Sein Territorium – Sie haben meine Grundregel nicht vergessen, oder? – muß man an der gottverdammten Grenze verteidigen. Und genau das war der Grund, warum ich L. Falk eine solche Bemerkung nicht durchgehen lassen konnte.
»Wie kommst du dazu zu behaupten, ich hätte das Ganze geplant?« gab ich zurück. »Du bist ein erwachsener Mensch mit einem freien Willen.«
Lahme Ausrede, wenn Sie mich fragen. »Ich hab freiwillig dein Rauschgift genommen«, murmelte er. »Aber was dann kam, geschah ohne mein Zutun.«
»Aber du hast auch nicht nein gesagt. Du hast sie nicht zurückgestoßen.«
»Man will ja nicht unhöflich sein. Ich wollte ihre Gefühle nicht verletzen.«
Mir platzte ehrlich gesagt fast der Kragen, obwohl ich gar keinen Kragen anhatte – ich war blankärschig, wie man in Backwater sagt, hüllenlos, wie man in der Filmbranche sagt. In der Badewanne. Mitten in einer Morgennachder-Nachtdavor-Konferenz. Mit dem Homo chaoticus in meinem Leben.
»Daß ich nicht lache«, sagte ich in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, daß mir nicht nach Lachen war. »Du rauchst Dope, bist einen Moment weggetreten, und wie du wieder zu dir kommst, ist Shirley dabei, dir einen zu blasen, und du denkst an Höflichkeit? Komm schon, was Dümmeres fällt dir nicht ein?«
Um die gottverdammte Wahrheit zu sagen: Ich war schon ziemlich ausgeflippt, als sich L. Falk in der Nacht davor bereit erklärte, sich uns anzuschließen, wobei unter »uns« Dwayne und Shirley zu verstehen sind, und natürlich meine Wenigkeit, der legendäre Tender von Backwater. L. Falk sah meinen ausgehöhlten Hite Report offen auf dem Tisch liegen, als er vom Büro heimkam; mein wichtigster guter Vorsatz fürs neue Jahr, daß man nie das Dope nehmen soll, das man selbst verkauft, ist an Freitagen außer Kraft gesetzt; es war gegen Mitternacht, wir drei waren schon ziemlich prall, wir hatten seit Stunden geraucht und geklönt. Er sah zu, wie Dwayne, der wirklich gefühlvolle Fingerspitzen hat, ich spreche aus eigener Erfahrung, dicke Thai-Trüffel drehte. Shirley zündete eine am Rest der letzten an, nahm einen langen Zug und hielt sie L. Falk hin.
Das war nicht der erste Joint, der ihm angeboten wurde, ja?, aber er hatte bis dahin immer eine Ausrede gefunden zu müde, zu sehr damit beschäftigt, die erotischen Bänder der Zufälligkeit bis zu ihren psychotischen Ursachen zurückzuverfolgen, muß früh ins Bett, weil er am nächsten Tag punkt elf einen Vortrag über Apfelkuchen halten muß, bla, bla, bla. Aber diesmal kam er mir noch. frustrierter vor als sonst, wahrscheinlich wegen den Zwistigkeiten hey, »Zwistigkeiten« gehört bestimmt in die gleiche gottverdammte Liga wie »menstruieren« und »wandte den Blick ab«, oder?
Wo war ich? Yo! Zwistigkeiten. Ich wolle sagen, L. Falk war ganz schön vergrätzt wegen seinem Streit mit diesem Wieheißternoch, dem Boß von dem Chaos-Institut. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Joint anstarrt, so wie Eva den ersten Golden Delicious beäugt haben könnte, und ihn nur allzu gern probieren möchte, aber Angst hat, es könnte der Wurm drin sein. Er sah zu mir her. Ich zuckte mit einer meiner wohlgerundeten Schultern. Er zuckte mit einer seiner schweren Schultern. Er griff zu und nahm den Joint.
»Und was mach ich damit?« fragte er mich.
»Sag Lem, was er damit machen soll, Babe«, sagte Dwayne zu Shirley.
Shirley lümmelte sich neben L. Falk auf die Couch, drapierte ein Bein über seinen Schenkel und einen Arm um seine Schultern und gab ihm einen Kurs für Anfänger.
»Du führst A in B ein«, sagte sie. »A ist der Joint, B ist dein Mund.«
Ich muß zugeben, daß wir das affengeil fanden, Dwayne und Shirley und ich, ihm zuzusehen, wie er an dem Joint zog und den Rauch drinbehielt, bis ihm die Augen tränten. Sogar Mayday schien zu lächeln. L. Falk wedelte mit der Hand den Rauch weg und sagte uns, das Zeug hätte bei ihm keinerlei Wirkung, er würde überhaupt nichts spüren, er hätte den Verdacht, daß meine weltberühmten Thai-Trüffel in Wirklichkeit aus irgendeinem Hinterhof im tiefsten Herzen von Brooklyn stammten. Dann fing er zu kichern an. Als wir ihn fragten, was es zu kichern gäbe, sagte er irgendwas in dem Sinn, daß er sich verdammt noch mal Zeit lassen würde, bevor er ja sagt. Shirley drückte ihm eine ihrer winzigen Titten in den Arm und fragte ihn, wozu er denn ja sagen wolle. Lallend gab L. Falk ihr zur Antwort, daß er ja sagt zur Zufälligkeit von Jahwes Hand und nein zur Zufälligkeit von Menschenhand. Dann fing er ewig zu labern an, darüber, daß er sich ohrfeigen könnte, da nicht früher draufgekommen zu sein.
Shirley hat wahrscheinlich gedacht, sie kann ihn so lange am Rauchen halten, wie sie ihn am Reden halten kann. Sie hat L. Falk den Joint zurückgegeben und gefragt, was das ist, wo er jetzt erst draufgekommen ist. Immer noch kichernd, hat er uns mitgeteilt, daß die Lektion, die er aus den Serienmorden gelernt hätte, auch auf die Zufälligkeit im allgemeinen anwendbar wäre; er hat gesagt, sobald man versucht, Zufälligkeit künstlich herbeizuführen – ich hoffe, ich krieg das richtig hin –, ist es keine zufällige Auswahl mehr. Er bekam den Schluckauf, zog noch einmal an dem Joint und hielt den Atem an, bis der Schluckauf weg war. Dann hat er noch ein bißchen gekichert und gesagt, was der Zufälligkeit der Menschen fehlt, ist die Zufälligkeit. Was, anders ausgedrückt, bedeutet – immer noch Originalton L. Falk –, daß Zufälligkeit genau wie Gott nicht erfunden, sondern entdeckt werden muß.
Shirley hing an seinen Lippen und nickte, als ob er ihr Sachen beibrächte, ohne die sie nicht leben könnte. Dwayne hat meinen Blick gesucht, zu Shirley hin genickt, dann die Zunge rausgestreckt und suggestiv damit gewackelt.
