1. KAPITEL

Lemuel Falk, ein russischer Chaostheoretiker auf der Flucht vor dem irdischen Chaos, fährt sich mit seinen dicken, schwieligen Fingern durch die schmutzig-aschgrauen Haare, die auch dann windzerzaust aussehen, wenn sich kein Lüftchen regt. Er lehnt die Stirn an die eiskalte Fensterscheibe, während der Zug durch den Rangierbahnhof schlingert, der Endstation entgegen; Abreisen verkraftet Lemuel ganz gut, aber Ankünfte verursachen ihm Verdauungsbeschwerden, Migräne und Stiche in der Magengegend. Ein unwahrscheinlicher Wachtraum überkommt ihn. Er ist der Große Führer und Lehrer, circa 1917. Totale von einem Zug, der im Schneckentempo in den Finnland-Bahnhof einfährt. Naheinstellung vom obersten Homo soviéticas, durch ein verregnetes Fenster; er stirbt fast vor Angst, daß man ihn lynchen oder, schlimmer noch, ignorieren könnte. Wladimir Iljitschs Nervosität überträgt sich auf Lemuel. Seine Kopfschmerzen drücken von hinten gegen Lemuels Augäpfel, seine Krämpfe zwicken Lemuels Eingeweide.

Der Wachtraum verebbt, als Lemuels Zug am Kai anlegt. Trostlose Reklametafeln werben für billige Leihwagen, pfefferminzfrische Zahnpasta, ein glutamatfreies chinesisches Restaurant in Bahnhofsnähe; Graffiti prangern den geplanten Bau einer Atommüll-Deponie im Landkreis an; Stapel von Frachtgut mit der schablonierten Aufschrift THIS SIDE UP ziehen am Fenster vorbei. Wer entscheidet eigentlich, hier oder in irgendeinem anderen Land, welche Seite oben ist? fragt sich Lemuel. Unter ihm das Zischen der Hydraulik, das Kreischen der Bremsen. Ruckelnd kommt der Zug zum Stehen. Ein riesiger Pappkoffer droht aus der Gepäckablage zu kippen. Mit einer Behendigkeit, die man ihm nicht zutrauen würde, springt Lemuel auf, kriegt ihn noch rechtzeitig zu fassen und wuchtet ihn herunter. Draußen vor dem Fenster stampft jemand, den Lemuel augenblicklich als Homo antisovieticus identifiziert, mit den Füßen auf, um Frostbeulen vorzubeugen. Dicht hinter ihm atmen zwei Männer und zwei Frauen große Dampfwolken in die Nacht, während sie die aussteigenden Passagiere durchmustern.

Lemuel erkennt durchaus ein Empfangskomitee, im Unterschied zu einem Lynchmob, wenn er eins sieht. Erleichtert hebt er die Pranke, um das Grüppchen durchs verregnete Fenster zu grüßen. Eine Frau im Fuchspelz ruft: »Das muß er sein«, und hält eine zellophanverpackte Fackel hoch, um ihm den Weg ins Gelobte Land zu weisen. Lemuel schultert seinen alten Tornister von der Roten Armee, packt den Pappkoffer mit der einen Hand, eine Dutyfree-Tüte mit der anderen und schlurft durch den Gang des Waggons; er erspäht das Empfangskomitee auf dem Bahnsteig im trüben Licht einer herabhängenden nackten Glühbirne. Mit seinem Gepäck kämpfend, klettert er rückwärts die Eisenstufen hinunter und dreht sich zu dem Grüppchen um.

Der Direktor – er ist hochgewachsen, mager und asketisch und scheint mit seinem aufgeplusterten Skianorak leichter als Luft – streift einen Schafpelzfäustling ab, läßt mehrere Knöchel knacken und streckt eine eiskalte Hand aus. »Willkommen in Amerika«, erklärt er betont aufrichtig. »Willkommen im Staat New York. Willkommen am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung.« Er würde gern lächeln, aber die Gesichtszüge sind ihm eingefroren, es wird nur ein schwaches Grinsen daraus. Seine blauen Lippen bewegen sich kaum, während er Lemuel die Hand schüttelt. »Ich freue mich sehr, daß Sie das Kommunistenpack endlich rausgelassen hat.«

»Rausgelassen haben sie mich«, stimmt Lemuel ihm zu.

»Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte nie geglaubt, Sie doch noch einmal diesseits des Eisernen Vorhangs zu sehen.«

Murmelnd gibt Lemuel zu bedenken, daß es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt.

Ein Schwall arktischer Luft treibt ihm die Tränen in die Augen. Die Frau im Fuchspelz streckt unvermittelt den Arm aus und hält ihm sechs in Zellophan gehüllte rote Rosen unter die Nase. »Die Russen«, klärt sie, seine Tränen mißdeutend, ihre Kollegen gerührt auf, »tragen das Herz auf dem Ärmel.«

Bis sie verlorenging, hatte sich Lemuel anhand einer Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force die Anfangsgründe des Englischen angeeignet. Da er sich nicht denken kann, wie es möglich sein soll, sein Herz auf dem Ärmel zu tragen, weist er das Bukett zurück. »Ich bin allegorisch«, erklärt er. Er will um jeden Preis einen guten Eindruck machen, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll. »Ich breche in Tränen aus in Präsenz von Blumen oder Kälte.«

Die Frau im Fuchs und der Direktor vermeiden es, sich anzusehen. »Da müssen die Sommer ja die reine Hölle für Sie sein«, sagt der Fuchs in einer Sprache, die Lemuel für Serbokroatisch hält. »Die Winter natürlich auch, wenn man’s recht überlegt.«

Der Direktor wartet mit einer förmlichen Vorstellung auf. »D. J. Starbuck«, informiert er Lemuel, »liest Russische Literatur 404, an der Universität, wobei es hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, um Tolstoi geht. Sie ist hier in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende der hiesigen Gesellschaft für sowjetischamerikanische Freundschaft.«

Lemuel beugt sich linkisch über die Hand des Fuchses und wendet murmelnd ein, es gebe keine Sowjets mehr.

In D. J.s Augen flackert Unmut auf. »Wir sind ja dabei, nach einem neuen Namen zu suchen«, räumt sie in ihrem gutturalen, serbokroatischen Russisch ein.

Der Direktor, dessen Name J. Alfred Goodacre lautet, drängt mit Handbewegungen zum Aufbruch. Ein Mann mit fensterscheibendicken Brillengläsern, ein Astrophysiker, der kosmische Arrhythmien erforscht, wird vorgestellt. »Sebastian Skarr, Lemuel Falk.« Skarr legt den Kopf in den Nacken und richtet seine Bemerkungen an eine ferne Galaxis mit einem unregelmäßig wabernden Pulsar im Mittelpunkt. »Ich war hingerissen von Falks Erkenntnissen über Entropie«, sagt er, beinahe so, als sei Falk nicht anwesend. »Ich war fasziniert von seiner Schilderung des unaufhaltsamen Abgleitens des Universums in die Unordnung. Ins Chaos.«

Ein älterer Mann tritt stolpernd vor und nimmt seine Pelzmütze ab, so daß sein kurzgeschorener grauer, flaumiger Schädel zum Vorschein kommt. »Ich bin Scharlie Atwater«, sagt er mit so schlampiger Aussprache der Konsonanten, daß Lemuel Mühe hat, ihn zu verstehen. »Wenn ich nüschtern bin, also an Wochentagen bis Mittag, beschäftige ich mich mit der Oberflächenspannung von Wasser, das ausch Hähnen tropft. Ihr Artikel über die Betschiehung zwischen dem determinischtischen Chaosch und der Pscheudo-Zufälligkeit, wie Schie es ausdrücken, hat mich umgehaun.«

Als nächste stellt sich eine gutaussehende Frau mittleren Alters vor, die mit einem spröden britischen Akzent spricht. »Matilda Birtwhistle. Ich züchte im vorsintflutlichen Labor des Instituts chaosbezogene Schneeflocken. Wir haben Ihre tour de force mit Pi verfolgt – daß Sie seine Dezimalerweiterung auf drei Milliarden, dreihundertdreißig Millionen Stellen berechnet haben. Ihre Formulierung, daß Pi, falls es wahrhaft zufallsgesteuert wäre, bisweilen geordnet erscheinen würde, fanden wir unglaublich elegant. Keiner von uns war bis dahin auf die Idee gekommen, daß zufällige Ordnung Bestandteil reiner Zufälligkeit sein könnte.« Sie läßt ein schwaches Lächeln aufblitzen. »Wir alle, der gesamte wissenschaftliche Stab des Instituts, schätzen uns glücklich, einen der hervorragendsten Zufallsforscher der westlichen Welt unter uns zu haben.«

