, er schluckte schwer.

Das Geheimnis von gutem Sex läßt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen, nämlich Vorspiel, stimmt’s? Um wirklich was zu nützen, sollte das Vorspiel allerdings im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht nur vor, sondern auch nach der verruchten Tat stattfinden. Was, anders ausgedrückt, nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als daß es keinen Anfang und kein Ende haben, sondern ewig weitergehen sollte. Offensichtlich verstehen verschiedene Leute verschiedene Sachen unter Vorspiel. In meinem ersten Studienjahr in Backwater hatte ich eine Mitbewohnerin, die eine Massagedusche als Vaginalspray verwendete – sie nannte es die längste Ejakulation in der Geschichte des Universums. Sie hat mir ihre Massagedusche mal geborgt, aber mir war das eine zu nasse Angelegenheit, also bin ich bei meinem bewährten Hitachi-Zauberstab geblieben.

Ich schweife ab.

Vorspiel.

War doch ganz natürlich, daß ich mich aufs Vorspiel konzentriert hab, wie ich L. Falk trotz leerer Batterie zum Anspringen bringen wollte, oder? Als wir eine Ewigkeit Konversation getrieben hatten, konnte ich ihn wenigstens dazu bewegen, es sich auf dem Bett bequem zu machen, obwohl seine Vorstellung von Bequemlichkeit der Lage eines Embryos im Mutterschoß verzweifelt ähnlich sah. Er hat verlangt, ich soll die Nachttischlampen ausknipsen, aber wir haben einen Kompromiß ausgehandelt: Ich hab die eine ausgemacht und die andere auf den Boden gestellt. Ich hatte meine liebe Mühe, ihm die Schnürsenkel zu lösen, in die er, du ahnst es nicht, doppelte Knoten gemacht hatte, und seine Beine zu begradigen.

»Hey, gaaanz locker«, sagte ich mit meiner supersexy Stimme, und fing an, ihm das Hemd aufzuknöpfen. Ich setzte mich auf, griff nach dem Saum vom meinem arabischen Gewand und zog es mir über den Kopf. Ich hatte noch die grünen Strumpfhosen an. Ich beugte mich über ihn und ließ meine Titten über seine Brust streichen. Dann fing ich an, ihm die Nippel zu lecken.

Brustwarzen sind nach meiner unmaßgeblichen Meinung der am sträflichsten vernachlässigte Teil der männlichen Anatomie, die meisten Kerle zerfließen vor Dankbarkeit, wenn man ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkt. Nach einer Weile haben sie sich aufgerichtet, was ich als günstiges Omen, ja als vielversprechendes Zeichen wertete. Ich hab einen Zahn zugelegt – ich machte seinen Gürtel und den Hosenknopf auf, öffnete den Reißverschluß und ließ meine Hand abwärts über seinen Bauch kriechen, der überraschend glatt war – ich hatte Stahlwolle erwartet –, um im Unterholz ein verschrumpeltes weiches Würmchen zu finden, das sich im Gestrüpp versteckte.

Mein Homo chaoticus hatte noch einen weiten Weg vor sich bis zum Homo erectus.

L. Falk wurde schrecklich nervös, zerrte an seiner Hose, nestelte am Reißverschluß herum. »Oj. Ich sage ja, ich bin eine leere Batterie.«

Ich hab mich neben ihm ausgestreckt, ein Bein über ihn drapiert, und meine Hand auf seinem Fimmel gelassen, nicht aggressiv, bloß so, wie man sich an einer Lederschlaufe in der U-Bahn festhält. Und ich hab ihm ins Ohr geflüstert. »Ich weiß ja nicht, wie das in Rußland ist«, hab ich angefangen, oder jedenfalls so ähnlich, »aber du mußt noch viel über uns Amerikanerinnen lerne n. Nichts macht bei uns ein Mädel so heiß wie ein Kerl, der Probleme mit der Potenz hat. Wir haben die Nase voll von den Typen, die immer gleich im Handumdrehen einen Ständer kriegen. Irgend so ein Deckhengst fordert dich zum Tanzen auf, und kaum hält er dich im Arm, muß er dich auch schon mit der Nase auf seine gottverdammte Erektion stoßen, indem er sich an dich preßt. Wo wir eigentlich drauf stehen, worauf wir so richtig scharf sind, ist ein Typ, dessen Sexualität subtiler ist. Du kriegst ihn hoch, verlaß dich drauf, L. Falk, und wenn er dann steht, wird das mein Verdienst sein.«