Man mußte kein Psychoklempner sein, um zu sehen, was Shirley im Kopf rumging.
»Dwayne und ich, wir haben beide gemerkt, daß Shirley heiß auf dich war«, erkläre ich L. Falk in der Badewanne. Ich lasse heißes Wasser nachlaufen, weil ich nämlich gern schwitze, wenn ich mich einweiche, da seh ich, wie L. Falks beschnittenes Periskop aus den Schaumbläschen des Schaumbads auftaucht.
Bloß daß er an das dachte, woran er dachte, hatte einen Homo erectas aus ihm gemacht.
Und zu sehen, wie mein Homo sich in einen erectus verwandelte, hat mich angeturnt. Ich heizte uns beiden ein.
»Es hat dir also nicht nicht gefallen, stimmt’s?«
L. Falk schien mit der Frage zu ringen, ich sah, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, sah den Rauch aus seinen Ohren kommen.
»Na, sag schon«, drängte ich.
»Ich kann zu dir sagen, daß es mir zu dem Zeitpunkt nicht nicht gefallen hat. Was wahrscheinlich bedeutet, daß es mir gefallen hat.«
»Also beschreibt.«
»Ich soll es beschreiben? Laut?«
»Yo«, sagte ich. »Alles«, sagte ich. »Von E bis Z.«
Es war, als hätte ich »Sehrohr ausfahren!« befohlen.
Langsam rutschten L. Falk die Lider über die Augen, woraus ich schloß, daß er sich nicht nur erinnerte, sondern das Ganze noch mal durchlebte. Mit dem Strom schwimmen.
»Ich hab geträumt«, sagte er gedankenverloren. »In meinem Traum schwebte ich über Backwater wie eine Wolke in Hosen, das ist aus einem Gedicht von Majakowski, und verdunkelte die Sonne, ja?, als ich auf einmal spürte, wie sich etwas Warmes, Feuchtes über meinem du weißt schon was schloß.«
»Na los, sag’s schon, sprich’s aus.«
Er holte tief Luft. »Penis.«
Ich schob meinen Fuß durch den Schaum und kraulte mit den Zehen sein Periskop. Sein linker Fuß kam auf mich zugeschwommen und dockte an meiner Schmetterlingstätowierung an. Ich legte die gekonnte Imitation einer läufigen Hündin hin.
»Und dann und dann und dann?«
»Und dann kam Shirley hoch, um Luft zu holen. »Ich kann das nicht so gut«, sagte sie. ›Mein Mund ist zu klein.‹«
»Typisch Shirley, immer nach Komplimenten angeln.«
»Ich wollte sie trösten. Ich hab ihr gesagt, daß sie es ganz toll macht. ›Ich bin nicht so gut wie der Tender‹, sagte sie mit einem Seufzer. ›Der Tender ist phantastisch.‹« Ich fragte sie, woher sie wüßte, wie gut du bist. ›Von Dwayne. Er sagt, Rain bläst irrsinnig gut. Sie hat einen großen Mund.‹« – ›Die haben miteinander geschlafen, Dwayne und Rain?‹ fragte ich. ›Mann, ich dachte, du weißt das, sonst hätte ich mir nicht den Mund verbrannt. Wir waren ab und zu alle drei an einer größeren Verschmelzung beteiligt. Dwayne und Rain. Ich und Rain. Dwayne und Rain und ich, à trois, wie die Franzosen sagen. Hast du’s denn noch nie à trois gemacht?««
Ich ließ meine Ferse an L. Falks Schenkel entlanggleiten. »Und, hast du?«
»A deux übersteigt schon fast meine Möglichkeiten.«
»Das hast du Shirley aber nicht gesagt?«
»Und ob ich das zu ihr gesagt habe. ›Du wirst es toll findenc, versprach mir Shirley. ›Ein flotter Dreier, das ist ein Trip, den du unbedingt mal machen mußt. Du kommst völlig durcheinander. Nach einer Weile kriegst du nicht mehr mit, wer eigentlich was mit wem macht. Es wird sehr. betriebsam, wenn du weißt, was ich meine.c«
»Schneller Vorlauf zu den nicht jugendfreien Szenen«, befahl ich ungeduldig.
»Uns ging der Gesprächsstoff aus, und sie machte weiter. Nach einer Weile fragte ich sie, ob sie versucht, mich mit dem Mund zum Orgasmus zu bringen. Durch ihre Naturwelle hörte ich die Worte ›Warum‹ und ›nicht‹.«
»Dieses Biest«, sagte ich bewundernd. Und auch eifersüchtig. Es machte mir ehrlich nichts aus, daß sie mit meinem Freund rummachte, es paßte mir nur nicht, daß sie es ihm womöglich besser machte als ich. Außerdem – wie ich zufällig weiß, und vergessen Sie nicht, ich bin ein Profi hat sie keine Naturwelle.«
»Hinterher«, fuhr L. Falk fort, »wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Also hab ich danke gesagt. Ich sagte ihr, es wäre eine sehr noble Geste, den..«
»Na?«
». Penis von einem Freund in den Mund zu nehmen. Shirley kuschelte sich an mich, schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne und sagte, das war doch nichts Besonderes, sie hätte doch bloß A in B eingeführt, ich sollte mir da weiter keine Gedanken drüber machen, das Vergnügen wäre ganz auf ihrer Seite gewesen, es würde ihr Spaß machen, hin und wieder einen fremden Schwanz zu lutschen, weil Abwechslung verschönt das Leben. Oder so ähnlich.«
Das war eindeutig nicht der geeignete Moment, L. Falk über Typen aufzuklären, die sich hinterher bedanken, als ob man ein Tender war, der nur seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan hat. »Ihr beiden überschlagt euch ja vor Höflichkeit«, sagte ich mit von Sarkasmus triefender Stimme. »Vielleicht schreibt ihr mal gemeinsam ein Benimmbuch. Der Titel könnte lauten: Etikette und oraler Sex – Ein Leitfaden für Greenhorns.«
L. Falk war so mit dem Remake seines Pornos beschäftigt, daß er den Sarkasmus überhörte, aber der neue Slang-Ausdruck entging ihm natürlich nicht. »Was bedeutet denn Greenhorn?«
»Ein Greenhorn ist ein neu Eingewanderter, der seinen Arsch nicht von seinem Ellbogen unterscheiden kann und denkt, es war physisch möglich, sein Herz auf dem Ärmel zu tragen. Mit anderen Worten, es ist jemand, der keine Ahnung von Anatomie hat. Und deshalb braucht er einen Leitfaden für oralen Sex, mit oder ohne Etikette.«
L. Falk legte das »Greenhorn« in seinem Wortschatz ab, mit dem langsamen, feierlichen, von einem Schürzen der Lippen begleiteten Nicken, auf das Professoren das Patent haben.