Gerührt ergreift Lemuel Birtwhistles Hand und streift mit seinen aufgesprungenen Lippen den Rücken ihres handgestrickten tibetischen Handschuhs. Die Geste soll altehrwürdige Armut versinnbildlichen, im Gegensatz zur neueren, verschwitzteren, verzweifelteren Armut der proletarischen Massen. Lemuel richtet sich auf und räuspert sich, um ein nervöses Kratzen im Hals loszuwerden. Wenn es um abstrakte Ideen geht – so schmeichelt er sich gern –, kann er durchaus mit einem Einstein mithalten; im Umgang mit Menschen ist er hingegen weniger selbstbewußt und schnell eingeschüchtert. Daher sucht er auch jetzt Deckung hinter auswendig gelernten Phrasen: Er bitte sie alle, davon auszugehen, daß er hochbeglückt sei, als Gastprofessor an ihr Institut berufen worden zu sein, und ihm zu glauben, daß er darauf brenne, sich in dessen chaosbezogene Wasser zu stürzen.

Lemuel mustert die Gesichter seiner Gesprächspartner und überläßt sich einem köstlichen Wachtraum: Die schwedische Botschaft hat ihm mitgeteilt, daß ihm für seine bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der reinen Zufälligkeit der Nobelpreis zugesprochen wurde. Großaufnahme vom Botschafter, der Schafpelzfäustlinge trägt. Schwenk auf einen Scheck über 380000 US-Dollar, während er diesen Lemuel aushändigt. In Sankt Petersburg würde man dafür auf dem schwarzen Markt rund 380 Millionen Rubel bekommen. Lemuel, saniert bis an sein Lebensende, saniert auch noch für sein ganzes nächstes Leben, schnuppert die Kälte; sie brennt ihm in den Nasenlöchern. Der Schmerz erinnert ihn, was er ist und wo er sich befindet. Die Mitglieder des Empfangskomitees starren ihn an, als erwarteten sie eine Zugabe. In Lemuels blutunterlaufenen Augen glimmt Panik auf. Seine Augenbrauen zucken hoch, und seine Nüstern weiten sich, während er von seinem zurechtgelegten Text abweicht, den er sich in den endlosen Stunden des Flugs von Petersburg über Shannon nach New York immer wieder eingeprägt hat. Er sei von der Reise völlig erschöpft, sagt er. Außerdem müsse er dringend seine Blase entleeren. Ob es eine Zumutung an ihre Gastfreundschaft sei, fragt er, sie um eine Tasse echten amerikanischen Kaffee zu bitten.

Charlie Atwater, der seit ein paar Minuten immer wieder die Luft anhält, um seinen Schluckauf zu bekämpfen, sagt: »Wie war’s mit etwasch, wo ein klitzekleines bischen mehr Alkohol drin ist?«

Mit der gemurmelten Bemerkung »Falk braucht unbedingt eine Mütze oder einen Haarschnitt« wirbelt der Fuchs auf dem hohen Absatz einer Galosche herum und steuert auf den Kaffeeautomaten in der Bahnhofshalle zu. Der Direktor fordert Lemuel mit einer Kopfbewegung auf, ihr zu folgen.

Und er folgt ihr. Mit pflichtschuldiger Dankbarkeit läßt sich Lemuel von den Menschen in die Mitte nehmen, die sich erbieten, ihn vor einem Schicksal zu erretten, das schlimmer wäre als der Tod: dem Chaos!

Das letzte, was er erwartet hätte, als er ein Ausreisevisum beantragte, war, eines zu bekommen; das letzte, was er sich wünschte, war, Rußland zu verlassen. Es war eine leidige Tatsache, daß die ehemalige Sowjetunion zusehends in den Strudel des Chaos gezogen wurde; die Regale in den Geschäften waren leer, die Menschen waren dazu übergegangen, Katzen und Tauben in Fallen zu fangen und getrocknete Karottenschalen aufzubrühen, weil Tee unerschwinglich geworden war. Die jährliche Inflation erreichte eine dreistellige Prozentzahl, und die Exkommunisten, die in Moskau angeblich regierten, warfen das Geld unters Volk, so schnell sie es drucken konnten. Lemuels Gehalt am W.-A.-Steklow-Institut für Mathematik, wo er seit dreiundzwanzig Jahren arbeitete, hatte sich in den letzten vier Monaten verdreifacht. Der Preis für einen Laib Brot, wenn es überhaupt welches gab, hatte sich vervierfacht. Nicht lange, und er würde einen Fünfzigliter-Müllsack brauchen (den es freilich nirgends zu kaufen gab), um seiner Exfrau ihre monatliche Unterhaltszahlung zu bringen.

Dennoch, das Chaos hatte den Vorteil gehabt, daß es Lemuels Chaos war. Der englische Stückeschreiber Shakespeare hatte es einmal auf den Punkt gebracht: Besser das Chaos ertragen, das wir kennen, als uns kopfüber in ein anderes Chaos zu stürzen, das wir nicht kennen. Oder so ähnlich.

Aber wenn dem so war, was bewog dann einen zutiefst vorsichtigen Menschen wie Lemuel (er hat immer den Standpunkt vertreten, daß zwei plus zwei vier zu sein scheine), zu angeblich wärmeren Gefilden und angeblich grüneren Weidegründen aufzubrechen?

Lemuel hatte jedes Jahr ein Ausreisevisum beantragt, seit er als Zufallsforscher arbeitete. Das war seine Art, Stichproben vom politischen Klima zu nehmen. Jeden September füllte er getreulich die vorgeschriebenen Formulare in dreifacher Ausfertigung aus, klebte die erforderliche Steuermarke darauf und warf den Antrag in das überquellende Eingangskörbchen des zuständigen Parteigenossen in der Visa-Abteilung des Außenministeriums. Jedes Jahr kam der Antrag mit dem großen roten Stempelaufdruck ABGELEHNT zurück, womit für Lemuel wieder einmal bewiesen war, daß immerhin die Welt, die er kannte, aber nicht unbedingt liebte, noch in Ordnung war. Denn Lemuel, so schien es, besaß praktische Kenntnisse von Staatsgeheimnissen. Aus diesem Grund wurden ihm Ausflüge über die Landesgrenzen hinaus verwehrt.

Als dann wunderbarerweise ein Visum mit Siegel und Unterschrift im Gemeinschaftsbriefkasten lag, erschrak er zutiefst. Er setzte sich die Brille auf und las es zweimal, nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seiner Krawatte, setzte sie wieder auf und las das Ding noch ein drittes Mal. Wenn diese Leute Lemuel Melorowitsch Falk – Träger des Lenin-Preises für seine Arbeiten auf dem Gebiet der reinen Zufälligkeit und des theoretischen Chaos, Mitglied der elitären Akademie der Wissenschaften – durch die normalerweise klebrigen Finger gleiten ließen, Staatsgeheimnisse hin, Staatsgeheimnisse her, bedeutete dies, daß der verrottende Kern der Bürokratie vom Chaos infiziert war; und das bedeutete, daß die Dinge schlechter standen, als er gedacht hatte.

Weil man ihm die Ausreise gestattet hatte, kam Lemuel zu dem Schluß, es sei an der Zeit, den Koffer zu packen.

