Die Türen der drei mit Maschendraht abgetrennten Zellen sind offengelassen worden, damit die achtundsechzig Menschen, die bis zur Verhandlung festgenommen sind, die Toiletten benutzen können, ohne den Sheriff zu belästigen, den man durch die offene Tür hören kann, die zum Büro führt. Er versucht gerade herauszukriegen, in welcher Richtung Jerusalem liegt. »Wenn die Sonne scheint, was, äh, nicht alle Tage vorkommt, geht sie in dem Fenster da auf«, sagt der Sheriff, Chester Combes, »und das heißt, daß von Rechts wegen irgendwo da drüben Osten sein muß.«
»Du mußt berücksichtigen, daß das jetzt die Wintersonne ist, Sheriff«, wendet Norman ein, der spindeldürre Hilfssheriff, der den Demonstranten geübt die Fingerabdrücke genommen hat, als sie mit dem Bus angekommen waren. »Das heißt, Osten muß fast haargenau da sein, wo der Wasserkühler steht.«
»Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und ich hab sie Ihnen gesagt«, wendet sich der Sheriff gereizt an den Rebbe. »Jerusalem liegt scheint’s ein Stück links vom Wasserkühler, eher mehr auf der mittleren Reihe von den Steckbriefen an der Tafel. Aber denken Sie, was Sie wollen, ich hab noch was anders zu tun als wie rauskriegen, wo Jerusalem liegt, nämlich zum Beispiel einen Serienmörder fangen.«
»Mhm«, stimmt Norman zu.
»Also, sicherheitshalber würde ich sagen«, meint Rebbe Nachman diplomatisch, »die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen Ihnen beiden.«
Der Rebbe schlendert in seinen Käfig zurück, verwandelt ein Halstuch in einen Gebetsschal, bedeckt sein Haupt mit einem an den vier Ecken verknoteten Taschentuch und beginnt, das Gesicht in die mutmaßliche Richtung Jerusalems gewandt, sein Abendgebet zu verrichten. Er verneigt sich, richtet sich wieder auf, blickt ab und zu über seine linke Schulter, ob die Kosaken kommen, und intoniert einen Singsang: »Baruch atah adonai, eloheinu melech ha’olam, ascher bidvaro ma’ariv aravim uvebechechmahpoteach sche’arim ubitvunah et ha’emanim …«
Die Footballspieler und die Cheerleader, die auf Matratzen aus den Katastrophenbeständen der Kreisverwaltung kampieren, singen eine leicht verjazzte Version von »We shall overcome«, verlieren aber bald die Lust und probieren es mit schlüpfrigen Limericks. »There once was a cockney from Boston.« rezitieren sie mit Stimmen, die an den nicht jugendfreien Stellen unhörbar werden. Nach jedem Limerick brechen sie in wüstes Gelächter aus.
Der baptistische Geistliche sitzt auf einer Bank vor den Zellen und liest das Markusevangelium aus einer kleinen in Leder gebundenen Bibel vor. ». und sie kamen zum Grabe, da die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?«
In einer Ecke des mittleren Käfigs sitzen ein Dutzend Studenten höherer Semester mit den drei Bibliothekaren der Backwater University, D. J. und einem halben Dutzend Universitätsdozenten im Kreis um Professor Holloway herum, der ein Seminar über etruskische Votivkunst abhält.
Word Perkins, der nicht weit davon auf einer Matratze vor sich hingedöst hat, stützt sich auf den Ellbogen auf, unterdrückt ein Gähnen, rückt sein Hörgerät zurecht und hört eine Zeitlang zu. »Darf man mal eine Frage stellen, Professor?« unterbricht Word Perkins. »Is ja echt intressant, was Sie da erzähln, und ich will um Himmels willen nix anders nich behaupte, aber wieso beschäftigen Sie sich mit rußkischer Kunst, wo sie doch so tief is?«
»Amerika ist ein Land, in dem wirklich jeder eine Frage stellen darf«, sagt D. J. trocken. »Und es auch tatsächlich tut.«
In dem Käfig, der Jerusalem am nächsten liegt, nicht weit von der Stelle, wo der Rebbe betet, diskutieren Lemuel und vier Kollegen vom Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung leise und angeregt über Chaostheorie. »Jedesmal wenn ich einen Artikel lese, in dem die Ursprünge des Chaos auf die Ursprünge des Universums zurückgeführt werden«, klagt einer der Wissenschaftler, »überkommt mich das flaue Gefühl, daß es sich um ein sinnloses Unterfangen handelt. Was macht es schon aus, ob das Chaos vor oder nach dem Urknall entstanden ist? Das einzig wichtige ist doch wohl, daß es existiert.«
»Schma jisrael adonai eloheinu, adonai echaaaddd …« intoniert der Rebbe; er hält sich die Hand über die Augen und zieht die letzte Silbe des hebräischen Wortes »eins« in die Länge.