»Aber wo war ich?« fragte er sich selbst. »Yo! Shirley hat gesagt, sie würde mir wirklich gern zeigen, wie man ihren Namen rückwärts schreibt. So, wie sie’s sagte, hat es sehr wichtig geklungen. Sie hat gesagt, die Menschheit war unterteilt in solche, die ihren Namen rückwärts schreiben können, und solche, die es nicht können. Aber als ich mit einem Stift und einem Blatt Papier ankam, hat sie schon geschnarcht. Also bin ich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer gegangen.«
Ich verstärkte die U-Boot-Patrouillen in der näheren Umgebung seines Periskops. »Du bist in unserem E-Z erst beim M.«
»Und da sah ich das Bündel Kleider auf der Couch. Der Fernseher lief mit abgeschaltetem Ton, es war eine von diesen Nachtsendungen, wo ein paar Mädchen mit ein paar Männern mitgehen, und dann reden alle schlecht übereinander, und sie raten, wer was über wen gesagt hat. Ich faßte die Sachen an – dein Minirock, dein hautenger gerippter Pullover, deine violetten Strumpfhosen, dein grauer Calvin-Klein-Slip. Ich glaube, meine beiden Herzen, das in meiner Brust und das auf meinem Ärmel, ließen mehrere Schläge aus, als ich dann auch noch Dwaynes gestreiftes Buttondown-Hemd, seine Designer-Jeans und seine seidenen Boxershorts sah.«
»Uuuuuuuuuuuuuh.«
»Ich fing an, die Sachen ordentlich über die Lehne der Couch der legen – ich lebe in einem permanenten Chaos, ich suhle mich in Ordnung, wo immer ich sie finde –, als ich Geräusche im Bad hörte. Ich tappte durch den Gang zur Tür.«
»Die verzogen ist und sich nicht mehr richtig zumachen läßt.«
»Durch den Spalt sah ich euch beide in der Wanne. Du hast zwischen seinen ausgestreckten Beinen gekniet, die rosa und unbehaart waren. Du hast über seine Schultern gegriffen, um ihm den Rücken zu waschen. Deine Nippel waren nur Zentimeter von seiner Omabrille entfernt. Seine linke Hand hatte sich um deinen rechten Mops geschlossen. Mit der rechten hat er deine linke Hüfte gestreichelt.«
»Du hast wirklich einen Blick für Details. Und, ist dir einer abgegangen, wie du mich nackt mit einem andern Typ gesehen hast?«
»Ich konnte es nicht fassen«, murmelte L. Falk so leise, daß ich mich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. »Es war unglaublich schön. Es kam mir vor, als ob ich dich mit mir beobachtete. aber gleichzeitig hab ich kaum noch Luft gekriegt.«
»Ich finde es toll, daß du uns zugesehn hast«, sagte ich, und ich meinte es ehrlich. Wenn man ein Voyeur ist, wie die Franzosen das nennen, hat man’s auch gern, voyiert zu werden, falls mir diese Konjugation gestattet ist.
»Ich ging ins Schlafzimmer zurück und streckte mich neben Shirley aus. Ich lag im Dunkeln, dachte über die Schwärze der Nacht nach, quadrierte Kreise, folgte den verschlungenen Fäden der Zufälligkeit bis zu ihren chaotischen Ursprüngen. aber vor allem lauschte ich. Ich hörte Shirley in ihren Schnarchpausen atmen, ich hörte den Wind draußen vor dem Fenster heulen, ich hörte die Äolsharfe klingen, die an einem Ast des Baums hängt, ich hörte die Kirchenglocke halb schlagen.« L. Falk räusperte sich. »Ich hörte die Dielen knarren. Ich hörte, wie im Zimmer nebenan die Couch aufgeklappt wurde. Ich hörte die leisen Stöhner, die aus deiner Kehle kommen, wenn du vögelst.«
»Ich finde es toll, daß du zugehört hast«, flüsterte ich.
»So, jetzt mußt du alles von E bis Z erzählen.«
Es wird auf der Habenseite meiner Bilanz verbucht werden, sollte ich für die Heiligsprechung nominiert werden, daß ich die Gelegenheit nicht gleich beim Schopf ergriffen habe. Ich sagte L. Falk, ich war nicht unbedingt überzeugt, daß er die schmutzigen Einzelheiten verkraften würde; er könnte die Beherrschung verlieren, könnte ausflippen. Er lächelte ein rasiermesserscharfes Lächeln, das zu einem Drittel als unsicher und zu zwei Dritteln als neugierig rüberkam.
»Ich flippe aus, wenn du mir die schmutzigen Einzelheiten nicht erzählst. Wenn du mir alles von E bis Z erzählst, beweist das, daß deine Hauptloyalität mir gilt.«
Hauptloyalität! Dieser gottverdammte L. Falk! Es gab immer noch Teile von ihm, zu denen ich noch nicht vorgedrungen war.
Also dachte ich mir, was soll’s, wenn du willst, daß einer sich wie ein normaler Erwachsener benimmt, mußt du ihn auch wie einen normalen Erwachsenen behandeln. »Ich wollte wieder auf die Couch im Wohnzimmer gehen«, begann ich und beobachtete genau seine Reaktion – so weit, so gut –, »aber Dwayne meinte, du würdest womöglich hereingeplatzt kommen. Er war sich nicht sicher, wie du es aufnehmen würdest, wenn du uns beide ertappst. Auf frischer Tat. Also sind wir in dein Arbeitszimmer gegangen, haben den Nordic Skier beiseite geschoben und die Couch aufgeklappt – hey, irgendwann müssen wir uns aufraffen und die Scharniere von dem Ding ölen. Dann haben wir uns eine Zeitlang umarmt, sozusagen; ich hab dabei durchs Fenster auf das Licht im Turm der Kirche von den Siebenten-Tags-Adventisten an der North Main geschaut, und er hat seine Erektion publik gemacht, indem er sie mir in den Po drückte. Dann hat Dwayne gesagt: ›Hey, wie wir’s, wir könnten’s doch im Hollywoodstil machen, hm, Babe?‹ In Dwayne steckt wirklich so eine Art Rudolph Valentino. Er hat mich hochgenommen und mich zum Bett getragen. Mein Gott, L. Falk, das verdammte Badewasser wird kalt. Na, jedenfalls, an die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Laß heißes Wasser nachlaufen. Du hast also das T-Shirt getragen, das deinen Nabel nicht bedeckt?«
»Yo. Ich hab’s nach dem Baden angezogen, wie immer. Irgendwann muß es verschwunden sein, weil ich kann mich nicht erinnern, es ausgezogen zu haben, aber ich erinnere mich sehr wohl daran, daß er meine Nippel geküßt hat. Und dann hat er mich geleckt.«
»Macht er’s gut?«
». ja. Doch, ja, das kann man sagen. Er gibt einem das Gefühl, daß er es macht, weil er. Mösen mag, und nicht, weil das zufällig als nächstes auf der Liste steht. Er gibt einem das Gefühl, daß man es nicht nötig hat, Spülungen mit Joghurt zu machen.«
». und hat er dabei die Omabrille getragen?«
»Mann, du stellst vielleicht Fragen. Dwayne trägt immer seine Omabrille.«
»Wenn er seine Omabrille getragen hat, dann konnte er ja den sibirischen Nachtfalter in dem Sommersprossenmeer unter deiner Titte sehen.«
»Hey, Dwayne ist kein Greenhorn, der findet sich auch ohne Omabrille in der weiblichen Anatomie zurecht. Na, jedenfalls, danach hab ich seine Nippel gelutscht, aber es wird dich vielleicht freuen zu hören, daß sie sich nicht so aufgerichtet haben wie deine, wenn ich die lutsche.«
Ich zögerte, aber L. Falk warf mir ein »Du bist in unserem E-Z erst beim M« an den Kopf.