Das komische war, ich hatte das noch nie gedacht, aber als ich mich das sagen hörte, wußte ich, daß ich wirklich dran glaubte. L. Falk muß auch geglaubt haben, daß ich dran glaubte, denn ich spürte, wie sein Körper, der bis dahin gelinde gesagt wie ein Flitzbogen gespannt war, sich unter mir entspannte und sein Schwanz in meiner Hand härter wurde.

Bizarr, wie ein Körper weich werden kann, wenn sich ein Teil von ihm versteift.

Ich will Sie nicht mit schmutzigen Einzelheiten anöden, ich beschränke mich auf die Highlights. Einmal, als wir uns küßten, kam ich zum Luftholen hoch und sagte zu L. Falk: »Hey, gefällt mir, deine Musik.«

Er dachte, ich meinte die LP vom Rebbe, und sagte atemlos: »Schubert. es ist sein Streichquintett. in C-Dur.«

»C-Dur, wow! Hast du vielleicht ein paar Akkorde drauf, die ich noch nicht kenne?«

Im anderen Zimmer kratzte die Nadel in der Endrille der Platte. »Ich kann sie noch mal auflegen«, sagte er.

Falls ich jemals für die Heiligsprechung nominiert werden sollte – nicht lachen, das ist nicht so weit hergeholt, wie es scheinen mag –, wird auf der Habenseite meines Kontos stehen, daß ich ausnahmslos jeden Sonntag zur Messe ging, als ich in Italien war, und daß ich an dem Abend nur ein einziges Mal die Geduld mit meinem Homo chaoticus L. Falk verloren hab.

»Ich will nicht das C-Dur von diesem Wie-heißt-er-noch hören«, ließ ich ihn wissen. »Ich will dein C-Dur hören.«

Es muß ungefähr in dem Augenblick gewesen sein, daß er sich auf mich wälzte und anfing, sich mit meinen Möpsen zu verlustieren, und da hat er die Tätowierung gesehen. Sie sitzt in einem Feld von Sommersprossen unter meiner rechten Titte. Ich hab mir die Tätowierung mal in einem Moment des Wahnsinns in Atlantic City machen lassen, im Sonderangebot. L. Falk muß in einem früheren Leben ein Schmetterling gewesen sein, denn die Tätowierung hat ihn mächtig beeindruckt. Er griff nach der Lampe auf dem Boden und hielt sie hoch, um besser sehen zu können.

»Ein sibirischer Nachtfalter!« rief er und betastete ihn mit den Fingerspitzen.

»Ein ganz normaler gottverdammter Schmetterling«, hab ich ihn korrigiert, aber ich glaube nicht, daß er es gehört hat.

»Nicht zu fassen, ein sibirischer Nachtfalter in Backwater, Amerika«, flüsterte er. Und dann sagte er so komische Sachen, die ich nicht so recht verstand, irgendwas über Luftwirbel, die entstehen, wenn ein Nachtfalter die Flügel schwirren läßt, daß die Luftwirbel sich in Schwingungen fortpflanzen und daß diese Schwingungen – ich weiß nicht, ob das so stimmt, okay? – die Ostküste von Amerika der Schönen lahmlegen könnten. Irgendwas in der Art.

Man muß schon eine ziemlich verkorkste Phantasie haben, um das Wetter einem Schmetterling in die Schuhe zu schieben.