Den Direktor des Instituts hatte er zwölf Jahre zuvor auf einem Symposium über den relativ jungen Wissenschaftszweig Chaostheorie kennengelernt. Lemuel, der um einen Vortrag gebeten worden war, hatte die versammelten Fachleute mit seiner Arbeit über Pi beeindruckt, also über die transzendente Zahl, die man erhält, wenn man den Umfang eines Kreises durch seinen Durchmesser dividiert. Auf der Suche nach der reinen, unverfälschten Zufälligkeit hatte Lemuel einen ostdeutschen Großrechner programmiert und Pi auf fünfundsechzig Millionen dreihunddreiunddreißigtausendsiebenhundertvierundvierzig Dezimalstellen berechnet (damals Weltrekord), ohne irgendwelche Anzeichen für eine Ordnung in der Dezimalentwicklung von Pi zu entdecken. Der Direktor, der nicht nur von der Originalität, sondern auch von der Eleganz von Lemuels Vortrag angetan war, hatte dafür gesorgt, daß der Text in der angesehenen Vierteljahreszeitschrift des Instituts abgedruckt wurde. Dem ersten Artikel waren weitere gefolgt. Nachdem er durch die Entdeckung potentiell reiner Zufälligkeit in der Dezimalentwicklung von Pi berühmt geworden war, begann Lemuel, im wesentlichen ein Zufallsforscher, der in Chaosforschung dilettierte, das zu erkunden, was er »Falks Zwischenreich« nannte, das graue Niemandsland, wo sich Zufälligkeit und Chaos überschneiden. Jedesmal, wenn jemand ein Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit gefunden zu haben meinte, unterzog es Lemuel den strengen Verfahren der Chaosforschung und führte anschließend den Beweis, daß das, was sich da den Anschein der Zufälligkeit gab, in Wahrheit zwar unberechenbar, dennoch aber determiniert und folglich keineswegs rein zufällig sei. Die Natur, so Lemuel, erzeuge Erscheinungen von so gewaltiger Komplexität und Unberechenbarkeit, daß sie sich dem bloßen Auge als Beispiele reiner Zufälligkeit darstellten. Indes sei diese vermeintliche Zufälligkeit, so führte er in einem Artikel aus, der ihn auch in Amerika bekannt machte, nichts weiter als der Name, den wir unserer Unwissenheit gäben. Wir wüßten einfach noch nicht genug. Unsere Instrumente seien nicht empfindlich genug. Unsere Stichproben erstreckten sich nicht über eine ausreichend lange Zeitspanne – die in der Größenordnung von Jahrmillionen liegen müsse. Sobald man unter der Oberfläche grub, sobald man die Instrumente, mit denen man die Zufälligkeit maß, vervollkommnete, stellte sich (zu Lemuels bitterer Enttäuschung) heraus, daß vermeintlich reine Zufälligkeit überhaupt nicht zufällig war, sondern ein Fußabdruck von dem, was die Physiker und Mathematiker neuerdings als Chaos bezeichneten.

Seit mehreren Jahren hielt ihm das Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung eine Stelle als Gastprofessor offen; man würde sich glücklich schätzen, war ihm immer wieder versichert worden, wenn er sein Zwischenreich fortan innerhalb der Mauern des Instituts erkunde. An dem Tag, an dem Lemuel das Ausreisevisum im Briefkasten fand, fiel ihm dieses Angebot genau in dem Moment ein, als ihm bewußt wurde, daß er sich unbedingt hinsetzen mußte. Vierzig von seinen sechsundvierzig Jahren war er ständig auf den Beinen gewesen, hatte er angestanden um Lebensmittel und Toilettenpapier, um Scheibenwischer für seinen geliebten Skoda, um Kuraufenthalte am Schwarzen Meer, um Fangopackungen in den Heilbädern, um den Verbleib in der Wohnung, die er mit zwei Ehepaaren teilte, die ständig am Rande der Scheidung lebten – wenn nicht sogar am Rande von Mord und Totschlag. Er hatte sich oft an einer Schlange angestellt, einfach weil sie vorhanden war, ohne zu wissen, was es da eigentlich zu erstehen gab. Er hatte Schlange gestanden, um getraut zu werden, und ein Jahrzehnt danach wieder Schlange gestanden, um seine Scheidung zu bekommen. Im Lauf der Jahre waren ihm die Füße geschwollen. Und das Herz.

Mit dem Ausreisevisum im Paß hatte sich Lemuel aus Rußland davongestohlen, ohne seiner Exfrau oder seinen Kollegen ein Wort zu sagen, sogar ohne es seiner Tochter zu sagen, der standesamtlich getrauten Frau eines Schwarzhändlers, der den Markt für Computermäuse beherrschte. Der einzige Mensch, dem er sich anvertraut hatte, war seine Gelegenheitsgeliebte, eine silberweiß gebleichte Journalistin der Petersburger Prawda namens Axinja Petrowna Wolkowa, die sich an den Montagnachmittagen und Donnerstagabenden der Aufgabe widmete, Erektionen aus Lemuels müdem Fleisch hervorzuzaubern. Axinja, die ein Gewohnheitstier war und regelmäßig eine halbe Stunde lang Lemuels Zimmer aufräumte, bevor sie ihm gestattete, an den Reißverschlüssen und Schnallen und Knöpfen ihrer Kleider herumzufummeln, nahm die Nachricht von seiner bevorstehenden Abreise mit Bestürzung auf.

»Du vertauschst ein Chaos mit einem andern«, sagte sie ihm, »in der irrigen Annahme, daß sich das Chaos der andern als schöner herausstellen wird. Dein Kumpel Vadim hat dir erzählt, in Amerika wären die Straßen mit Sony-Walkmans gepflastert. Gib’s doch zu, Lemuel Melorowitsch – im Kopf weißt du, daß es ein Märchen ist, aber im Herzen glaubst du, es könnte doch wahr sein. Aber wie auch immer, dein Ausflug wird unweigerlich bös enden – du warst schon immer vom Reisen mehr fasziniert als vom Ankommen.«

Als diese Argumente ihre Wirkung auf Lemuel verfehlten, fuhr sie schweres Geschütz auf. »Mancher würde für eine Dauerstellung am Steklow-Institut einen Mord begehen. Wie kannst du das einfach so aufgeben?«

»In Rußland hat jeder eine Dauerstellung«, hatte Lemuel mürrisch erwidert. »Das Dumme ist nur, daß man die Dauerstellung in Rußland hat.«

Der Gastprofessor (die Dutyfree-Plastiktüte immer noch in der Hand) und das Empfangskomitee zwängen sich – ladies first – in den Kleinbus des Instituts, um die Fahrt zu dem zwölf Meilen entfernten Dorf anzutreten, das sowohl die Universität als auch das Institut beherbergt. Word Perkins, das Faktotum des Instituts (er fungiert als Chauffeur, Nachtwächter, Telefonist, Klempner, Elektriker, Schreiner, Schneeschaufler und Salzstreuer), steigt als letzter ein. »Also, was hamse denn da drin?« erkundigt er sich, während er sich mit Lemuels riesigem Koffer abmüht. »Ziegelsteine vielleicht?«

»Bücher vielleicht«, erwidert Lemuel schuldbewußt.

Matilda Birtwhistle schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. Lemuel grinst unsicher zurück.

Gekränkt setzt sich Perkins ans Steuer. Wie ein Pilot bei den Cockpit checks klappt er die Ohrenschützer seiner Mütze hoch, rückt sein Hörgerät zurecht, das er über ein Ohr gehakt hat, zieht den Choke und läßt den Motor an. Die Schneeketten an allen vier Rädern machen ein Getöse, daß man sich kaum unterhalten kann. »Und wo, wenn man fragen darf, kommt unser Gasprofessa her?« schreit der Fahrer nach hinten. »Und was macht er, wenn er was macht?«

Der Direktor dreht sich um und blinzelt rasch – seine Art, sich für die Gleichmacherei in der amerikanischen Gesellschaft zu entschuldigen, die dem Chauffeur ein gewisses Maß an Unverfrorenheit gestattet. »Er kommt aus Sankt Petersburg«, schreit er nach vorne. »Und wenn Sie wissen wollen, was er macht – er ist zufällig einer der führenden Zufallsforscher der Welt.«

»Ich bin mir nich sicher, ob ich weiß, was ein Zufallsforscher is, aber wenn das was mit Schneefall zu tun hat, dann liegt er bei uns genau richtig, stimmt’s?« bemerkt Perkins. »So viel Schnee, wie wir jetz ham – muß ja das reinste Paradies für Zufallsforscher sein. Hey, Professa aus Petasburg, falls Sie’n Sportsmann sind, im Dorfladen unterm Tender kenn Sie sich superleichte Langlaufski leihn.«

D. J. verdreht die Augen. Matilda Birtwhistle erstickt ein Kichern in ihrem tibetischen Handschuh. Lemuel, den die Unterhaltung einigermaßen ratlos macht – wozu braucht ein Zufallsforscher Langlaufski, und wer oder was ist ein Tender? –, sieht verdrießlich zum Fenster hinaus. Nun, da er endlich am Ziel seiner Reise angekommen ist, muß er gegen eine ausgeprägte postnatale Depression ankämpfen. Seine ersten Eindrücke von Amerika der Schönen muntern ihn auch nicht auf. Der Kleinbus holpert über eine breite, öde Hauptstraße, die nicht mit Sony-Walkmans gepflastert ist, sondern eine rissige, mit Frostaufbrüchen übersäte Asphaltdecke hat, vorbei an Bergen von Plastik-Müllsäcken, die aussehen, als seien sie von einer Sturmflut an Land geschwemmt worden. Lange Eiszapfen hängen tröpfelnd von Lampenmasten, Ladenschildern und der riesigen Uhr über der Drehtür einer Bank an einer Kreuzung.