»Richtig. M. also dann bin ich hergegangen und hab ihn ein bißchen geblasen.«
»Wie lange ist das, ein bißchen?«
»Fünf Minuten. allerhöchstens acht.«
». hat er die verruchte Tat in deiner Lieblingsstellung vollbracht?«
In der Rückschau wird mir klar, daß wir spätestens hier hätten aufhören müssen. Hier begann das unsichere Gelände, und er hat mich trotzdem weitergeschubst. Ich lasse mich nicht gern schubsen. Vielleicht hab ich deshalb auf klinisch umgeschaltet, das war meine Art, ihn zurückzuschubsen. Ich nehme an, man könnte mir den Vorwurf machen, daß ich ihm weh tun wollte.
Soviel zu meiner Nominierung für die Heiligsprechung.
»OK, aber wenn du die Antwort gehört hast, tust du mir dann den Gefallen und erinnerst dich, daß du gefragt hast, ja? Wo war ich? Yo. Als ich damit fertig war, ihn zu blasen, was vielleicht zehn oder zwölf Minuten gedauert hat, wenn ich’s mir recht überlege, hab ich mich auf den Bauch gedreht, damit er mich von hinten ficken konnte. Ganz langsam. Wie einer fickt, der sicher ist, daß seine Erektion ewig hält. Ich hab die Beine abgewinkelt und meine Fersen in seinen Hintern gegraben.«
». hattest du einen Orgasmus?«
»Na klar. Die Säfte flossen reichlich.«
». hat’s dir gefallen, mit Dwayne zu ficken?«
»Gefallen? Es war phantastisch. Es ist toll, mit einem Freund zu ficken, vor allem, wenn besagter Freund einen phantastösen Körper hat. Ich weiß nicht, warum das nicht mehr Leute viel öfter tun. Ich hab ja da so meine Theorie ich hab dir am Abend der Delta-Delta-Phi-Party davon erzählt –, daß man den Menschen, mit dem man fickt, immer liebt, während man ihn fickt. Und du liebst dich selbst dabei, du hörst auf, älter zu werden, du hörst auf zu sterben.«
L. Falk mußte das erst mal verdauen. Nach einer Weile räusperte er sich mehrmals, was ich als Anzeichen dafür deutete, daß er gleich eine mittlere Atombombe abwerfen würde.
»Und was ist mit der Monogamie?« murmelte er mit seinen Bauchrednerlippen.
Und was ist mit der Monogamie! Ist doch zum Lachen, oder, wenn man einen erwachsenen Homo chaoticus noch aufklären muß. Was ist eigentlich los mit den Männern, daß sie diese unausrottbare Doppelmoral haben? Ich meine, hat er vielleicht Monogamie betrieben, als Shirley ihm einen geblasen hat? Er hört mich mit einem Freund ficken – kann man sich was Normaleres vorstellen? –, und aus heiterem Himmel schwört er auf verschärfte Monogamie.
Ich war nicht auf Streit aus, ja?, also hab versucht, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen.
»Mir ist Polyphonie lieber.«
Mir haben schon mehrere Typen gesagt, daß ich nicht in der Lage bin, Pointen richtig anzubringen. L. Falk lieferte den lebendigen Beweis dafür, als er seine nächste Bemerkung zu unserem Gespräch beisteuerte.
»Monogamie ist nicht mit Monotonie zu verwechseln«, hat er gesagt. »Was du brauchst, ist ein gutes Wörterbuch«, hat er gesagt.
Ein gutes Wörterbuch!
Ich!
Sachen gibt’s.
Da saßen wir und starrten uns an in unserer Wanne, die sich auf einmal anfühlte, als war sie mit Eiswürfeln gefüllt, und sein Periskop war unter die Oberfläche des Ozeans gesunken, der sich zwischen uns ausgebreitet hatte, am Rande unseres zweiten Streits.
»Mach jetzt keine gottverdammten Umschweife«, hab ich dann wohl gesagt, »sag’s frei heraus. Du hältst mich für ungebildet, stimmt’s?«
»Ich glaube, du bist gebildet. auf andere Weise. Du weißt, wie man fickt, aber du weißt nicht, wie man liebt. Ich kann zu dir sagen, daß es möglich ist, sich zu lieben und trotzdem nicht auf die Gewalt, auf den Orgasmus zu verzichten. Ich kann außerdem zu dir sagen, daß meiner Meinung nach nichts mit dir nicht stimmt, was man nicht korrigieren könnte.«
Ich flankte aus der Wanne, schüttelte mich wie ein Hund, um das Wasser loszuwerden, und wickelte den einzigen Körper, den ich je haben werde, in ein Badetuch. »Was meinst du, sollten wir nicht auf der Stelle zum Kern des gottverdammten Problems vorstoßen«, lästerte ich. Ich muß meine Stimme um ein bis zwei Oktaven angehoben haben, denn L. Falks Augen nahmen den erschrockenen Ausdruck an, der an einen Vogel erinnert, der gleich davonfliegen wird. »Daß du mich ficken darfst, heißt noch lange nicht, daß du mich reparieren darfst. Ich bin nämlich nicht kaputt.« Ich wollte mich beruhigen, und fast war’s mir auch gelungen, aber eben nur fast. »Um Himmels willen, L. Falk, eine Zeitlang hab ich gedacht, es könnte was werden mit uns.«
Er stieg auch aus der Wanne. »Es hätte was werden können mit uns«, sagte er aufreizend ruhig – es gibt ja nichts, was einen mehr auf die Palme bringt als ein Typ, der immer ruhiger wird, je mehr man selber in Rage kommt. Er machte das Medizinschränkchen auf und nahm den schwedischen Rasierapparat raus, den die Russentussi mit den Hängetitten ihm geschenkt hatte. Ich traute meinen Augen nicht. Er wollte sich verdammt noch mal rasieren. Mit ihrem gottverdammten Rasierapparat.