Jeder spinnt ja auf seine Weise. Der Anblick von dem Falter hat L. Falk richtig auf Touren gebracht, und eh man bis drei zählen kann, waren wir mitten drin, mitten im wildesten Zweikampf, in einer größeren Verschmelzung. Er hat geschwitzt und gegrunzt und gekeucht und immer wieder mal runtergeschaut, um sich zu überzeugen, daß der Schmetterling nicht davongeflattert war, und dann wurde er plötzlich stocksteif über mir, die blutunterlaufenen Augen weit aufgerissen und starr und erschrocken. Und dann brach er auf mir zusammen.

Nein, ich hab nicht direkt gespürt, daß er gekommen ist, aber ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen und hab deshalb nicht gefragt.

Ich will die Frage beantworten, bevor Sie sie stellen. Also, so, wie es war, war es. anders. Auf eine Art, die ich immer noch nicht so ganz enträtselt hab, war es. es war – befriedigend. Seine Leistung, auch was die Dauer angeht, und auch die aktuelle Größe seiner Ausrüstung – entschuldigen Sie, daß ich es so unverblümt ausdrücke ließen sicher zu wünschen übrig. Andererseits spürte ich, daß L. Falk.

Lassen Sie mir eine Sekunde.

Wo war ich?

Ich spürte, daß L. Falk. mich wollte, ein Gefühl, das ich schon einmal gehabt haben muß, ich weiß nur nicht mehr, wann.

Natürlich wollte L. Falk hinterher wissen, wie er gewesen war. Wieso wollen Männer eigentlich immer hören, was für phantastische Liebhaber sie sind? Ich wollte ihm nicht die nackte Wahrheit um die Ohren hauen – daß nämlich, was das rein körperliche Gefühl angeht, meiner Meinung nach kaum ein Unterschied zwischen Safer Sex und null Sex besteht. Also hab ich einen auf witzig gemacht. »Ich träum schon seit ewigen Zeiten von dem, was ich den kosmischen Fick nenne – einem so total umwerfenden Fick, daß er der Fick aller Ficks wäre. Ich stell ihn mir als so überwältigend vor, daß die zwei oder drei oder vier, die daran beteiligt wären, beschließen würden, nie wieder zu ficken. Die schlechte Nachricht ist, daß es mit dir nicht der kosmische Fick war. Die gute Nachricht ist demnach, daß wir weitermachen können.«

Ich lachte. Er lächelte sein rasierklingendünnes Lächeln, das zu einem Drittel als leicht amüsiert und zu zwei Dritteln als tief nachdenklich rüberkommt, als ob er versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen.

»Hey, du hast gefragt.«

»Und du hast geantwortet.«

Später ließ ich Mayday wieder ins Wohnzimmer und wärmte eine tiefgefrorene Pizza im Wäschetrockner auf; mein Herd hat nämlich kein Backrohr, und Pizza ist neben Spiegeleiern eins der wenigen Dinge, die ich zubereiten kann. Ich hatte mir mein arabisches Gewand wieder übergeworfen, aber L. Falk hat immer wieder mit dem Finger den V-Ausschnitt geteilt, um einen Blick auf den Schmetterling zu werfen. Wir saßen also am Tisch und starrten auf die leergegessenen Teller, als er das Stück Kreide sah, das an einer Schnur neben der Tafel hängt, auf der ich mir notiere, was ich einkaufen oder wen ich anrufen muß oder wann meine letzte Periode angefangen hat. Auf einmal grapschte sich L. Falk die Kreide und fing an, wie ein Besessener auf die Tafel zu kritzeln. Ich hab’s nicht abgewischt, es steht immer noch drauf, falls Sie sich selbst überzeugen wollen: I. J. u. I. V. n. G. e. m. n. a. a. m. A. u. m. U. z. G. Ich hab ihn natürlich gefragt, was das bedeuten soll, aber er hat nur gesagt, daß das von Leo N. Tolstoi ist, daß in Rußland jedes Kind die Story kennt und daß ich sie selber entziffern müßte.