Zwischen schmutzigen Schneehaufen lavierend, fährt der Kleinbus über eine Brücke mit rostigen Eisenträgern und passiert unbeleuchtete, geschlossene Tankstellen und Supermärkte, Möbel-Discountläden und eine Sparkasse in Ziegelbauweise neben einer grau gestrichenen Holzkirche mit einem Kinoplakat, auf dem CHRIST SAVES steht, ohne Angaben darüber, wen oder was er rettet. Lemuel erblickt eine beleuchtete Reklametafel am Straßenrand, die Zweifel in ihm weckt, ob er denn mit seinem Englisch aus der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force zurechtkommen wird.

Er beugt sich vor und tippt D. J. auf die Schulter. »Was soll denn das heißen, ›Nonstops to the most Florida cities‹? Wie kann eine Stadt mehr Florida sein als eine andere?«

»Hey, Professa aus Petasburg, sehn sich mal die Bäume an«, ruft Perkins, bevor D. J. den Text auf der Reklametafel ins Serbokroatische übersetzen kann. »Haben sich in lauter Trauerweiden verwandelt, was? Wir harn nämlich grade den schlimmsten Eisregen gehabt seit 1929 – hat gestern fast den ganzen Tag Katzen und Hunde geregnet. Und in der Nacht ist die Tempratur auf fünf runter.«

»Fünf Grad Fahrenheit«, erläutert Sebastian Skarr, »entsprechen minus fünfzehn Grad Celsius.«

»Katzen? Hunde?« fragt Lemuel verdattert.

»Das ist eine idiotische idiomatische Redewendung«, erklärt Charlie Atwater und grinst betreten, weil er immer noch den Schluckauf hat.

Vor ihnen läßt ein pulsierendes Licht auf einem Laster winzige orangefarbene Explosionen über die mit Eis lackierte Fahrbahn schlittern. Der Kleinbus holt das Fahrzeug ein, das Sand auf die Straße streut. Lemuel späht durch das Fenster neben seinem Sitz in die Nacht hinaus und erkennt nach und nach Äste und Stromleitungen, die mit Eis überkrustet sind und unter dem Gewicht durchhängen. Er fängt an, einen faszinierenden Traum auszuspinnen: Irgendwo in den endlosen Weiten Sibiriens schlägt ein Nachtfalter mit den Flügeln. Die winzigen Luftwirbel, die seine schwirrenden Flügel auslösen, pflanzen sich als Schwingungen fort, die mit wachsender Entfernung immer stärker werden und sich schließlich in einem Eisregen entladen, der die Ostküste von Amerika der Schönen lahmlegt.

Noch ein Fußabdruck des Chaos!

D. J. zeigt auf das Schild, das an der Stelle steht, wo das platte Land aufhört und das Dorf anfängt. Unter dem Eismantel steht: »Universität Backwater – gegründet 1835.« Darunter ist ein kleineres Schild: »Sitz des Instituts für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung.« Sekunden später bringt Perkins den Bus vorsichtig zum Stehen, vor einem grünen Holzhaus mit umlaufender Veranda, das ein Stück von der Main Street zurückgesetzt ist. Ein Schwall eisiger Luft dringt in den Bus ein, als Perkins, den Parka bis zum Kinn zugeknöpft und die Ohrenschützer runtergeklappt, die Tür aufmacht. Er packt Lemuels Pappkoffer am Seilgriff und stapft über den gesandeten Weg aufs Haus zu.

Der Direktor dreht sich zu Lemuel um. »Angesichts der Kälte etcetera verzichte ich, glaube ich, lieber auf die Gelegenheit, mit Ihnen hineinzugehen.« Er beugt sich näher zu ihm hin und senkt die Stimme. »Verzeihen Sie die Frage, aber wo lassen Sie sich die Haare schneiden?«

»Das mache ich selbst. Vor dem Spiegel.«

Der Direktor läßt unauffällig einen Umschlag in die Tasche von Lemuels braunem Mantel gleiten. »Ein bißchen Bargeld, damit Sie über die Runden kommen, bis Sie Ihren ersten Gehaltsscheck einlösen.« Er räuspert sich. »Ach, darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«

»Bitte sehr.«

»Es gibt einen Friseursalon im Ort, über dem Kramladen.« Er bedenkt Lemuel mit einem verschwörerischen Zwinkern. »Er hat bis Mittag offen.« Der Direktor spricht wieder mit normaler Stimme. »Der Professor, mit dem Sie das Haus teilen werden, erwartet Sie. Morgen ist Ihnen zu Ehren ein Institutsessen, anschließend zeige ich Ihnen Ihr Büro und mache Sie mit Ihrem weiblichen Freitag bekannt.«

»So nennen wir unsere Sekretärinnen«, erläutert D. J. in ihrem Serbokroatisch.

Lemuel fragt sich, wer von Montag bis Donnerstag seine Briefe tippen wird, und geht unter gemurmelten Dankesworten zwischen den Sitzen durch nach vorne, wobei er rechts und links Hände schüttelt. Während er sich der Tür nähert, hat er das Gefühl, daß er gleich mit dem Fallschirm in einen eisigen Abgrund springen wird. Er schlingt sich sein khakifarbenes Halstuch aus Armeebeständen noch ein weiteres Mal um den Hals, zurrt die Riemen seines Tornisters fest und tritt ins Leere hinaus. Auf dem Weg zum Haus begegnet er Perkins, der zum Bus zurückwatschelt. Perkins will sich per highfive von Lemuel verabschieden, erntet aber nur einen verständnislosen Blick.

»Macht ihr in Rußland kein highfive nich, hm, Professor aus Petasburg?« erkundigt sich das Faktotum gutgelaunt.

Lemuel dreht sich auf der Veranda um und sieht zu, wie der Kleinbus anfährt. Die roten Bremslichter flackern auf und verschwinden um die nächste Ecke. In der plötzlichen Stille hebt Lemuel die rechte Hand über den Kopf und blickt zu seinen Fingern auf.

High. Five. Aha! Highfive.

Die schneidende Luft dringt durch Lemuels Cordhosen und läßt seine Oberschenkel taub werden. Er dreht sich um und greift nach dem korrodierten Messing-Baseball, aber die Tür fliegt auf, bevor er damit an den korrodierten Messing-Baseballhandschuh klopfen kann. Eine Hand schießt aus einer gestärkten Manschette hervor. Kräftige Finger packen Lemuels khakifarbenes Halstuch und ziehen ihn hinein. Lemuel steigt ein vage nach Essig riechendes Deodorant in die Nase, er sieht nikotingelbe Zähne, einen verfilzten Bart, in der Luft tanzende gekringelte Schläfenlocken und helle, talmudische Augen, die in fleischlicher Neugier hervortreten. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloß, und Lemuel, gegen seinen Willen in einen abenteuerlichen Wachtraum gezogen, kommt zu dem Schluß, daß er von Angesicht zu Angesicht keinem anderen als Jahwe gegenübersteht.

Jahwe ist eher kleinwüchsig – er reicht Lemuel bis an die Schulterblätter-, aber kompakt gebaut, und offenbar Anfang dreißig. Er hat sich mit hohen Schnürschuhen und einem weißen Rüschenhemd ohne Krawatte herausgeputzt, das bis an seinen prachtvollen Adamsapfel zugeknöpft ist. Der Hals quillt schwielenartig über den oberen Rand des gestärkten Kragens, so daß dieser wie ein Hundehalsband wirkt. Außerdem ist Jahwe mit ausgebeulten schwarzgrauen Hosen, einer zerknitterten Weste und einem offenen, zipfelnden Jackett bekleidet. Über der Knollennase schießen Kakerlakenbrauen im fröhlichen Sturzflug aufeinander zu. Der Schwerkraft spottend, sitzt ein besticktes schwarzes Scheitelkäppchen hinten auf dem großen Kopf. Jahwe beäugt seinen Besucher durch kreisrunde, in Silber gefaßte Brillengläser, murmelt

»Hekinah degul, hekinah degul« und lockt, indem er rückwärts tappend über durchgetretene Teppiche vor dem herannahenden Gast zurückweicht, Lemuel durch die Diele in das überheizte Haus.