»J. Alfred Goodacre hat also doch nicht so ganz schiefgelegen«, murmelte er. »Es hat was mit Chaos zu tun, mit wem ich vögle. In Amerika der Schönen ist Vögeln chaosbezogen.«
Trotz Sonnenseite nach oben und leicht gewendet wußte dieser Stockfisch immer noch nicht, welche Seite oben war. »Bumsen ist eindeutig eine Form von Chaos«, stimmte ich ihm ärgerlich zu. »Deswegen macht es ja soviel Spaß. Hey, wie hast du noch Chaos definiert? Es ist determiniert, also vorherbestimmt, ja? Aber es ist unberechenbar. Genau das bin ich auch. Ich bin dir auch vorherbestimmt, ja? Und ich bin unberechenbar. Denk drüber nach. Ich bin dein gottverdammtes Chaos!«
Ich rauschte aus dem Badezimmer, warf mir ein paar alte Klamotten über und tappte barfuß in die Küche, um mir ein bißchen Joghurt mit Mango-Chutney zu machen. Nach einer Weile kam L. Falk zur Tür herein, pfeifend, um seine Nervosität zu kaschieren. Ich hatte ihn noch nie pfeifen hören und nahm das deshalb nicht als positives, geschweige denn vielversprechendes Zeichen. Mayday muß das Pfeifen auch beunruhigt haben, denn sie ließ zwar weiter den Kopf hängen, aber ihre unbehaarten spitzen Ohren richteten sich auf wie Antennen. L. Falk hatte seinen verschossenen braunen Mantel an und trug seinen alten Tornister von der Roten Armee in der einen und seine Dutyfree-Tüte in der anderen Hand. Er kniete sich vor den Wäschetrockner, machte die Klappe auf und fing an, die trockene Wäsche zu durchsuchen. Er stopfte Socken, Unterwäsche und ein Hemd in die Plastiktüte.
Ich muß zugeben, daß mir das Herz wie verrückt klopfte, aber ich wollte ihm verdammt noch mal nicht die Genugtuung verschaffen, daß er es mitkriegt. »Gehst du aus?« fragte ich so beiläufig, daß man meinen konnte, ich hätte mich ganz nebenbei nach der Uhrzeit erkundigt.
Er wich meinem Blick aus. »Ich nehme einen dieser Nonstop-Flüge nach der am meisten Florida Stadt, die ich finden kann«, verkündete er heiser. »Dair As Sur am Euphrat hat gute Chancen – es geht das Gerücht, daß dieser Ort mehr Florida ist als Miami. Ich ziehe in eine Kakerlaken-Eigentumswohnung mit vollem Personal und zieh nie wieder aus.«
Damit stand L. Falk. auf und ging hinaus. aus meinem ganzen gottverdammten Leben.
Hey, das war kein Beinbruch, es ist ja nicht so, als wäre er der letzte Homo chaoticus auf Erden, oder? Außerdem, Mayday und ich, wir haben uns schon dran gewöhnt, ohne ihn zu leben. Was mir am meisten fehlen wird, obwohl ich ja für alle Fälle noch meinen Hitachi-Zauberstab habe, ist Safer Sex. Das und das blutende Herz, das er auf seinem gottverdammten Ärmel getragen hat. Und seine seltsame Art, Sätze mit »Ich kann zu dir sagen« anzufangen und dann über die reine, unverfälschende Soundso zu labern, die es, wenn ich ihn richtig verstanden habe, überhaupt nicht gibt außer in seiner Einbildung. Mein Gott, so wie der da ewig und drei Tage drüber reden konnte, hätte man meinen können, Zufälligkeit war eine gottverdammte Religion oder so was.
Lies es und weine, das Evangelium nach Sankt Ficker-Lemuel.
Was die Trommeln in meinem Ohr angeht, so kann ich zu Ihnen sagen, daß ich hundertzehnprozentig sicher bin, daß es der reine Zufall war, daß sie genau an dem Tag … in der Stunde. in der Minute wieder anfingen, als L. Falk mit der gottverdammten, an seinen Schenkel schlagenden Dutyfree-Tüte zur Tür hinausging.
Ratata, ratata, ratata.
Nicht mehr lange, und ich werd durchsichtige Blusen tragen … und keiner wird hinsehn. Ich.
Erledigt. Scheiß L. Ficker-Falk.
Lemuel geht in den Stunden nach Mitternacht ruhelos in der Wohnung über dem Rebbe auf und ab, bleibt gelegentlich stehen, um eine der Serienmordakten des Sheriffs wegzulegen und eine andere zur Hand zu nehmen, als er vom Hügel her das Gekreisch von einer neuerlichen Delta-Delta-Phi-Party hört. Ihn überkommt der schier unwiderstehliche Drang, alles stehen und liegen zu lassen – die Aufklärung der Serienmorde kann auch noch bis morgen warten –, auf den Berg Sinai zu steigen, mit Rain einen Slowfox zu tanzen, ihre Brüste an seiner Brust zu spüren, ihre Schenkel an seinen Beinen zu spüren, ihren Lippenstift zu riechen.
Während er sich so die Delta-Delta-Phi-Party vorstellt, fühlt er sich in einen Wachtraum gezogen, der zu zwei Dritteln erheiternd und zu einem Drittel irritierend ist. Zoom auf Lemuel, der mit dem Rücken an der Wand in einem düsteren Kellerraum sitzt. Schwenk durch Schwaden von Marihuana-Rauch und Zoom auf die winzigen Bilder eines Fernsehschirms. Drei silbrige Figuren scheinen sich gegenseitig aufzuspießen. Auf Lemuel, der nach links schaut. Auf das, was er sieht. In einer Ecke zieht Rain ihren Minirock hoch und stülpt sich geübt über den riesigen – na los, sag’s schon, ja? – Penis des jungen Mannes, der auf dem Kissen neben ihr liegt.
Lemuel erkennt den blonden Bart, den Ohrring, die Omabrille. Besagter Penis ist an Dwayne befestigt.
»Shirley betet dich an«, hört er Dwayne sagen. »Hab ich recht, Babe?«
Shirley, hüllenlos, wie man in der Filmbranche sagt, drückt ihre winzigen Titten in Rains Rücken, greift mit beiden Armen nach vorne, knöpft Rains Hemd auf und fängt an, den Nachtfalter unter der rechten Brust zu liebkosen. Shirley kichert gehemmt. »Du wirst es toll finden, mein Engel«, flüstert sie Rain heiser ins Ohr. »Das ist ein Trip, den du unbedingt machen mußt.«
»Rain, Babe, laß doch das Band zurücklaufen und spiel’s noch mal ab, in Zeitlupe«, drängt Dwayne.