»There once was an orphan of Killarney …«
»Und sie sahen dahin«, murmelt der baptistische Geistliche, »und wurden gewahr, daß der Stein abgewälzt war.«
In der mittleren Zelle setzt sich Word Perkins auf und spricht D. J. direkt an. »Das Dumme bei Eierköpfen – ja? is, daß sie denkn, wenn sie was wissen, gehört ihn das, was sie wissen.«
»Die Ursprünge des Chaos«, doziert Lemuel, »können uns viel über das Wesen des Chaos verraten. Hat der Urknall, in einer Mikrosekunde unberechenbarer Launenhaftigkeit, das Chaos gezeugt? Oder war der Urknall selbst determiniert, aber unberechenbar, und demzufolge von Anfang an chaotisch? Wie war die zeitliche Abfolge?«
»Adonai eloheinu emes …«
»There once was a wrestler from Baltimore …«
»Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden, und ist nicht hier. Siehe da, die Stätte, da sie ihn hinlegten.«
Word Perkins reißt sich angewidert das Hörgerät aus dem Ohr. »Ich kann Leute nich ausstehn, die auf dem sitzen, was sie wissen.«
»Die zeitliche Abfolge läßt sich oft nicht bestimmen«, sagt einer der Wissenschaftler zu Lemuel. »Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?«
»Ich neige dazu, Ihnen recht zu geben«, sagt der Wissenschaftler, der ursprünglich die Frage gestellt hat. Er nickt dem baptistischen Geistlichen zu. »Manche Dinge gehen scheinbar anderen Dingen voraus. Aber tun sie das wirklich? Ist Jesus aus dem Grab verschwunden, bevor der Stein vom Eingang der Höhle weggerollt wurde, woraus wir den Schluß zu ziehen hätten, daß Er auferstanden ist? Oder ist Er hinterher verschwunden, was uns zu dem Schluß führen würde, daß Er die Kreuzigung irgendwie überlebte und auf seinen eigenen zwei Beinen davonging?«
Lemuel dreht sich um und sieht zu Rain hinüber, die mit Mayday auf dem Schoß auf einer Matratze sitzt und in ein leises Gespräch mit Dwayne vertieft ist. Shirley kauert hinter Rain und flicht einen Zopf aus ihrem Pferdeschwanz. Rains Gesicht ist abgezehrt, die Augen wirken dunkel und verstört, als sähen sie, was hätte passieren können. Ihre hohlen Wangen tragen noch die Spuren eines Tränenstroms, so scheint es Lemuel. Er wendet sich wieder den Kollegen zu. »Es stimmt, daß Entscheidungen, die jetzt, heute, getroffen werden, die Eigenart haben, sich selbst in die Vergangenheit zurückzuprojizieren«, sagte er und reibt sich mit Daumen und Mittelfinger die Brauen, um einen Migräneanfall in Schach zu halten. Mit einem verlegenen Grunzen paraphrasiert er Einstein: »Die Theorie bestimmt, was wir beobachten.«
»Mi kamochu be’olim adonai, mi kamochu ne’edor bakodesch, nor ah tehilot osehpeleh …«
»There once was a lady from Tulsa.«
»Und sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt, und prediget das Evangelium aller Kreatur. Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden.«
»Halten Sie es nicht für möglich, etwas unabhängig von Theorie zu beobachten?« fragt einer der Kollegen Lemuel.
»Die Tatsache«, antwortet ihm Lemuel, »daß Sie die Beobachtung für eine nützliche Methode halten, ist bereits eine Theorie.«
»Wir sind Gefangene der Theorie«, sagt ein anderer niedergeschlagen.
»Hey, ich sag euch, von wem wir Gefangene sind«, meldet sich Rain, während sie Mayday die ausgefransten Ohren krault und mit dem Kinn zum Hilfssheriff zeigt, der in der Tür aufgetaucht ist. »Von den kapitalistisch-militaristischen Typen, die denken, sie können ihren gottverdammten radioaktiven Müll auf uns abladen.«
»Bravo, Babe«, sagt Dwayne.
»Baruch atah adonai, gojelIsrael …«
»There once was a girl scout from Milwaukee …«
»Wie gesagt«, versucht Professor Holloway den Faden wieder aufzunehmen, »die Etrusker, zumal die frühen Etrusker der Periode von 900 bis 800 vor Christus, hielten Weihgaben..«
Der Hilfssheriff nähert sich mit einer Klemmtafel in der Hand dem Käfigbezirk. Die Gebete, die Limericks, die Diskussionen verstummen. »Dies ist der letzte Aufruf für McDonald’s«, verkündet er. »Noch mal zur Kontrolle, ich hab siebenunddreißig Hamburger, sechzehn mit Käse und einundzwanzig ohne. Außerdem hab ich vierzehn mittlere Pommes.«
Shirley hebt die Hand. »Hey, Norman, kann ich noch von mittleren auf große Pommes umbuchen?«
»Klar«, bestätigt der Hilfssheriff, streicht mit unendlicher Geduld einmal »mittlere« aus und macht einen Strich mehr auf seiner Liste der großen Pommes.
Nach dem Essen geht Lemuel mit einem Plastiksack herum und sammelt die Abfälle ein, dann geht er ins Büro, um ein paar Worte mit dem Sheriff zu wechseln.
»Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie neulich nachts meine Nachricht bekommen haben«, sagt er.
Der Sheriff, ein kahl werdender Mann mittleren Alters mit einem über ein breites, geprägtes Lederkoppel hängenden Bauch, schreibt etwas in seine Kladde. »Über was für eine Nachricht reden wir?«
»Wegen des Serienmörders.«
Der Sheriff blättert eine Seite zurück, kontrolliert einen Eintrag, wendet die Seite um und schreibt weiter. »Was wissen Sie über den Serienmörder, das ich nicht weiß?« fragt er, ohne aufzuschauen.