Als er wieder an den Tisch zurückgekommen ist, hat er sich so schwer auf den Stuhl fallen lassen, daß der zusammengeklappt und L. Falk auf dem Hosenboden gelandet ist.

Mich hat’s fast zerrissen vor Lachen.

Und L. Falk auch. Wir haben uns beide die Bäuche gehalten. Ich weiß nicht, warum, aber ich fing an zu lachen und er lächelte ein Lächeln, das zu zwei Dritteln amüsiert war, und im nächsten Moment hat er auch lachen müssen, und auf einmal hab ich so laut darüber gelacht, daß er lacht, daß mir die Tränen gekommen sind. Und dann, so wahr ich hier stehe, hat er auch zu heulen angefangen. Sie hätten uns sehen sollen, L. Falk auf dem Boden, ich neben ihm auf den Knien, von Lachen geschüttelt, und beiden laufen uns die Tränen übers Gesicht. Als wir uns endlich die Tränen abgewischt hatten, ist das Gelächter von vorn losgegangen. Irgendwann in all dem Lachen und Weinen und Lachen hat er was gebrabbelt, wo ich mir keinen Reim drauf machen konnte – irgendwas in der Richtung, daß er jetzt versteht, wie es möglich ist, sein Herz auf dem Ärmel zu tragen.

Und im nächsten Moment waren wir schon mittendrin in dem Vorspiel, das danach kommt. L. Ficker-Falk. Sachen gibt’s.

 

Am nächsten Morgen haben sie ihren ersten Streit. Es geht, zumindest oberflächlich betrachtet, um rein gar nichts.

Rain schlägt zwei Eier in die Pfanne. »Sonnenseite nach oben und kurz gewendet, mit frisch geklauten geräucherten Muscheln als Beilage, eine Spezialität des Hauses«, prahlt sie.

»Was bedeutet kurz gewendet?«

»In der letzten Sekunde dreh ich die Spiegeleier um und brate den Dotter kurz an. So läuft die Sonne nicht in die Muscheln.«

»Laß das kurz gewendet weg, wenn ich bitten darf. Mir sind auslaufende Dotter lieber.«

»Aber Sonnenseite nach oben ist nicht die Spezialität des Hauses«, beharrt Rain. »Sondern Sonnenseite nach unten.«

Lemuel mustert sie. Er lächelt das überwiegend nachdenkliche dünne Lächeln. »Wer bestimmt, welche Seite oben ist?«

»Hey, ist doch meine Küche, oder? Und es sind meine Eier. Und es ist meine Pfanne. Ich bestimme.«

»Du gibst keinen Millimeter nach, was?«

Rain wendet sich ihm zu. »Mein Dad, der Hangarchef vom Bodenpersonal eines B-52-Bombers war, hat mir beigebracht, mein Territorium immer an der gottverdammten Grenze zu verteidigen. Manchmal bedeutet das, daß man aus einer Mücke einen Elefanten machen muß.«

»Wir nähern uns diesem Dilemma von den entgegengesetzten Enden des Spektrums«, sagt Lemuel. »Mein Vater hat mir beigebracht, daß man sich, wenn man weiterleben und weiterkämpfen will, auch mal zurückziehen und sich an einem großen Fluß oder in einer großen Stadt neu sammeln muß.

Die Russen, die Napoleon aufgehalten haben, die im Großen Vaterländischen Krieg die Faschisten aufgehalten haben, haben diese Methode mit einigem Erfolg angewandt.«

»Hey, sehe ich aus wie eine Faschistin?« Mayday, die sich unter dem Tisch zusammengerollt hat, folgt dem Streit mit den Augen. »Und sieht das hier aus wie ein großer Fluß oder eine große Stadt? Tu mir einen Gefallen und iß die Eier kurz gewendet.«

Rain wendet die Spiegeleier in der Pfanne. Lemuel zuckt gleichmütig die Achseln. »Wenn wir an einen großen Fluß oder in eine große Stadt kommen«, sagt er leise, »wirst du einen anderen L. Falk kennenlernen.«