Die Traumbilder vor Lemuels innerem Auge rutschen auf einmal rückwärts. Mit einem Ruck lösen sich die aufgespießten Figuren voneinander, der Minirock fällt wie ein Vorhang. Für einen Moment bleibt das Bild stehen, dann beginnt das verführerische Ballett von vorn, diesmal jedoch viel langsamer.
Hinter den Bildern eine Stimme aus dem Off. »Wie oft muß einer eigentlich was wiederholen, damit es endlich in deinen dicken Schädel reingeht?« Lemuel könnte schwören, daß er Rain zwischen den leisten Stöhnern aus ihrer Kehle murmeln hört. »Ich bin’s, das gottverdammte Chaos, stell dir vor. Das könnte so nahe an der reinen, unverfälschenden Soundso sein, wie’s überhaupt nur geht.«
Naheinstellung von Rain, im Gegenlicht, das durch ihr dunkelblondes Haar schimmert, während sie sich wohlig rekelt und sich wieder in Shirleys magere nackte Arme sinken läßt.
»Yo«, haucht Rain. »Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn das nicht die Wahrheit ist.«
Visionen der Unordnung drücken wie Migräne von hinten auf Lemuels Augäpfel. »Scheiß Rain, strichweise oder nicht«, stöhnt er. »Ich kann nicht mit ihr leben, ich kann nicht ohne sie leben.«
Der Rebbe steht auf einer Holzkiste, die Ärmel bis an die knochigen Ellbogen hochgekrempelt, die Hosenträger an den ausgebeulten Hosen baumelnd, und wäscht Geschirr ab, als Lemuel zum Abendessen eintrudelt. »Hekinah degul«, ruft der Rebbe seinem Gast zu. Er bemerkt, daß Lemuel schnuppert. »Was Sie da riechen, ist Speck«, gibt er zu. »Kulinarische Snobs behaupten, ›koscheres Essen‹ sei ein Oxymoron. Als führender Vertreter der koscheren nouvelle cuisine bin ich der lebende Beweis dafür, daß koscher keineswegs mit Essen unvereinbar ist. Und das ist der Grund, warum ich mein Perlhuhn zum Braten mit Speckstreifen umwickelt habe.«
Lemuel knurrt. »Ich dachte, orthodoxe Juden essen keinen Speck.«
»Wer redet denn von essen? Ich rieche ihn nur. Ich bin ohne eigene Schuld süchtig nach dem Geruch von Speck. Oj vej.«
»Wer hat das mit dem koscheren Essen erfunden?!«
Der Rebbe spült einen Teller unter dem laufenden Wasserhahn ab und stellt ihn in den für Fleisch-Geschirr reservierten Plastik-Abtropfständer. »Die Thora instruiert uns: ›Du sollst ein Böckchen nicht in der Milch seiner Mutter kochen.‹ Aus diesem Maulwurfshügel haben unsere Talmudisten einen Berg namens Koscher gemacht, und ich gehöre zu denen, die ihn treu und brav besteigen. Ich besitze – zögern Sie nicht, sie zu zählen, falls Sie glauben, ich übertreibe, es macht mir nichts aus – sechs Sätze Geschirr: je einen für Fleisch und Milchprodukte an Wochentagen, je einen für Fleisch und Milchprodukte am Sabbat und je einen für Fleisch und Milchprodukte zum Passahfest. Wenn ich den Tisch decken will, muß ich jedesmal meine Liste zu Rate ziehen.«
»In letzter Konsequenz«, bemerkt Lemuel trocken, »müßten Sie dann eigentlich auch zwei Zahnprothesen haben, eine für Fleisch und eine für Milchprodukte.«
Der Rebbe stellt die letzten Teller zum Trocknen auf. »Beim koscherem Essen muß man wie bei allem anderen die Grenze vom Rituellen zum Ridikülen beachten.«
Er fordert Lemuel mit einer Handbewegung auf, sich an den Küchentisch zu setzen, verteilt Servietten, die er im Studenten-Schnellimbiß geklaut hat, schaut auf die Uhr, ist mit einem Satz an der Bratröhre und holt ein brutzelndes, mit Speckstreifen umwickeltes Perlhuhn heraus. Sorgfältig zieht er die Speckstreifen ab und läßt sie in den Plastik-Abfalleimer fallen, der mit ein paar Seiten aus dem Jewish Daily Forward ausgelegt ist. Er wetzt das Messer und faßt das Perlhuhn ins Auge wie ein Chirurg, der gleich eine Operation am offenen Herzen vornehmen wird.
»Bloß gut, daß es Noah gegeben hat«, murmelt der Rebbe vor sich hin, während er beginnt, den Vogel zu tranchieren. »Vor der Sintflut waren alle Vegetarier. Dann hatte Jahwe gute Neuigkeiten für Noah. Ich spreche von Genesis 9, Vers 1 bis 3: »Alles, was sich regt, was da lebt, soll euch zur Speise sein.«
Lemuel räuspert sich. Er hat etwas zu verkünden. »Ich möchte zu Ihnen sagen, daß ich Ihre Diskretion zu schätzen weiß, Rebbe. Ich bin jetzt fünf Wochen hier, und Sie haben mir nicht eine einzige Frage gestellt.«
»Die Tatsache, daß Sie wieder hier eingezogen sind, spricht leider für sich selbst«, sagt der Rebbe, ohne aufzuschauen. »Für eine Schickse«, fügt er hinzu und wiegt dabei traurig den Kopf, »hat Rain einen sensationellen Arsch.«
Lemuel hängt seinen eigenen Gedanken nach. »Wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann, war es meine Schuld. Ich liebe es nicht, das Chaos, ich kann nicht damit leben.«
»Seltsam, daß Sie davon sprechen, mit dem Chaos zu leben. Ich bin gerade dabei, die erste Rohfassung des letzten Aufsatzes fertigzustellen, den ich für das Institut schreibe, bevor ich meinem Davidstern nach Brooklyn folge«, erklärt der Rebbe. »Ich nenne ihn Die Thora als Hasardspiel.« Er schaut von seiner Tranchierarbeit auf und zwinkert Lemuel mit beiden Augen über seine Silberbrille hinweg zu. »Knackiger Titel, obwohl man sich ja nicht selber loben soll. Ich spiele mit dem Gedanken, den Aufsatz auf den Umfang eines ausgewachsenen Buchs zu verlängern, wobei ich die Filmrechte behalten würde. Bei so einem heißen Titel weiß man nie, wie viele Millionen man abräumen könnte. Heute eine bescheidene, chaosbezogene Talmudschule im innersten Herzen von Brooklyn, morgen womöglich eine Kette chaosbezogener Talmudschulen, die viele jüdische Vorposten in der Diaspora miteinander verbindet.« Er löffelt zwei gekochte Kartoffeln und ein paar verschrumpelte Erbsen auf einen Teller. »Bein, oder vielleicht Brust?«
»Brust, wenn ich bitten darf, Rebbe. Wenn schon, denn schon.«
»Das hört sich an wie etwas, was Rain sagen könnte.«
»Genau. Hat sie mal gesagt. Das war, als ich ihr von Onan als Pionier des Coitus interruptus erzählte.«
»Na bitte. Die linke oder die rechte?«
Lemuel beäugt ohne sonderliche Begeisterung die beiden Brüstchen. »Links. Rechts. Eins von beiden.«
Mit den Fingerspitzen legt der Rebbe ein Perlhuhnbrüstchen auf den Teller und setzt diesen seinem Gast vor. Er fängt an, sich selbst aufzulegen.