»Welche Sprache ist Hekinah degul?« erkundigt sich Lemuel.

»Das ist Liliputanisch«, sagte Jahwe. »Frei übersetzt, bedeutet es ›Was in Dreiteufelsnamen‹. Ich vertrete die Theorie, daß die Liliputaner, metaphorisch gesprochen, möglicherweise einer der verlorenen Stämme Israels sind.« Jahwe beschreibt einen Halbkreis um Lemuel, mustert ihn von der einen, dann von der anderen Seite. »Ich bin’s, Ihr Kollege und Hausgenosse«, sagt er schließlich in krächzendem Singsang. Seine knochige Hand umklammert Lemuels behandschuhte mit eisernem Griff. »Ich pflege keine Umschweife zu machen, das ist nicht mein schtick. In akademischen Kreisen bin ich bekannt als Rebbe Ascher ben Nachman, der gnostische Zufallsforscher. In religiösen Kreisen kennt man mich als den Eastern Parkway Or Hachaim Hakadosch, den Gottesmann vom Eastern Parkway mitten im Herzen von Brooklyn. Um meinen Platz im rabbinischen Spektrum zu definieren: Ich bin das, was die Juden im Ghetto von Venedig als traghetto bezeichnet hätten – eine Fähre, eine Gondel, die durch die trüben Gewässer zwischen den Ultra-Orthodoxen und den Ultra-Unorthodoxen gleitet. Um mich im historischen Spektrum zu lokalisieren: Ich bin der letzte, aber nicht der geringste in einer langen Reihe von Rabbinern, die ihre Abkunft auf den illustren Mosche ben Nachman alias Ramban, er ruhe in Frieden, zurückführen, der um 1270 in Eretz Yisrael vor seinen Schöpfer trat.« Er nickt beifällig. »Sie geben sich sichtlich Mühe, nicht über Dinge zu lächeln, die Ihnen prätentiös vorkommen. Ihr Feingefühl macht den Eltern Ehre, die Sie aufgezogen haben.«

Der Rebbe macht ein paar tänzelnde Schritte rückwärts, zieht ein riesiges Schnupftuch aus der Innentasche seines Jacketts und entfaltet es mit theatralischem Pomp; einen Moment lang glaubt Lemuel, sein Gastgeber werde eine weiße Taube oder einen zweiten Rosenstrauß hervorzaubern. Er ist enttäuscht, als Jahwe sich bloß geräuschvoll und virtuos mit einer Hand schneuzt, erst das eine, dann das andere Nasenloch.

»Da Sie aus Rußland kommen«, sagt Jahwe mit plötzlich nasal klingender Stimme, »haben Sie wahrscheinlich noch nicht von mir gehört – keine Bange, ich bin nicht im geringsten gekränkt –, aber vielleicht haben Sie schon mal von Brooklyn gehört?« Im Weiterplappern inspiziert er sein Taschentuch auf ein Bulletin über seinen Gesundheitszustand. »Wenn Sie mit dem Rücken zum Atlantik stehen oder auch sitzen, liegt Brooklyn gleich rechts von Manhattan.«

Über seinen kleinen Scherz lachend, steckt der Rebbe das Taschentuch ein, bückt sich nach Lemuels Koffer, hebt ihn mühelos hoch, als seien nur Federn drin, und geht voraus, die Treppe hinauf. »Bevor ich ein Rebbe und ein Gottesmann wurde, habe ich als Schauermann im Hafen von Brooklyn gearbeitet.« Er lockt Lemuel mit gekrümmtem Finger. »Kommen Sie. Ich führe ein koscheres Haus, ich fresse Sie nicht. Im ersten Stock liegen die Räume, die Ihnen das Institut zur Verfügung stellt.« Der Rebbe zeigt ein schüchternes, asymmetrisches Grinsen, das sein Gesicht in etwas verwandelt, was einer kubistischen Gitarre recht ähnlich sieht. »Wenn Sie sich etabliert und dechauffiert haben«, teilt er seinem mißtrauischen Besucher mit, »lade ich Sie zu Tee und Sympathie ein.«

Lemuel schultert seinen Tornister und geht, die Plastiktüte aus dem Dutyfree-Shop in der Hand, folgsam hinter dem Rebbe her, vorbei an hüfthohen schiefen Büchertürmen, die mit den Rücken nach außen an den Wänden lehnen. »Tee nehme ich mit einem Stück Zucker zwischen den Zähnen«, sagt er düster. »Sympathie mit einem Körnchen Salz.«

Rebbe Nachman dreht sich um und mustert neugierig seinen Hausgenossen. »Daß wir Freunde werden, liegt im Bereich des Möglichen«, verkündet er. »Vielleicht haben Sie schon etwas von Männerbünden gehört?«

Lemuel bleibt wie angewurzelt stehen. Ihm fällt ein, daß seine Geliebte ihm vorgeworfen hat, er glaube, das Chaos der anderen werde schöner sein. Axinja hat auch recht gehabt, was die Sony-Walkmans angeht. Ob Sie Dinge weiß, die er selbst nur argwöhnt? »In Rußland«, merkt Lemuel mit einer Stimme an, die unerschütterliche Hetero-Sexualität ausdrücken soll, »verstößt so etwas eindeutig gegen das Gesetz.«

»In Amerika«, erklärt Rebbe Nachman mit Inbrunst, »sind Männerbünde nichts weiter als eine respektable Art, die Frauen zu hassen.«

Mit einer Lupe studiert der Rebbe das Kleingedruckte auf einer Seite der Zeitung, die er auf dem Küchentisch ausgebreitet hat. »Oj, IBM sind siebeneinviertel gefallen. Vielleicht hätte ich doch vor ein paar Monaten leerverkaufen sollen. General Dynamics sind viereinhalb gestiegen. Soll ich sie jetzt abstoßen oder doch lieber noch drinbleiben? Sagen Sie mir: Wie soll ich ohne einen satten Spekulationsgewinn jemals meine eigene Talmudschule kriegen?«

Aus einem alten Motorola, das auf einem Stapel Bücher balanciert, kommt eine blecherne Wiedergabe von Ravels Konzert für die linke Hind. Seufzend wendet sich der Rebbe wieder den getrockneten braunen Knospen zu, die er zerbröselt und auf einem Blättchen Zigarettenpapier verteilt. Lemuel, der ihm von der anderen Seite des Tisches aus zuschaut, nimmt sich noch ein Stück Zucker aus der Zinndose, wickelt das Papier mit dem Aufdruck des Restaurants ab, in dem es geklaut wurde, und klemmt sich den Würfel zwischen die Schneidezähne. Während er Kräutertee durch den Zucker filtert, sieht er fasziniert zu, wie der Rebbe Papier und Tabak zu einem perfekten Zylinder rollt.

Dem Rebbe fällt auf, daß es Lemuel aufgefallen ist. »Bevor ich Schauermann wurde, habe ich in einer Zigarillofabrik in New Jersey gearbeitet.« Er läßt die schwammige Spitze seiner rosa Zunge an der Kante des Papiers entlanggleiten und klebt die Zigarette zu. Er durchsucht seine Taschen und bringt ein Zündholzbriefchen zum Vorschein, das er ebenfalls in einem Restaurant hat mitgehen lassen. Er zündet ein Hölzchen an und hält es an den Joint. Als die Spitze schwelt, schüttelt er das Zündholz aus und macht vorsichtig den ersten Zug. Beim Ausatmen fragt er beiläufig: »Mit dem biblischen Namen Lemuel, der – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – soviel wie ›der Gottesfürchtige‹ bedeutet, sind Sie vielleicht Jude?«

»Der Vater meines Vaters, der ein glühender Homo sovieticas war, nannte seinen Sohn Melor – für ›Marx, Engels, Lenin, Organisatoren der Revolutions Mein Vater, der ein glühender Homo antisovieticus war, behauptete, Lemuel steht für ›Lenin, Engels, Marx, unbefriedigtes exhibitionistisches Lumpenproletariats« Lemuel kichert kurz in sich hinein und schlürft weiter seinen Tee durch den Zuckerwürfel.