»Ich habe den Moderator einer Hörersendung im Radio angerufen und ihm gesagt, daß die Serienmorde nicht zufällig sind. Er hat versprochen, diese Mitteilung ans Büro des Sheriffs weiterzuleiten.«
Der Sheriff hebt langsam den Blick. »Woher wolln Sie wissen, daß die Morde nich zufällig sind?«
»Diese Verbrechen mögen zufällig erscheinen, aber diese vermeintliche Zufälligkeit ist nichts anderes als unsere Unwissenheit.«
Der Sheriff schürzt die Lippen. »Was sind Sie denn, so eine Art Kriminologe?«
»Ich bin ein Zufallsforscher, der noch nie auf reine Zufälligkeit gestoßen ist, aus dem simplen Grund, daß es sie höchstwahrscheinlich nicht gibt. Ich kann zu Ihnen sagen, daß es eine Gesetzmäßigkeit in den Morden gibt, wir müssen sie nur finden.«
Sheriff Combes, der sich von niemandem ins Bockshorn jagen läßt, klappt seine Kladde zu und nimmt Lemuel mit den Augen Maß. In der Branche hat er den Ruf, in der Lage zu sein, Größe und Gewicht eines Mannes mit einer Genauigkeit von einem Zoll und zwei Pfund anzugeben. »Ich schätze Sie auf fünf Fuß neun Zoll und hundertsiebzig Pfund.«
Lemuel rechnet rasch Zoll in Zentimeter und Pfund in Kilo um. »Woher wissen Sie das?«
Der Sheriff übergeht die Frage. »Sie müssen von diesem Institut drum in Backwater sein. für fortschrittliche disziplinierte Chaotenforschung oder so ähnlich.« Als Lemuel nickt, fährt er fort: »Ich bin ein Ordnungshüter alter Schule, womit ich sagen will, daß ich im Gegensatz zu manchen von den Schlaubergern bei der Kriminalpolizei nix von vornherein ausschließ, wenn’s um die Aufklärung von rätselhaften Verbrechen geht. Sagen Sie’s nich weiter, die Staatspolizei tät mich mit Hohngelächter aus dem Kreis jagen, aber ich hab ne Zigeunerin in Schenectady, die Eingeweideschau macht, ich hab ne stockblinde Rumänin in Long Branch, die Tarotkarten legt, ich hab einen aus dem Amt verstoßenen katholischen Priester in Buffalo, der einen Silberring über einer Landkarte pendeln läßt, und die arbeiten alle an dem Fall. Also warum nich auch ein Zufallsforscher? Sagen Sie mir eins, Mr..«
»Falk, Lemuel.«
Der Sheriff legt den Kopf schief. »Sie sind also der Falk, von dem alle reden. Ich persönlich hab noch nich die Gelegenheit gehabt, Sie im Fernsehn zu sehn. Also sagen Sie mir, Mr. Falk, was macht ein zufälliges Ereignis zufällig.«
»Ein Ereignis ist zufällig«, erklärt ihm Lemuel, »wenn es nicht vorherbestimmt und nicht vorhersehbar ist.«
Die Augen des Sheriffs werden schmal. »Nehm wir mal an, Sie finden was Gesetzmäßiges an den Verbrechen, das könnte dann zu einem Motiv führen und das Motiv zu dem Täter. Hmmm. Wenn ich Ihnen Fotokopien von den Akten überlasse, warn Sie dann bereit, sie im Hinblick dadrauf durchzusehn, ob die betreffenden Verbrechen echt zufällig sind?«
»Ich hab so was noch nie gemacht«, sagt Lemuel. »Könnte eine interessante Übung sein.«
Später, bevor er die Lichter ausmacht, geht Norman, der Hilfssheriff, zwischen den Matratzen in den Zellen durch und verteilt Plastiktassen und Thermosflaschen mit kochendheißem Kräutertee, die die Frauen von mehreren der Professoren gebracht haben.
»Hey, danke, Norman.«
»Mhm.«
Rain, die im Schneidersitz auf einer Matratze im dritten Käfig sitzt, füllt zwei Plastiktassen und reicht eine Lemuel, der auf der Matratze nebenan sitzt, mit dem Rücken am Maschendraht der Zelle lehnt und sich eine Decke bis zum Hals hochgezogen hat.
»Also, D. J. hat mir gesagt, was die vielen Buchstaben bedeuten, die du auf meine Tafel geschrieben hast«, bemerkt sie. »Ich habe einen Pluspunkt dafür bekommen, daß ich die Frage gestellt hab.« Sie nimmt einen Schluck Kräutertee, merkt, daß er zu heiß ist, und schwenkt ihn im Mund, bevor sie ihn runterschluckt.
»Muß euch jetzt das Licht abdrehn«, ruft der Hilfssheriff von der Tür her. »In den Klos laß ich Licht an und Türen auf, okay? Frühstück is um acht. Die Verhandlung fängt um neun an. Auch im Namen vom Sheriff und den andern Hilfssheriffs will ich noch sagen, daß wir genauso gegen die Deponie in unserm Kreis sind wie ihr. Wir hoffen, ihr nehmt uns das nich übel, daß wir euch eingebuchtet haben. Bloß Befehle ausgeführt. Na, jedenfalls, wir wolln jetz heim und wünschen euch allen eine gute Nacht und schöne Träume.«
»Nacht, Norman.«
»Nacht, Norman.«
»Nacht, Norman.«
»Mhm.«
Im Dunkeln greift Rain unter Lemuels Decke und streichelt ihm die Fingerknöchel. »Hey, du glaubst nicht wirklich an Tolstois verschlüsselte Mitteilung an Sonja, oder?« Sie berührt mit den Lippen sein Ohr und zitiert: »›Ihre Jugend und Ihr Verlangen nach Glück erinnern mich nur allzusehr an mein Alter und meine Unfähigkeit zum Glück.‹«
»Doch, ich glaub daran«, murmelt Lemuel nach einem Weilchen. »Du bist ein Gebilde meiner Phantasie.«
Rain legt den Kopf an seine Schulter. »Und wie ist es bei Tolstoi und Sonja ausgegangen?«
»Es hat bös geendet. Sie haben sich fast während ihrer ganzen Ehe gegenseitig zerfleischt.«
»Oh.«
»Am Schluß ist er davongelaufen und auf einem Bahnhof irgendwo in der hintersten Provinz gestorben.«
Rains Stimme klingt höher als sonst; ihr wird bewußt, daß sie das erste intellektuelle Gespräch ihres Lebens führt. »Nach dem, was D. J. sagt, war dieser Typ, der Tolstoi, ein falscher Fuffziger, hat gern den Armen gespielt und Bauernhemden getragen, aber die hat er jeden Tag gewechselt, die getragenen wurden von Dienstboten gewaschen und gebügelt. Du bist kein falscher Fuffziger, L. Falk. Ein Mädchen könnte sich glücklich schätzen, mit einem wie dir zusammenzusein.«
»Du kennst mich nicht«, stöhnt Lemuel. »Was du siehst, ist nicht, was du kriegst. Es gibt Teile von mir, zu denen du noch nicht vorgedrungen bist. es gibt Teile von mir, zu denen ich noch nicht mal selber vorgedrungen bin.«
»Hey. Ich hab nichts gegen einen kleinen Abstecher hie und da, ja?«
»Jeder liebt die Reise«, entgegnet Lemuel ärgerlich, obwohl er sich eigentlich über sich selbst ärgert. Er bemerkt, daß er sich schon wieder mit Daumen und Mittelfinger die Augen massiert. »Aber das Ankommen verursacht einem Migräne.«
Lemuel kann nicht einschlafen, ist aber zu zerstreut, um die Nacht zu nutzen. Dunkle Gestalten bewegen sich ruhelos auf den Matratzen und erinnern ihn an die Besserungsanstalt, in die er gesteckt wurde, nachdem seine Eltern Scherereien mit dem KGB bekommen hatten. Er wollte, er könnte sich erinnern, wo und wann er die Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force verloren hat. Er wollte, er könnte sich erinnern, warum er sich nicht einmal mehr an so was Simples wie den Verbleib eines Buches erinnern kann. Wenn er es könnte, würde ihm vielleicht eine Last von den Schultern genommen.