»Meine Startrampe für den Aufsatz – ich setze voraus, daß Sie das interessiert – ist die Geschichte vom Sündenbock, ich spreche von Leviticus 16, Vers 8 bis 10.« Er legt den Kopf schief, schließt die Augen, zwirbelt zerstreut eine seiner Schläfenlocken mit der Fingerspitze und rezitiert aus dem Gedächtnis: »Und Aaron soll das Los werfen über die zwei Böcke; ein Los dem Herrn und das andere dem ledigen Bock. Und soll den Bock, auf welchen des Herrn Los fällt, opfern zum Sündopfer. Aber den Bock, auf welchen das Los des ledigen fällt, soll er lebendig vor den Herrn stellen, daß er ihn versöhne, und lasse den ledigen Bock in die Wüste.«
Der Rebbe stellt seinen Teller hin, schaltet das Motorola ein, dreht am Senderknopf, bis er das Klassikprogramm aus Rochester gefunden hat, und setzt sich zu Lemuel an den Tisch. Er dreht den Kopf zum Radio, hört einen Moment zu und identifiziert das Stück.
»Das würde ich mit verschlossenen Ohren erkennen. Es sind Ravels Valses nobles et sentimentales. Diese Musik verfolgt mich – sie kam im Radio in der Nacht, in der ich meine Kirsche verloren habe.«
Im Rhythmus der Musik mit dem Kopf wackelnd, schenkt der Rebbe sorgsam Wein aus einer Flasche mit dem Etikett Puligny Montrachet in zwei langstielige Kristallgläser und stößt mit seinem Gast an. »Lechaim«, grollt er. Er schließt die Augen, nimmt einen Schluck, kostet, schluckt, nickt zufrieden. »Vielleicht noch ein bißchen jung, ich hätte ihn noch ein, zwei Stunden länger atmen lassen sollen, einen guten Wein kann man nicht früh genug aufmachen, aber so einen kriegt man nicht mal bei Manishewitz. Was den Sündenbock angeht«, fährt er mit vollem Mund fort, »da gibt es eine jüdische Legende über Asasel – manche bezeichnen ihn als gefallenen Engel, andere sagen, er war ein Dämon, aber wie auch immer, die Geschichte bleibt dieselbe. Jedes Jahr an Jom Kippur wurden zwei Ziegenböcke durch das Los ausgewählt, einer für den Herrn, der andere, als Sündenbock, für Asasel. Der Hohepriester – ich beneide ihn nicht um diese Aufgabe übertrug alle Sünden des jüdischen Volkes auf den Sündenbock, woraufhin das Tier, zweifellos taumelnd unter der Bürde auf seinem Rücken, in die Wüste gejagt und über eine Felswand in den Tod getrieben wurde.«
Der Rebbe mustert Lemuel über das Perlhuhnbein hinweg, das er benagt. »Wahrscheinlich fragen Sie sich – eine durchaus legitime Frage, die Sie ungescheut stellen sollten –, welches verschlüsselte Signal Jahwe den festangestellten Wissenschaftlern und Gastdozenten am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung sendet, wenn Er festsetzt, daß der Bock durch das Los bestimmt werden muß, also mit anderen Worten durch den Zufall. In meinem Aufsatz stelle ich die These auf, daß wir Leviticus 16, Vers 8 vielleicht als Kernstück der Thora verstehen sollten, wichtiger noch als das Manifest des Monotheismus in Deuteronomium 6, Vers 4: ›Schma jisrael adonai eloheinu, adonai echaaaad … Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr.« In Leviticus 16, Vers 8 gibt Jahwe, sonst ein ausgebuffter Pokerspieler, der sich nie in die Karten schauen läßt, also dort gibt Jahwe seine Absichten zu erkennen. Er will uns überreden, uns mit dem anzufreunden, was für uns wie Zufälligkeit aussieht, und auch, insoweit als Seine Zufälligkeit ein Fußabdruck des Chaos ist, mit dem Chaos. Wenn ich auf der richtigen Fährte bin, und ich glaube, das bin ich, dann will Er, daß wir lernen, mit dem Chaos zu leben, selbst wenn uns dabei unbehaglich zumute ist.«
»Ich verstehe nicht.« Lemuel blinzelt. Er setzt noch einmal an. »Wie kann man denn mit etwas leben, wenn einem dabei unbehaglich zumute ist?«
Der Rebbe holt mit dem Fingernagel ein Stück Perlhuhnfleisch zwischen zwei Zähnen hervor. »Es wird möglich, wenn man begreift, daß erst das Chaos dem Leben Pfiff gibt.«
Er sieht aus einem Winkel von Lemuels blutunterlaufenen Augen eine einzelne Träne hervorquellen. Verlegen zieht er sich die Brille vom Gesicht, haucht geräuschvoll die Gläser an und beschäftigt sich damit, sie mit seiner Serviette blankzureiben.
»Wie finden Sie in Speckstreifen gebratenes Perlhuhn?« fragt er, bestrebt, ein unverfänglicheres Thema anzuschneiden. »Kennen Sie den jiddischen Witz über das Perlhuhn? Wenn ein Jude ein Perlhuhn ißt, wird einem von beiden schlecht.«
Keiner von beiden lacht.