Der Rebbe läßt sich nicht beirren. »Mit einem Namen wie Falk sind Sie vielleicht beschnitten?«

Besorgt, daß das Thema Männerbünde wiederaufgenommen werden soll, beschränkt sich Lemuel auf ein unverbindliches Grunzen.

Der Rebbe läßt nicht locker. Er sieht Lemuel in die Augen und fragt: »Glauben Sie an die Thora? Fürchten Sie Jahwe?« Er artikuliert den geheiligten Namen Gottes, als wolle er Ihn herausfordern, ihn niederzustrecken für den Frevel, seinen Namen laut auszusprechen.

»Woran ich glaube«, murmelt Lemuel, der keine Lust auf eine theologische Diskussion hat, »ist die Mathematik. Was ich liebe, ist reine Zufälligkeit. Was ich fürchte und verabscheue, ist das Chaos, obwohl ich zugeben muß, daß ich auf theoretischer Ebene von der Möglichkeit fasziniert bin, im Herzen des Chaos ein Quentchen Ordnung zu entdecken.«

»Sagen Sie mir eins: Wenn Sie nicht an Jahwe und an die Thora glauben, in welchem Sinne sind Sie dann Jude?«

»Ich habe nie behauptet, daß ich Jude bin«, sagt Lemuel achselzuckend. »Ich bin Jude in dem Sinne, daß, sollte ich es einmal vergessen, die Welt mich alle zwanzig, dreißig Jahre daran erinnert.«

Der Rebbe nimmt einen tiefen Zug aus seinem Joint und hält den Rauch eine Zeitlang in der Lunge, bevor er ausatmet. »Wenn Sie immerhin so sehr Jude sind, daß Sie sich so leicht daran erinnern lassen«, sagt er mit einem listigen Glitzern im Auge, »wieso sind Sie dann nicht nach Eretz Yisrael gegangen?«

Lemuel schneidet eine Grimasse. »Für mich ist Amerika, nicht Israel, das Gelobte Land.« Er schnaubt leise. »Ich habe einen Freund in Moskau, der hat mir geschworen, daß die Straßen hier mit Sony-Walkmans gepflastert sind.«

»Der Großvater meines Vaters, er ruhe in Frieden, ist 1882 aus Polen rübergekommen und hat gedacht, sie wären mit Singer-Nähmaschinen gepflastert.«

Der Rebbe zieht sich Rauch in die Lunge. Er hält die Luft zurück und bietet Lemuel den Joint an.

Lemuel schüttelt den Kopf. »Ich bin allegorisch gegen Zigaretten.«

Der Rebbe stößt den Rauch aus. »Das ist keine Zigarette. Zigaretten habe ich zu Chanukka aufgegeben, nachdem ich sechzehn Jahre lang zwei Schachteln pro Tag geraucht hatte. Das hier ist ein Joint. Gras. Marihuana. Mary Jane. Dope. Die Frau, die mich damit beliefert, nennt es Thailand-Trüffel.«

Lemuel schnuppert genießerisch an dem Rauch, der wie eine Regenwolke über der Börsenseite hängt, und stellt fest, daß Marihuana erstaunlich angenehm riecht. »Entschuldigen Sie die …«

»Ja?«

»Ich frage mich, welche Sorte Rabbi Marihuana raucht.«

»Ha! Nichts zu entschuldigen! Zum Glück für die Menschheit lassen sich die wenigen Auserwählten stets wie Eva im Garten Gottes, wie ihn der Prophet Hesekiel nennt, von verbotenen Früchten in Versuchung führen. In dem Sinne, wie sich Eva im Garten Eden gegen Gott auflehnte, rauche ich Marihuana. Dadurch kann ich besser zwischen Recht und Unrecht unterscheiden.« Der Rebbe bekommt glasige Augen, während er Lemuel noch einmal den Joint hinhält. »Ta’amu ure’u«, murmelt er. »Psalm 34, Vers 8. Frei übersetzt bedeutet das ›Schmeckt und seht‹.«

Lemuel wehrt mit wedelnder Hand den Joint und den Rauch ab.

Der Rebbe zupft am obersten Knopf seines Hemdes, lockert den Kragen, fährt mit einem Finger zwischen Kragen und Halsschwiele und zieht noch einmal kräftig an dem Joint. »Oj, oj«, murmelt er und wiegt dabei aufgeregt den Kopf, »dieses Eden, dieser Garten Jahwes, was ist er anderes als ein Sumpf von Zufälligkeiten? Wie kommt’s, daß Adam aus adamah, also aus Lehm, geformt wird und Eva aus einer Rippe? Wie erklärt es sich, daß Adam und Eva nur unter der Bedingung im Garten bleiben dürfen, daß sie nicht von einem bestimmten Obstbaum essen? Was, in Gottes Namen, hat Obst mit Gut und Böse zu tun? Und was ist wohl in Jahwes Kopf vorgegangen, daß er den Mord erfinden mußte?«

»Jahwe hat den Mord erfunden?«

»Die erste überlieferte Tötung in der Thora, wie wir sie nennen – die Gojim sagen Altes Testament dazu –, ereignet sich, als Jahwe ein Tier erschlägt, damit Adam und Eva ihre Blöße bedecken können. Ich spreche von Genesis 3, Vers 21. ›Und Gott der Herr machte Adam und Eva Röcke von Fellen.‹ Nähern wir uns dem Problem aus einer anderen Richtung: Welches verschlüsselte Signal sendet Gott den festangestellten Wissenschaftlern und Gastdozenten am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung, wenn Er sich am brennenden Busch Moses zu erkennen gibt?«

Lemuel, der sein mit der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force erlerntes Englisch anhand der King James Bible, der Romane von Raymond Chandler und des Playboys aufgebessert hat, erinnert sich, wie Jahwes Antwort an Moses in der King James Bible übersetzt ist. »Ich bin, der ich bin.«

»Ha! Die hebräische Schreibweise von Jahwe istyodhehuavheh, und das ist von der Wurzel des Verbs ›sein‹ abgeleitet. Was Jahwe am brennenden Busch zu Moses sagt – ehieh ascher ehieh, das ist das Futur des Verbs ›sein‹ –, ist ein Wortspiel mit Seinem Namen.« Nachman ereifert sich immer mehr. »Jahwes Antwort sollte man also vielleicht mit ›Ich werde sein, der ich sein werde‹ übersetzen. Ich persönlich finde, das kann nur ›Ich werde sein, wann und wo ich sein werde‹ bedeuten. Also wer ist dieser Jahwe, der sich nicht auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort festlegen will? Ich sage Ihnen, wer Er ist. Er ist die Inkarnation der Zufälligkeit. Und was ist Zufälligkeit – wie haben Sie es doch in Ihrem Aufsatz über Entropie ausgedrückt? –, was ist Zufälligkeit anderes als ein Fußabdruck des Chaos? Was sagt es uns über Gott den Herrn, daß Er ein von den Gesetzen des Chaos gelenktes Universum erschaffen und es mit uns bevölkert hat?«

Der Rebbe schlägt die Beine andersrum übereinander. Für einen Moment sieht Lemuel einen Streifen blasse, unbehaarte Haut über den hohen Schnürschuhen aufschimmern. »Ha! Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels soll Rebbe Judah ha-Nasi, er ruhe in Frieden, gefragt haben: ›Wenn Gott den Menschen wirklich liebte, hätte Er ihn dann erschaffen?‹« Der Rebbe zupft an seinem Bart und schaukelt in einer Art Delirium vor und zurück. »Das ist nicht nur eine gute Frage, es ist vielleicht die einzige Frage überhaupt.« Er zuckt zusammen und legt die Hände an die Schläfen. »Oj, um mit dem berühmten Rebbe Akiba zu sprechen: Mir dreht sich der Kopf von den vielen Fragen ohne Antworten.«

»Ihnen dreht sich der Kopf von dem vielen Marihuana.« Lemuel beugt sich vor. »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Nein, aber das gibt sich wieder. Vielleicht kennen Sie das jüdische Sprichwort: Wenn du Fragen ohne Antworten vergessen willst, zieh einen zu engen Schuh an.« Die hervortretenden Augen des Rebbes klappen auf und richten sich auf Lemuel. »Glauben Sie ja nicht, Sie könnten einen Rebbe nach seinem Äußeren beurteilen.« Er läßt sich in seinen Stuhl zurücksinken. Langsam schließen sich seine Lider. Als er wieder etwas sagt, ist sein Singsang kaum hörbar. »Vielleicht kennen Sie die Geschichte – der berühmte Vorker Rebbe, er ruhe in Frieden, hat gesagt, man könne einen Erleuchteten an drei Dingen erkennen.« Rebbe Nachman macht eine Faust und streckt bei jedem Punkt einen Finger. »Erstens: Er weint, ohne ein Geräusch zu machen. Zweitens: Er tanzt, ohne sich zu bewegen. Drittens: Er verbeugt sich, ohne den Kopf zu neigen.«

Nachmans Faust fällt auf den Tisch zurück, sein Kopf nickt nach vorne, der Joint entgleitet seinen Fingern. Lemuel nimmt ihn rasch von der Börsenseite und führt ihn unter seiner Nase durch wie eine Havanna. Er ist versucht, dem Beispiel des Rebbes zu folgen und sich der Welt des Chaos aus einer anderen Richtung zu nähern. Doch dann findet er, daß er für diesen Tag sein Quantum Chaos weghat, und drückt den Joint in einem Aschenbecher aus, der den Namen des Hotels trägt, in dem er geklaut wurde.