Wenn.
Wenn. Sein ganzes Leben scheint auf Pfeilern aus Wenns aufgebaut zu sein, die in den Treibsand unsteter Erinnerungen gerammt wurden.
Seine Gedanken schweifen zu Rain ab. Er versucht ihre Liebesnacht zu rekonstruieren, herauszufinden, was zuerst war und was danach kam, und merkt, wie er sich in einen erotischen Wachtraum hineinziehen läßt. Eine Hand kommt unter seine Decke gekrochen, findet seine Hand und fängt an, seinen Daumen zu streicheln, als könnte der dadurch länger und dicker werden. Eine Stimme haucht ihm was ins Ohr.
Yo! Du warst total super heute morgen. Wie du dich auf die Rampe gelegt hast … Du hättest ums Leben kommen können … Dafür kriegst du jetzt dein Dessert, du hast dir’s verdient.
Lemuel, der nicht Sex im Sinn hat, sondern Essen, hört sich sagen: Ich hab ja noch nicht mal das Hauptgericht gehabt.
Die Stimme, die nicht Essen im Sinn hat, sondern Sex, murmelt: Wir beginnen das Festmahl trotzdem mit dem Dessert. Nimm’s als das Vorspiel, das danach kommt.
Lemuel hört, wie sich jemand an einer Thermosflasche zu schaffen macht. Er hört Kräutertee in eine Tasse gluckern. Er hört jemanden trinken. Dann lehnt sich ein Körper an ihn, eine Hand findet seine Hand, ein angewärmter Mund schließt sich über seinem Daumen und fängt an, ihn mit Zunge und Lippen zu liebkosen.
Nach einer langen, langen Zeit vergeht die Wärme, der Mund zieht sich zurück. Wieder läuft Kräutertee in eine Tasse und wird getrunken. In der stillen Dunkelheit meint Lemuel zu hören, wie sich jemand mit der Flüssigkeit den Mund spült. Eine Hand gleitet zu seinem Hosenschlitz hinunter und zieht den Reißverschluß auf. Eine Stimme haucht ihm ins Ohr.
Hey, hier kommt das Hauptgericht, sagt sie.
Es dämmert Lemuel, als sich der Mund über einem Teil von ihm schließt, zu dem er bisher noch nicht vorgedrungen ist, daß es doch kein Traum ist.
Der Gerichtsdiener verliest die Namen und hakt sie auf seiner Liste ab.
»Starbuck, D. J.«
»Anwesend.«
»Perkins, Word.«
»Anwesend, hm?«
»Holloway, Lawrence R.«
»Anwesend.«
Auf einer Holzbank in der letzten Reihe des Gerichtssaals rückt Rain unauffällig näher an Lemuel heran, der Akten in einer Plastiktüte durchblättert. Sie streichelt den Hund, den sie auf dem Schoß hat, und spricht mit Lemuel, ohne ihn anzusehen. »Manchmal frage ich mich, ob das alles einen Sinn hat«, sagt sie aus dem Mundwinkel. »Die ganze Hektik, mein ich. Safer Sex, mein ich. Manchmal denk ich mir, ich sollte mir besser ein Boot kaufen und zu dem gottverdammten Horizont davonsegeln.«
»Wenn du am Horizont angekommen bist«, sagt Lemuel, »siehst du einen neuen Horizont am Horizont.«
»Fargo, Elliott.«
»Anwesend.«
»Afshar, Izzat.«
»Anwesend.«
»Hey, das ist ja eine ekelhafte Vorstellung. Aber Boote machen mich sowieso nervös. Die sind meistens auf dem Wasser. Und ich kann nicht schwimmen.«
»Woodbridge, Warren.«
»Anwesend.«
»Jedzhorkinski, Zbigniew.«
»Anwesend.«
»Übrigens, letzte Nacht«, schneidet Lemuel behutsam ein neues Thema an. »Wo hast du eigentlich diesen Trick gelernt?«
Verlegen krault Rain ihrem Hund das Ohr. »Du meinst, Tee trinken, um den Mund anzuwärmen?«
Lemuel ist peinlich berührt und grunzt nur.
»Nachman, Ascher ben.«
»Anwesend.«
»Macy, Jedidiah.«
»Anwesend.«
»Dearborn, Dwayne.«
»Anwesend.«
»Stifter, Shirley.«
»Ebenfalls anwesend.«
Der Gerichtsdiener nimmt die Brille ab, haucht auf die Gläser und fängt an, sie mit seinem Taschentuch zu putzen.