Seufzend lehnt sich der Rebbe zurück und konzentriert sich auf die Musik aus dem Radio. »Sind Sie seit Ihrer intellektuellen Hedschra vielleicht schon einmal auf Ravels Maxime gestoßen?« Als Lemuel die Schulter hochzieht, zeigt der Rebbe ein schiefes Lächeln. »Ordnung. Routine. Chaos. Joie de vivre – das ist seine Maxime.« Plötzlich brennen seine talmudischen Glotzaugen in epochaler Erleuchtung. »Könnte es sein. meinen Sie, daß es im Bereich des Möglichen liegen könnte?«
»Daß was sein könnte? Daß was im Bereich des Möglichen liegt?«
Der Rebbe schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich könnte mich in den Hintern beißen, daß ich das nicht eher begriffen habe, und ich könnte mich noch zusätzlich in den Hintern treten dafür, daß ich es jetzt begreife, denn wer möchte schon, daß ihm so eine Erkenntnis im Hirn herumspukt?«
»Was denn für eine Erkenntnis, um Gottes willen?«
»Das Evangelium nach Ravel weist auf eine merkwürdige Schlußfolgerung, nämlich daß das Chaos nicht die Box ist, sondern nur ein Halt an der Box.«
Hingerissen von der bestechenden Logik seiner Theorie, springt der Rebbe auf und umkreist mit dem Hühnerbein fuchtelnd seinen Gast. Seine Schläfenlocken tanzen.
»Hier stehen wir, fünftausendsiebenhundertzweiundfünfzig Jahre steinigen Weg seit der Schöpfung und dem Garten Gottes hinter uns – das sind, rechnen Sie mit, dreitausenddreihundertvier Jahre, seit Jahwe dem ersten jüdischen Bergsteiger, der den Berg Sinai erklomm, höchstpersönlich die Liste der Ge- und Verbote ausgehändigt hat –, und sind immer noch blind für die Moral in Ravels Musik, taub für das Menetekel. Bedenken Sie die Möglichkeit, fast bin ich geneigt zu sagen, die Wahrscheinlichkeit, daß Sie gar nicht schiefgelegen haben, als Sie diesen unverschämten Vortrag vor den festangestellten Wissenschaftlern und Gastdozenten des Instituts hielten und Ihre Zuhörer allesamt vor den Kopf stießen mit der Andeutung, das Chaos sei womöglich nur eine Zwischenstation.«
Das bestickte Scheitelkäppchen rutscht dem Rebbe vom Kopf. Er fängt es in der Luft auf. »Der eigentliche Endpunkt«, fährt er fort, das Hühnerbein in der einen, das Käppchen in der anderen Hand, »davon steigt mir etwas in die Nase, wenn ich die Thora lese, oj, ich spür’s in den Eingeweiden, ich spür’s in den Lenden, der eigentliche Endpunkt könnte Joie de vivre sein! Oj, Lemuel, Lemuel«, krächzt er, getragen von einer Woge der Begeisterung, »bedenken Sie auch die Möglichkeit, und hier flirte ich mit der Ketzerei, aber was soll’s, ich nehm’s auf mich, daß joie de vivre vielleicht nur eine Phantasie ist, die die Franzosen als reine, unverfälschte Zufälligkeit betrachten.«
Schwer atmend und verlegen grinsend, die Arme weit ausgebreitet, die Handflächen nach oben gedreht, entfernt sich der Rebbe rückwärts von seinem Gast – und distanziert sich von seinem Einfall. »Das war natürlich nur hypothetisch gesprochen. Jeder Trottel weiß, daß im innersten Herzen von Brooklyn kein Platz für reine, unverfälschte Zufälligkeit ist.«
Heiser flüstert Lemuel: »Sie haben fast das Gelobte Land erreicht, Rebbe. Machen Sie jetzt um Himmels willen keinen Rückzieher. Ich kann zu Ihnen sagen, Jahwe ist nicht so verkrampft, wie Sie denken. Schwimmen Sie mit dem Strom. Wagen Sie den Sprung.«
Der Rebbe schaut, als hätte er Speck verschluckt. »Von was für einem Sprung reden Sie?«
»Vom Sprung des Glaubens. Es muß reine, unverfälschte Zufälligkeit geben, sonst hat alles keinen Sinn. Und wenn es sie gibt, muß sie das Werk Gottes sein. Hey, sie ist Gott!«
»Sie sind nicht mehr ganz bei Tröste«, erklärt der Rebbe, im Zimmer auf und ab gehend. »Wäre reine, unverfälschte Zufälligkeit alias joie de vivre wirklich der Endpunkt, dann würde das Leben von saftigsten Alternativen nur so strotzen. Vor einem solchen Überangebot würden wir verrückt werden, von hungrig ganz zu schweigen. Niemand würde mehr etwas zustande bringen. Maler würden vor Schreck über die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten zu malen aufhören, Architekten würden nicht mehr bauen, Mädchen würden sich nicht mehr überreden lassen, mit Jungen ins Bett zu gehen, Sie, Lemuel, würden nie wieder ein Hühnerbein benagen. Ihr links, rechts, eins von beiden hätte keinen Sinn mehr, Sie würden das Gewaltsame des Zwangs zur Wahl vermissen, würden den Orgasmus vermissen, der davon kommt, daß man gewählt hat. Oj, welche Worte kann ich finden, um Sie das Licht sehen zu lassen? Wir denken, wir werfen das Los für den Sündenbock, aber Jahwe hat die Würfel gezinkt, will sagen, Er wählt den Sündenbock für uns aus. Sie hatten von Anfang an recht – Jahwes Zufälligkeit ist Pseudo-Zufälligkeit, will sagen, Seine Zufälligkeit ist ein Fußabdruck des Chaos. Und das bedeutet Gott sei Dank, daß alles unter der Sonne vorherbestimmt ist, auch wenn es nicht in unserer Macht steht, die Zukunft vorherzusehen. Links, rechts, entweder oder funktioniert, weil Ihre Wahl vorherbestimmt ist, Sie brauchen also nicht zu wählen. Oj, wie könnte es anders sein? Wo würde der Jahwe der Thora, dieser triebhafte Rächer, den wir kennen und lieben, aber nicht besonders mögen, wo, frage ich Sie, antworten Sie, wenn Sie können, wo würde Er ins Bild passen, wenn es reine Zufälligkeit gäbe, wenn nichts vorherbestimmt wäre, wenn wir täglich tausendmal eine Wahl, eine Entscheidung treffen müßten, wenn wir, im Gegensatz zu Gott, die wahren Herren unseres Schicksals wären?«
Der Rebbe grapscht sich ein Boulevardblatt von einem Stapel Zeitungen, mit denen er seinen Mülleimer auslegt, hockt sich auf seinen Stuhl und blättert ärgerlich die Seiten durch. »Unter meinem Dach erweist sich sogar Lesefutter als koscher«, murmelt er. Etwas in der Zeitung zieht seinen Blick auf sich. »Oj vej«, murmelt er, die Nase im Sportteil vergraben, »im fünften Rennen in Belmont startet eine Stute namens Messiah. Ob sie um eine Nasenlänge siegen oder als letzte durchs Ziel humpeln wird, ist bereits vorherbestimmt. Aber kann ich es riskieren, nicht auf sie zu wetten?«