Er zieht die Schuhe aus, schaut noch einmal auf den gnostischen Chaotiker zurück, der unruhig schnarchend in seinem Sessel sitzt, und tappt leise aus dem Zimmer.

Wie jeder Schlaflose habe ich gelernt, mit der Nacht etwas anzufangen. Als Sankt Petersburg noch Leningrad war, ging ich immer bis zum Morgengrauen in meinem Zimmer auf und ab, sann über die Weiße der Nacht nach, kritzelte Differentialgleichungen auf die Rückseite von Briefumschlagen, quadrierte Kreise und verfolgte die schwer auszumachenden Spuren der Zufälligkeit zurück bis zu ihren chaotischen Ursprüngen, in der vagen Hoffnung, irgendwann doch einmal auf ein Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit zu stoßen, wenigstens eines – ein einziges hätte mir schon gereicht.

In diesen schlaflosen Nächten hatte ich einige meiner phantasievolleren Einfälle über vom Menschen geschaffene Beinahe-Zufälligkeit. So kam ich dabei, um Ihnen ein Beispiel zu geben, auf die Idee, einen Computer so zu programmieren, daß er fast völlig zufallsgesteuert in die unendliche Kette der Dezimalstellen von Pi eintauchte, um einen aus drei Zahlen bestehenden Schlüssel zu schaffen, der seinerseits Codes erzeugte, die der reinen Zufälligkeit bemerkenswert nahe kamen und damit so gut wie nicht zu entschlüsseln waren. Aber ich möchte an dieser Stelle noch nicht ins Detail gehen.

Mit alledem will ich sagen, daß nichts Extraordinäres daran war, wie ich meine erste Nacht in Backwater verbrachte. Bei der Inspektion meines amerikanischen Wohnzimmers, das anscheinend im modernen mexikanischen Stil eingerichtet war (überall sehr viel Stroh), tippte ich einen Korbschaukelstuhl an und sah zu, wie er hin und her wippte. Er erinnerte mich an mehrere Anwendungen der Pendelgesetze, an denen ich Jahre zuvor gearbeitet hatte, und er erinnerte mich auch an meine Geliebte, wie sie über mir kniete und ihre Brüste wie Pendel hin und her schwangen, während sie sich abmühte, meinem schwachen Fleisch Erektionen zu entlocken. Mit einemmal bemächtigten sich Erinnerungen aus Petersburg meiner Gehirnzellen, Erinnerungen, von denen ich gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft hatte, sie ein für allemal hinter mir gelassen zu haben – gesichtslose Männer kamen scharenweise aus Türen und Fenstern, Schuhe mit dicken, eisenbeschlagenen Sohlen traten nach am Boden liegenden Gestalten, ein kleiner Junge, den ich nicht erkannte, krümmte sich in einer Ecke. Oj!

Marcel Proust sagt irgendwo, das einzige Paradies sei das verlorene Paradies. Oder so ähnlich. Das verlorene Sankt Petersburg kam mir auch jetzt nicht vor wie ein Paradies. Genausowenig allerdings das gefundene Backwater. So daß ich also wie der Rebbe in seinem traghetto durch Wasser zwischen zwei Küsten glitt, unterwegs …

Wenn ich es genau überlege, hatte meine Geliebte wahrscheinlich recht, als sie sagte, mich interessiere das Reisen mehr als das Ankommen. Von letzterem bekomme ich Migräneanfälle. Wenn doch nur jemand eine Reise ohne Ende erfände!

Mit dem Gefühl, am falschen Ort, in der falschen Zeit, im falschen Rhythmus zu sein, lief ich ruhelos in der Wohnung über dem Rebbe herum, maß mit Schritten den Abstand von Wand zu Wand, von Fenster zu Tür, von Bücherregal zu Kamin, von einem Ende des Flurs zum anderen, von der Toilette zur Badewanne, berechnete die Quadratmeter und fiel fast in Ohnmacht, als ich auf hundertzwanzig kam, das Doppelte der Wohnung, die ich in Petersburg mit zwei Ehepaaren geteilt hatte. Ich erkundete Kammern und Winkel und den Kriechraum unter der Treppe, die unters Dach führte, und betätigte ständig Schalter – ich stellte den Toaster und die Mikrowelle an, die Geschirrspülmaschine, den elektrischen Messerschleifer, den elektrischen Dosenöffner, den Toshiba-Laptop T 3200 SX. Im Bücherregal stand eine Sony-HiFi-Anlage, die mich auf dem Schwarzmarkt in Sankt Petersburg ein Jahresgehalt gekostet hätte. Ich drückte Tasten, drehte an Knöpfen. Ein Radio ging an. Es lief gerade eine Frühsendung mit Höreranrufen und einem Moderator, der so schnell redete, daß ich die Augen zumachen mußte, um einigermaßen mitzukommen.

Wenn ich die Situation richtig verstand, war der Moderator gerade dabei, die Sendung für die stündlichen Nachrichten zu unterbrechen. An einiges, was er sagte, kann ich mich noch erinnern. Eine Angestellte der Lotterieverwaltung von South Dakota hatte sich beim Abschreiben der Losnummer des Hauptgewinns vertippt. Daraufhin hatte man einem siebenundsiebzigjährigen Mann mitgeteilt, er habe zwölf Millionen Dollar gewonnen. Tags darauf, als der Fehler entdeckt wurde, traf ihn der Schlag. Von der lokalpolitischen Front wurde berichtet, daß Bürger, die gegen den Bau einer Atommüll-Deponie protestierten, von einer Kommission der Staatsregierung mit dem Hinweis beruhigt worden waren, die Deponie bringe keinerlei gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung mit sich. Bundesgesetze schreiben vor, daß jeder Staat bis 1993 eine Stätte für die Entsorgung radioaktiver Abfälle von Kernkraftwerken, Krankenhäusern und Industriebetrieben ausweisen muß. Die Bürgerinitiative, die gegen die Atommülldeponie protestiert, macht dagegen geltend, daß der radioaktive Abfall ins Grundwasser durchsickern und schließlich die Trinkwasserversorgung des Landkreises gefährden könne. Und nun noch die letzte Meldung der Drei-Kreise-Nachrichtenredaktion: Die Staatspolizei fand heute die Leiche des neuesten Opfers des Serienmörders, der seit Monaten in den drei Landkreisen sein Unwesen treibt. Mit diesem bisher letzten Opfer, einem siebenunddreißig Jahre alten Faulbeckenreiniger, steigt die Gesamtzahl der in den letzten sechzehn Wochen auf mysteriöse Weise ermordeten Personen auf zwölf. Ein Polizeisprecher betonte, die Verbrechen wiesen keine erkennbaren Übereinstimmungen auf; Alter und Beruf der Opfer, die Tatorte und die zeitlichen Abstände zwischen den Morden seien von Fall zu Fall ganz verschieden. Der einzige rote Faden, der sich durch diese grausige Mordserie ziehe, abgesehen von dem mit Knoblauch eingeriebenen und stets aus allernächster Nähe durchs Ohr ins Gehirn des Opfers abgefeuerten Dumdum-Geschoß Kaliber.38, sei die Handschrift des Mörders – nämlich das Fehlen einer Handschrift, also mit anderen Worten die absolute Wahllosigkeit und Zufälligkeit der Morde. Und jetzt, sagte der Moderator mit heiserer Stimme, nehmen wir noch ein paar Anrufe entgegen. Er nannte eine Telefonnummer und wiederholte sie mehrmals.