»Das hab ich an der Highschool gelernt, in der Unterstufe«, erzählt Rain. »Da muß ich zwölf gewesen sein, knapp dreizehn. Eines Tages haben die mich im Umkleideraum der Jungen erwischt, wie ich mit meinem Cousin Bobby geknutscht hab – du weißt schon, dem Basketballspieler, von dem ich dir erzählt hab –, und mich zum Schultherapeuten geschleppt, der mich zu meiner Mutter geschleppt hat, die mich zum Gemeindepfarrer geschleppt hat. Der Pfarrer muß den Argwohn gehabt haben, daß ich ihm was verschweige, weil er hat mich gefragt, ob Bobby meine Titten angefaßt hätte. Er fragte, ob Bobby mir die Hand in die Unterwäsche geschoben hätte. Er fragte, ob ich Bobbys Fimmel angefaßt hätte. Er fragte, ob ich mich in Oralverkehr ergangen hätte.
Hinterher hab ich ein Lexikon aufgetrieben und ›sich ergehen‹ und ›Oralverkehr‹ nachgeschlagen. Da hab ich dann begriffen, was der Pfarrer mit seiner nächsten Frage gemeint hatte. Er hat sich ganz dicht an das Holzgitter vorgebeugt, ich konnte hören, wie er im Marschtempo ein- und ausgeatmet hat, als er mich fragte, ob ich mir vorher den Mund angewärmt hätte. Da saß ich also, in puncto Unschuld der Jungfrau Maria dicht auf den Fersen, ja?, und hab die Grenzen des verbotenen Sex erkundet. Und ich hab’s kapiert. Dank dem Pfarrer hab ich kapiert, daß Sex noch mehr war als Cousin Bobby auf den Mund zu küssen.«
»Morgan, Rain.«
Rain schaut auf. »Yo.«
Der Gerichtsdiener späht über den Rand seiner Lesebrille. »Die übliche Antwort ist ›Anwesend‹.«
Rain lächelt kampflustig. »Yo«, wiederholt sie mit Nachdruck.
Die Footballspieler und Cheerleader kichern über Rains Unverfrorenheit. Dwayne flüstert ihr aufmunternd zu: »Weiter so, Babe.«
Der Gerichtsdiener verzieht das Gesicht.
»Falk, Lemuel.«
Lemuel hebt die Tatze. »Yo.«
Diesmal bricht wilder Applaus im ganzen Saal aus.
»Darling, Christine«, schreit der Gerichtsdiener in den Tumult.
Eines der Cheerleader-Mädchen springt auf und stellt sich in den Gang. »Gebt mir ein Yo«, ruft sie.
Alle achtundsechzig Angeklagten jauchzen im Chor: »YO!«
»Ich hör euch nicht«, ruft das Mädchen.
Die Angeklagten drehen die Lautstärke um ein paar Dezibel auf: »YOOO!«
»Ich hör euch immer noch nicht.«
»YOOOOOOOO!«
Rain lehnt sich wieder zu Lemuel hin. »Als ich zwölf war, knapp dreizehn, war ich so dünn wie eine Nagelfeile und so platt wie ein Bügelbrett. Ich hatte vorstehende Schneidezähne und knubblige Knie. Zum Ausgleich hab ich mir eine Zeitlang Watte in den BH gestopft. Ich hab nur aus Armen und Beinen bestanden und bin regelmäßig über mich selber gestolpert, wenn ich aus dem Bett gestiegen bin. Dann hab ich auch noch Akne im Endstadium bekommen und gedacht, ich hätte sie mir bei meinem Cousin Bobby geholt. Du kannst dir vorstellen, wie deprimiert ich war, oder? Damals hab ich beschlossen, mir zehn Jahre zu geben, um schön zu werden.« Rain wirft nervös den Kopf herum, weil ihr die Haare übers Auge hängen. »Das ist das erste Jahr, in dem ich schön bin. Und ich genieße es. Und wie.«
Lemuel sieht sie an. »Ich kann zu dir sagen, ich auch, ich genieße es auch. Und wie.«
Eine Tür in der hinteren Saalwand geht auf. »Erheben Sie sich«, ruft der Gerichtsdiener, und eine Richterin marschiert mit klackenden Absätzen über den Holzfußboden zum Podium.
»Die Verhandlung ist eröffnet«, verkündet der Gerichtsdiener. »Den Vorsitz führt die ehrenwerte Henrietta Parslow.«
Die Richterin läßt sich in ihrem Leder-Drehsessel nieder, setzt sich die Brille auf und ruft mit einer knappen Handbewegung die Verteidiger und Staatsanwälte zu sich. Vier Männer in dreiteiligen Anzügen treten vor. Man konferiert im Flüsterton. Einer der Verteidiger hebt die Stimme.
»Meine Klienten werden sich im Höchstfall des Unbefugten Betretens schuldig bekennen.«
Die Richterin klopft einmal mit dem Hammer auf den Tisch. Die Verteidiger gehen wieder zu ihren Plätzen. Nuschelnd beginnt die Richterin, die Anklageschrift zu verlesen. ». um oder gegen. in voller Absicht. Verordnung gegen Unbefugtes Betreten.« Sie schaut auf. »Ich nehme jetzt die Schuldbekenntnisse der Angeklagten entgegen.«
Der Gerichtsdiener verliest erneut die Liste.
»Starbuck, D. J.«
»Schuldig.«
»Perkins, Word.«
»Schuldig, hm?«
»Holloway, Lawrence R.«
»Schuldig.«
In Panik wendet sich Lemuel Rain zu. »Warum bekennen die sich alle schuldig?« flüstert er.
»Unsere Anwälte haben die dazu gebracht, die Anklage auf Unbefugtes Betreten zu beschränken, im Austausch gegen die Zusage, daß wir uns alle schuldig bekennen«, flüstert Rain zurück.
Auf dem Podium zieht sich die Richterin die Lippen nach.