Ohne zu überlegen, schnappte ich mir das schnurlose Telefon und tippte die Nummer ein. Ich hörte einen Summton am anderen Ende. Aus einer auf Band gesprochenen Ansage erfuhr ich, daß ich der siebte auf der Warteliste sei. Sie müssen wissen, daß für jemanden, der sein halbes Leben in Rußland Schlange gestanden hat, siebter zu sein praktisch bedeutet, daß man als nächster an der Reihe ist. Nach einer Weile kam wieder eine Ansage, da war ich schon an zweiter Stelle, dann an erster. Einen Augenblick später kam die Stimme des Moderators gleichzeitig aus dem Telefon und dem Radio.

»Hallo.«

»Ja. Hallo«, schrie ich ins Telefon. Eine von atmosphärischen Störungen verzerrte Stimme, die mir vage bekannt vorkam, hallte aus den Lautsprechern der Anlage wider. »Ja. Hallo«, sagte sie.

»Ich bin eben erst in Amerika angekommen«, schrie ich ins Telefon.

»Ich bin eben erst in Amerika angekommen«, hörte ich mich über die Lautsprecher schreien.

»Stell dein Radio leiser. Ja, so ist es gut. Was ist dein Henkel?«

»Henkel?« – »Henkel?«

»Dein Name?«

»Ja. Falk, Lemuel.« – »Ja. Falk, Lemuel.«

»Welcher von beiden ist dein Vorname, Falk oder Lemuel?«

»Lemuel.« – »Lemuel.«

»Also schön, Lemuel, willkommen in den US von A. Was, äh, hast du gesagt, wo du herkommst?«

»Da bin ich Ihnen nicht sicher.« – »Da bin ich Ihnen nicht sicher.«

»Du bist uns nicht sicher? Ha, ha! Kleiner Scherz. Aber Spaß beiseite: Wieso bist du nicht sicher?«

»Ich bin in Leningrad geboren …« – »Ich bin in Leningrad geboren, aber ich bin aus Sankt Petersburg hierher gekommen. Geographisch nehmen beide denselben Platz ein. Emotional sind sie Lichtjahre auseinander.«

»Sankt Petersburg, das liegt, äh, in Rußland, stimmt’s? Also, was führt dich nach Amerika, Lemuel?«

»Das Chaos führt mich …« – »Das Chaos führt mich nach Amerika.«

»Läufst du vor ihm davon oder darauf zu? Ha ha ha ha!«

»Beides. Ich dachte, euer Chaos wäre.« – »Beides, ich dachte, euer Chaos wäre schöner. So blöd es klingt, ich dachte, bei euch wären die Straßen mit Sony-Walkmans gepflastert.«

»Du bist schon ein komischer Heiliger, Lemuel. Willst du hier den Clown spielen und mich verarschen oder was? Oder hast du einen in der Krone? Kleiner Scherz am Rande. Aber sag mir eins, Lemuel, als jemand, der direkt vom Schiff kommt, sozusagen: Was ist dir als der größte Unterschied zwischen Amerika und Rußland aufgefallen?«

»Erstens, eure Städte, die Entfernungen …« – »Erstens, eure Städte, die Entfernungen dazwischen, sogar die Bürger sind kleiner als in Rußland, aber vielleicht wirken sie bloß kleiner, weil ich sie mir überlebensgroß vorgestellt habe. Zweitens, eure Wohnungen riechen nicht nach Petroleum.«

»Meine riecht nach Katzenstreu. Ha ha! Falls du zuhörst, Charlene, Schatz, ich hab nur Spaß gemacht. Okay, Lemuel, was wolltest du loswerden?«

»Loswerden?« – »Loswerden?«

»Warum hast du angerufen. Worüber möchtest du reden?«

»Ich möchte über.« – »Ich möchte über die Mordserie reden. Ich möchte Ihnen folgendes sagen – die Verbrechen wirken vielleicht zufällig, aber diese scheinbare Zufälligkeit ist nichts anderes als der Name, den wir unserer Unwissenheit geben.«

»Wenn ich dich richtig verstehe, willst du sagen, in den Morden ist eine Gesetzmäßigkeit, die der Polizei bloß noch nicht aufgefallen ist.«

»Es gibt eine Gesetzmäßigkeit.« – »Es gibt eine Gesetzmäßigkeit, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Zufälligkeit in reiner Form gibt es leider nicht. Zumindest hat noch nie jemand ein Beispiel vorweisen können. Ich muß es wissen. Ich habe überall danach gesucht.«

»Tja, tut mir leid, aber ich muß immer passen, wenn es um irgendwas Reines geht. Ha ha ha ha. Aber verlaß dich drauf, wir leiten deinen Tip an Chester Combes weiter, den Kreissheriff. Und du, Lemuel, tust uns den Gefallen und hältst weiter die Augen offen nach der reinen Zufälligkeit – bestimmt ist sie irgendwo da draußen, lauert im Gebüsch, versteckt sich in dunklen Gassen. War nett, mit dir zu plaudern, Lemuel. Und alles Gute für deinen, äh, Aufenthalt in Amerika. Der nächste Anrufer.«

Ich merkte, daß er drauf und dran war aufzulegen. »Ich brauche Antworten auf Fragen«, rief ich ins Telefon. »Das mit dem highfive hab ich schon begriffen. Sie haben mir ›Henkel‹ erklärt und ›loswerden‹. Aber wie kann jemand sein Herz auf dem Ärmel tragen? Und was bedeutet eigentlich ›Nonstops to the most Florida cities‹? Wie kann eine Stadt mehr Florida sein als eine andere? In meiner Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force, in der King James Bible, bei Raymond Chandler und im Playboy habe ich nie solche Ausdrücke gelesen. Und welche Seite oben ist, wer bestimmt darüber in Amerika? Außerdem, last but not least: Wer oder was ist ein Tender?«

Mir dämmerte, daß meine Stimme nicht mehr aus den Boxen widerhallte. Dann merkte ich, daß das Telefon an meinem Ohr stumm war. Im Radio sagte der Moderator: »Für alle, die eben erst eingeschaltet haben: Ihr hört WHIM Elmira, den Sender, bei dem Reden billig und Sex das Thema Nummer eins ist. Hallo.« Er fing an, mit einer Friseuse zu plaudern, die etwas über einen sogenannten G-Punkt sagte.

Frustriert, mit dem Gefühl, daß ich Amerika nie in den Griff bekommen würde, legte ich das Telefon zurück, schaltete das Radio ab, knipste die Deckenbeleuchtung und die Schreibtischlampe aus und ging durchs Zimmer, um durch zwei Glastüren auf das Garagendach zu schauen, das anscheinend im Sommer als Sonnenterrasse diente. Draußen hatte sich eine spröde Stille über das Stück von Amerika der Schönen gelegt, das ich sehen konnte. Über der Garage knarrten die Äste einer alten Eiche unter der Eislast wie die Takelage eines Schiffs. Beim Betrachten des Winterwunderlands begann der Teil von mir, der Chaostheoretiker ist, sich Fragen auszudenken. Sollte man die Ansammlung von Eis auf Ästen wie die Mordserie als einen weiteren Fußabdruck des Chaos sehen? Wenn ein Ast unter dem Gewicht des Eises abbrach, sollte man dann dieses Entfernen von abgestorbenem Holz als ein zufallsabhängiges Ereignis oder einen Akt Gottes interpretieren? Gibt es überhaupt so etwas wie Gott? War Eden wirklich, wie der Rebbe behauptete, ein Sumpf von Zufälligkeiten? Wenn ja, war diese Zufälligkeit rein und unverfälscht? Oder war es die zahme Variante, die Pseudo-Zufälligkeit, und damit nichts weiter als ein Fußabdruck der Ordnung, die wir Chaos nennen?

Angenommen, es gibt sowohl Gott als auch reine Zufälligkeit, welche Beziehung besteht dann zwischen ihnen?

Wenn Gott den Menschen erschaffen hat, sollte man das dann wirklich als Beweis dafür sehen, daß Er den Menschen verabscheute? Oder war die Schöpfung einfach bloß ein zufälliges Ereignis, von dem außer dem Menschen niemand etwas bemerkte?

Erneut hörte ich in meinem Kopf die Stimme des Rebbes. »Ta’amu ure’u«, sagte er. »Schmeckt und seht.«