»Nachman, Ascher ben.«
»Schuldig.«
»Macy, Jedidiah.«
»Schuldig.«
»Dearborn, Dwayne.«
»Schuldig.«
»Stifter, Shirley.«
»Ebenfalls schuldig.«
»Morgan, Rain.«
»Yo. Schuldig.«
»Falk, Lemuel.«
Die Richterin hält im Schminken inne und läßt den Blick durch den Saal schweifen. Der Gerichtsdiener, die Verteidiger und der Protokollführer drehen die Köpfe, um sich den Mann genau anzusehen, der auf den Namen Falk, Lemuel hört.
»Falk, Lemuel«, wiederholt der Gerichtsdiener.
Rain versetzt Lemuel einen Rippenstoß. »Na, mach schon«, flüstert sie. »Du spuckst dreißig Dollar Strafe aus und verschwindest hier wie Wladimir.«
Lemuel erhebt sich mühsam. Er räuspert sich. Streckt das Kinn vor. »In einem zivilisierten Land würde der Fahrer des Bulldozers vor Gericht stehen«, erklärt er. »Er hätte mich fast umgebracht.«
Die Richterin faßt Lemuel mit Samthandschuhen an. »Dem Gericht ist bekannt, daß Sie ein Geständnis wegen Unbefugten Betretens unterzeichnet haben.«
Lemuel schüttelt den Kopf. »Das ist nicht meine Unterschrift.«
»Er hat es vor meinen Augen unterschrieben«, versichert der Gerichtsdiener.
»Ich hab auch gesehen, wie du’s unterschrieben hast«, flüstert Rain. »Wie hast du das denn gedeichselt?«
»Ich habe von rechts nach links geschrieben«, flüstert Lemuel zurück. »Klaf Leumel.« Es heißt immer noch Lemuel Falk, aber die Handschrift ist ganz anders.«
Die Richterin wendet sich an den Kreisstaatsanwalt. »Ist der Angeklagte vorbestraft?«
Der Staatsanwalt, ein kurzsichtiger Beamter mit Fliege, hält sich eine gelbe Karteikarte vor die Nase. »Bei der Aufnahme seiner Personalien, Euer Ehren, gab er zu, schon einmal festgenommen worden zu sein, erklärte jedoch, es sei nicht zu einer Verurteilung gekommen.«
»Ich hatte Unannehmlichkeiten, wurde aber nicht angeklagt«, beharrt Lemuel.
»Da das angeblich in der ehemaligen Sowjetunion war«, fährt der Staatsanwalt fort und wirft einen finsteren Blick in Lemuels Richtung, »sind wir zu diesem Zeitpunkt außerstande, den wahren Sachverhalt zu ermitteln.«
Die Richterin spricht Lemuel direkt an: »Weswegen wurden Sie denn festgenommen, Mr. Falk?«
»Das Komitet gossudarstwennoi besopasnosti kam dahinter, daß jemand mit dem Namen L. Falk eine Petition unterschrieben hatte, in der der sowjetische Imperialismus in Afghanistan kritisiert wurde.«
»Was ist dieses Komitet soundso?«
»Das war der amtliche Name des KGB.«
»Und, haben Sie die besagte Petition unterschrieben?«
»Mein Name stand darunter, aber ich konnte die Leute überzeugen, daß es nicht meine Unterschrift war. Ich hatte zwei Unterschriften, eine für meinen Personalausweis oder mein Soldbuch oder meine Anträge auf Erteilung eines Visums. Die andere Unterschrift habe ich dort verwendet, wo es nützlich sein konnte, hinterher abzustreiten, daß es meine Unterschrift war.«
»Und welche dieser beiden Unterschriften steht auf dem Dokument, auf dem Sie das Unbefugte Betreten gestanden haben?« will die Richterin wissen.
»Die, bei der jeder Graphologe schwören würde, daß es nicht meine ist.«
Ein wenig pikiert wendet sich die Richterin an die beiden Verteidiger. »Ich sehe keine Möglichkeit, das Schuldbekenntnis von siebenundsechzig Angeklagten zu akzeptieren, wenn der achtundsechzigste sich für nicht schuldig erklärt. Wenn er des Unbefugten Betretens für nicht schuldig befunden wird, was wir als theoretisch möglich ansehen müssen, würde das bedeuten, daß auch die anderen siebenundsechzig nicht schuldig sind.«
Die Angeklagten in den vorderen Reihen besprechen sich hastig mit den beiden Verteidigern, lösen sich dann aus der Gruppe und versuchen, Lemuel zu überreden, sich schuldig zu bekennen.
»Wenn Sie nicht auf den Kuhhandel eingehen«, warnt ihn D. J., »kommt es zu einem richtigen Verfahren. Und wer füttert dann meine Kätzchen?«
»Eine zweite Verhandlung bedeutet, noch ein oder zwei Nächte im Gefängnis«, fügt der Rebbe hinzu. »Und ich weiß nicht mal genau, in welcher Richtung Jerusalem liegt.«
»Wie soll ich die Miete für den Tender bezahlen, wenn ich keinem die Haare schneide?« fragt Rain.
»Ich mußte schon zwei Seminare ausfallen lassen«, beklagt sich Professor Holloway.
»Ich hab schon zwei Trainingsspiele verpaßt«, sagt einer der Footballspieler. »Hobart mischt uns am Samstag abend auf, wenn unsere Verteidigung bis dahin nicht bombenfest steht.«
»Das ist Zbig«, teilt Rain Lemuel im Flüsterton mit. »Er ist ein Tackle polnischer Abstammung mit einem unaussprechlichen Nachnamen.«
»Dann müssen wir uns Anwälte nehm«, gibt Word Perkins mit einem ärgerlichen Blick auf die dreiteiligen Anzüge zu bedenken. »Die kriegen in der Stunde mehr wie ich in der ganzen Woche.«
»Möchte sich der Angeklagte jetzt erklären?« fragt die Richterin vom Podium herab.
»Du hast ja wirklich mitgemacht«, flüstert Rain.
»Wer entscheidet, welche Seite oben ist?« fragt Lemuel Rain.
»Hey, denen gehört das Grundstück für die Deponie«, erwidert Rain leise. »Denen gehört die Polizei. Denen gehört das Gericht. Die entscheiden.«
»Falk, Lemuel?« ruft der Gerichtsdiener.
Lemuel zuckt die Achseln. »Schuldig«, brummelt er.
Die Richterin schlägt mit dem Hammer auf den Tisch, als sei etwas versteigert worden. Als das letzte Schuldbekenntnis protokolliert ist, verurteilt sie jeden Angeklagten zu dreißig Dollar ersatzweise dreißig Tagen Haft, rafft ihre Akten zusammen und trippelt hinaus, bevor jemand es sich anders überlegen kann.
Als die Angeklagten aus dem Gerichtsgebäude strömen, jeder um dreißig Dollar erleichtert, sind sie im ersten Moment von der grellen Sonne geblendet. Lemuel, flankiert von Rain und dem Rebbe, in der Hand die Plastiktüte mit den Akten des Sheriffs, hört von der Straße her zögernde Jubelrufe. Er beschattet sich mit einem Hefter die Augen, blinzelt und erkennt ungefähr hundert Studenten, die sich in einem kleinen Park auf der anderen Straßenseite hinter der Absperrung der Polizei versammelt haben. Über ihren Köpfen schwebt ein riesiges, wie ein Spinnaker in der Sonne geblähtes Transparent. Daraufsteht in riesigen Lettern:
»Was für eine Sprache ist das, Klaf L?« fragt Lemuel den Rebbe.
»Auf keinen Fall Hebräisch und auf keinen Fall Jiddisch. Klingt für mich wie Liliputanisch.«
Rain winkt aufgeregt. »Die sind so total happy, daß sie das gottverdammte Transparent verkehrt rum halten«, ruft sie aus. »Verstehst du? Das ist wie der rednet auf dem Fenster von meinem Friseurladen.«
Die Studenten sehen etwas oder jemanden und lassen ein Gebrüll los, das sich anhört wie das Donnern einer Brandung. Anscheinend wiederholen sie immer wieder dieselben zwei Wörter.
»Ell Falk! Ell Falk! Ell Falk!«
»L. Ficker-Falk!« haucht Rain ehrfürchtig.
Zwei Busse fahren vor dem Gericht vor, und die Angeklagten steigen ein, um die fünfzehn Meilen bis zum Campus in Backwater zu fahren. Auf der Straße, bei einem weißen Lieferwagen mit den Buchstaben »ABC« an der Seite, ruft jemand: »Da ist er – der mit dem gammligen braunen Mantel und der Skimütze mit der Bommel!«
Verwirrt stolpert Lemuel die Stufen hinab auf die Busse zu und sieht sich jählings zwei Dutzend erwachsenen Männern gegenüber, die verschiedene Kameras auf ihn richten. Andere Männer halten lange Stangen, von denen Mikrofone herunterhängen. Blitzlichter flammen auf. Lemuel, der durchaus einen Lynchmob von einem Empfangskomitee unterscheiden kann, wenn er einen sieht, weicht schrittweise zurück; Anzeichen von Angst zeigen sich im jähen Weiß seiner sonst blutunterlaufenen Augen, im leichten Hochziehen der Augenbrauen, im fast unmerklichen Zittern seiner Nasenflügel.
»Wieso haben Sie für eine Müllkippe Ihr Leben aufs Spiel gesetzt?« schreit jemand.
»Wie fühlen Sie sich, jetzt, wo der Gouverneur nicht weiterarbeiten läßt, bis ein neues Gutachten fertiggestellt ist?«
Rain packt Lemuel am Handgelenk und reißt seinen Arm hoch, als sei er eben Schwergewichtsmeister geworden. »Er fühlt sich absolut galaktisch«, ruft sie. »Er kommt aus dem Land, das der Welt Tschernobyl geschenkt hat. Er weiß, was es heißt, Milch von Kühen zu trinken, die gottverdammtes radioaktives Gras fressen müssen.«
»Er ist dagegen, den Garten Gottes mit atomaren Abfällen zu vergiften«, wirft der Rebbe ein.
Die Kameras und Mikrofone rücken konzentrisch gegen Lemuel vor.
»Stimmt es, daß Sie Gastprofessor am Institut für Chaosforschung sind?«
»Was können Sie uns über den Zusammenhang zwischen Chaos und Tod sagen?«
»Ich kann zu Ihnen sagen.« setzt Lemuel an, aber seine Stimme geht unter im Geschrei der fragenden Journalisten. Am Häkchen eines Fragezeichens hängt immer schon wieder die nächste Frage. In ihrer hektischen Fragerei merken die Journalisten offenbar nicht, daß keine Antworten kommen.
»Ist das ein Designermantel, den Sie da tragen, Professor?«
»Haben Sie schon früher einmal einen Selbstmordversuch unternommen?«
»Wenn die Bulldozer wiederkommen, werden Sie sich dann wieder auf die Rampe legen?«
»Wer weiß, welche Seite oben ist?« schreit Rain. Ihre Erregung überträgt sich auf Mayday, die ihr zu Füßen vor Nervosität einen Furz läßt. »Wenn die wiederkommen«, fährt Rain fort, »ist auch der Professor wieder zur Stelle.«
»Wußten Sie, daß eine Fernsehkamera Sie aufnahm, während Sie auf der Rampe lagen?«
»War Ihnen klar, daß die Bilder zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden würden?«
»Achtzig Millionen Amerikaner haben gesehen, wie Sie dem Tod ins Auge blickten. Wie fühlt man sich, wenn man plötzlich ein Held ist?«
»Wie fühlt man sich, wenn man Menschenmassen anlockt?«
»Ich bin allegorisch gegen Menschenmassen«, murmelt Lemuel.
»Was hat er gesagt?«
»Könnten Sie das wiederholen?«
Bevor Lemuel den Mund aufmachen kann, schreit ein anderer: »Wie ist es, noch am Leben zu sein?«
»Stimmt es, daß Sie ein führender Dissident in der Sowjetunion waren?«
Verzweifelt versucht Lemuel, auch mal ein Wort dazwischenzukriegen. »Es gibt keine Sowjetunion mehr.«
»Können Sie das Gerücht bestätigen, daß Sie sich einmal vor Breschnews Limousine gelegt haben, um sie an der Ausfahrt aus dem Kreml zu hindern?«
»Stimmt es, daß Sie auf dem Roten Platz verhaftet wurden, weil Sie gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan demonstriert hatten?«
»Stimmt es, daß Sie Petitionen unterschrieben haben, in denen der KGB aufgefordert wurde, sich öffentlich für siebzig Jahre Terror zu entschuldigen?«
»Ich habe Petitionen unterschrieben, aber ich habe nicht meine richtige Unterschrift verwendet«, versucht Lemuel zu erklären, aber die Fragen übertönen nach wie vor die Antworten.
»Ist etwas Wahres an dem Gerücht, daß Sie Rußland verlassen haben, um sich dem Wehrdienst zu entziehen?«
»Was halten Sie von den amerikanischen Frauen?«
»Was halten Sie vom amerikanischen Essen?«
»Was halten Sie von Amerika?«
»Ihr Städte, Ihre Bürger sind kleiner als in Rußland«, antwortet Lemuel, »aber vielleicht kommt mir das nur so vor, weil ich erwartete, daß.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Waren Sie Ihrer Frau jemals untreu?«
»Falls Sie sich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten träfen, was würden Sie ihn fragen?«
In einer ganz plötzlich eintretenden Pause kann man Lemuel deutlich sagen hören: »Ich würde ihn fragen, wie eine Stadt mehr Florida sein kann als eine andere.«
»Sind Sie für oder gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf fünfundfünfzig Meilen?«
»Sind Sie für oder gegen die Frauenbewegung?«
»Sind Sie für oder gegen die Todesstrafe?«
»Die Sozialisten haben ihre Chance gehabt«, sagte Lemuel, »jetzt muß der Kapitalismus Gelegenheit bekommen.«
Ein Fernsehreporter dreht sich um und spricht in die Kameras. »Der russische Immigrant, der sein Leben riskiert hat, um den Kreis vor radioktiver Verseuchung zu bewahren, ist entschieden für die Todesstrafe.«
»Würden Sie uns Ihre Meinung über den sauren Regen sagen?«
»Was halten Sie von gemischten Schulen als Maßnahme gegen ethnisches Ungleichgewicht?«
»Würden Sie sich ein amerikanisches oder ein japanisches Auto kaufen?«
»Wie stehen Sie zum Haushaltsdefizit?«
»Sind Sie jemals Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen oder sind Sie es noch?«
»Es gibt keine Kommunistische Partei mehr«, murmelt Lemuel, aber es ist, als sei er gar nicht anwesend.
»Sind Sie homosexuell oder sind Sie es jemals gewesen?«
»Ist etwas Wahres an dem Gerücht, daß Sie HIV-positiv sind?«
»Würden Sie es wieder tun?«
»Wenn Sie noch einmal leben könnten, was würden Sie anders machen?«
Wenn Sie etwas ungeschehen machen könnten, was Sie getan haben, wofür würden Sie sich entscheiden?«
»Wenn Sie etwas tun könnten, was Sie unterlassen haben, wofür würden Sie sich entscheiden?«
Ohne zu überlegen, platzt Lemuel mit etwas heraus, was ihm selbst sinnlos erscheint. »Ich würde denen sagen, daß ich es war, der die Ausbildungsvorschrift versteckt hat.« Aber keiner hört ihm zu.
»Wie denken Sie über Abtreibung?«
»Haben Sie vor, politisches Asyl zu beantragen?«
»Wollen Sie die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen?«
»Haben Sie vor, bei der nächsten Wahl für den Kongreß zu kandidieren?«
»Welches sind Ihre akademischen Ambitionen?« Rain zeht sich eins der baumelnden Mikrofone vor den Mund. »Er hat keine Ambitionen«, ruft sie in das Mikrofon ein Statement für die überregionalen Sechsuhrnachrichten. »L. Falk ist abwärts mobil. Er möchte nur leben und leben lassen in einem Kreis ohne radioaktive Müllkippen, ohne Serienmorde und ohne Vögel, die an aufgequollenem Reis ersticken.«
»Wie heißen denn Sie?« erkundigt sich ein Reporter. »R. Morgan«, ruft Rain ihm zu, »wie J. P. Morgan. Falls Sie den nicht kennen, der hatte was mit Geld zu tun, und das ist was, womit ich auch gern zu tun hätte.«
»Würden Sie bitte mal herschauen, Mr. Falk.«
»Könnten Sie bitte zu der amerikanischen Flagge am Gerichtsgebäude hinaufsehen, Mr. Falk?«
»Heben Sie bitte noch mal seinen Arm hoch, Miss.«
»Wie denken Sie über die Legalisierung von Drogen?«
»Über den Schutz der Ozonschicht?«
»Über den Verbrauch fossiler Brennstoffe.«
»Wie stehen Sie zur Abtreibung?«
»Die Frage hat er vorhin schon nicht beantwortet«, bemerkt eine bekannte Moderatorin.
»Was halten Sie von der kostenlosen Verteilung von Kondomen an Highschools?«
»Ich bin zu sehr beschäftigt mit der Suche nach reiner, unverfälschter.« setzt Lemuel an.
»Sind Sie für die Abschaffung des Wahlmännergremiums?«
»Ich bin für Bildung und.« setzt Lemuel an.
»Danke für das Interview, Mr. Falk«, ruft ein Journalist von der Straße herauf.
»Ihr seid.« will Lemuel antworten, aber die Journalisten stürmen bereits davon, um den Redaktionsschluß nicht zu verpassen.
». Weichkäse, alle miteinander«, vollendet Lemuel leise den Satz.