4. KAPITEL

Lemuel beginnt den Tag mit einem flotten Marsch – durch die Gänge des E-Z Mart. Im Hinausgehen wirft er einen Zettel in Dwaynes Eingangskörbchen, auf den er geschrieben hat, welche Artikel bedenklich knapp geworden sind. »Gestern waren viel mehr fettarme Joghurts da als heute«, hat er notiert. »Dasselbe gilt für Kellogg’s Cornflakes und Mrs. Foster’s krümelfreie Schokoladenkekse.«

Als die Turmuhr der frisch getünchten Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten neun schlägt, findet sich Lemuel im Institut ein und flirtet kurz mit seinem weiblichen Freitag, einer fülligen Frau namens Mrs. Shipp, die errötet, als er mit den Lippen ihren Handrücken streift. In seinem Büro verstellt er die Jalousien, bis das Licht stimmt, und schreitet die Abstände zwischen den Wänden ab, um sich zu bestätigen, was er schon weiß, nämlich daß der ihm zugeteilte Raum doppelt so groß ist wie sein altes Büro in Sankt Petersburg. Er nimmt eines der mitgebrachten Bücher aus dem Regal, schlägt es an verschiedenen Stellen auf, um Variable zu überprüfen, die mit dem langsamen Kreisen der Galaxien und dem wilden Flug der Elektronen zusammenhängen, und ruft dann Mrs. Shipp zum Diktat.

»Beginnen sollte der Vortrag«, intoniert er, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen und das Ohr auf das Kratzen des Füllers auf ihrem Notizblock eingestimmt, das ihn an den endlos in der letzten Rille von Schuberts Streichquintett in C-Dur schleifenden Tonabnehmer erinnert, »mit der Definition des ersten Eigenwerts und der Eigenfunktion im klassischen Fall, und anschließend sollte ich diskutieren, was ich unter dem Maximum-Prinzip verstehe. An dieser Stelle sollte ich eine Fußnote anbringen und erklären, daß ich im klassischen oder stetigen Fall die Krein-Rutman-Theorie des ersten Eigenwerts zugrunde lege.«

»Entschuldigen Sie, Herr Professor«, unterbricht ihn Mrs. Shipp, »wie schreibt man bitte Krein-Rutman?«

»K, W, A, S.«

»Ich verstehe nicht …«

Lemuel erinnert sich an die Redewendung, die Rain benutzte, als sie ihm den G-Punkt erklären wollte. »Ich habe Sie. auf den Arm genommen, Mrs. Shipp.« Er buchstabiert ihr den Namen Krein- Rutman und diktiert weiter. »Ich darf nicht vergessen zu erwähnen, daß der stetige Bereich bei den Randbedingungen die Gültigkeit des Hopf-Lemmas voraussetzt »Entschuldigen Sie.«

Lemuel öffnet die Augen.

»Wie schreibt man bitte Hopf-Lemma, Herr Professor?«

»S, T, O, C, K, Bindestrich, F, I, S, C, H.«

Mrs. Shipp schreibt erst mit, dann schaut sie auf. »Das ist wohl wieder einer Ihrer Scherze?«

Lemuel dreht sich mit seinem Sessel und schaut durch die Jalousie hinaus. Er sieht Studenten, die am Fuß des Glockenspielturms auf Mülltonnendeckeln den vereisten Hang zum Parkplatz der Bibliothek hinunterschlittern. Wenn er sich konzentriert, kann er ihr Gekreisch hören. Er sehnt sich danach, seine Arbeit liegenzulassen, den Hügel zu dem Turm hinaufzusteigen und auch auf einem Mülltonnendeckel den Hang hinunterzufahren. Er überlegt, ob es möglich wäre, aus Gewicht und Gestalt des Mülltonnendeckels, dem Reibungskoeffizienten der vereisten Oberfläche und der Topographie des Abhangs die Bahn eines bestimmten Deckels bei einer beliebigen Fahrt zu berechnen. Er überlegt, was ihn davon abhält, sich zu den vor Begeisterung schreienden Studenten auf dem Hügel zu gesellen.

Er fragt sich, was bei ihm nicht stimmt, daß er jedes irdische Vergnügen unweigerlich in Futter fürs Chaos verwandelt.

»Ich kann zu Ihnen sagen, daß es sich um ein schwaches Beispiel für russischen Humor handelt«, sagt Lemuel schließlich über die Schulter zu Mrs. Shipp.

Später, als die Sekretärin das Diktat abtippt, kopiert er ein paar Programme von einer mitgebrachten Diskette auf die Festplatte des Computers in seinem Büro und meldet sich dann beim Großrechner des Instituts an, einer Cray Y-MP C-90. Die Wissenschaftler des Instituts reißen sich um Rechenzeit an dem Supercomputer; Lemuel ist gebeten worden, sich mit maximal vier Stunden pro Tag zu begnügen, damit die festangestellten Wissenschaftler und die anderen Gastdozenten die Cray ebenfalls nutzen können. Eilig gibt er ein paar Variable und einige Zeilen eines Computercodes ein, läßt ein Programm laufen, geht im Büro auf und ab, während die Cray mit den Zahlen spielt, und hastet zum Drucker, als dieser mit der Ausgabe der Ergebnisse beginnt. Er studiert den Ausdruck, so wie er aus dem Drucker läuft, und schüttelt frustriert den Kopf. Er ist überzeugt, daß irgendwo eine Variable fehlt, aber wo? Wie soll man eine Variable finden, wenn sie deshalb fehlt, weil sie eine Variable ist? Wie kann man Leidenschaft für etwas empfinden, was es gar nicht gibt?

Oj, klingt ihm der Refrain des Rebbes im Ohr, mir dreht sich der Kopf von den vielen Fragen ohne Antworten.

Gegen zehn geht Lemuel zur Teepause in Nachmans riesiges Büro, das seinem eigenen schräg gegenüber liegt. Nachmans Schreibtisch, der am einen Ende des Raums steht, ist beladen mit Zeitschriften, unbeantworteten Briefen, unvollendeten Aufsätzen und Seiten des Jewish Daily Forward, in die Sandwiches eingewickelt sind. Hinzu kommen zwei Telefone, ein Glas Senf, Elmer’s Alleskleber, mehrere Ersatz-Glühbirnen, eine alte Underwood-Reiseschreibmaschine, eine Schachtel Teebeutel, ein Klebefilm-Abroller ohne Inhalt, ein Opernglas, ein Becher mit gespitzten Bleistiften, eine Kaviardose, in der sich (wie Lemuel erfährt, als er seinen Hausgenossen näher kennenlernt) römische Münzen und Topfscherben befinden, die der Rebbe höchstpersönlich vor ewigen Zeiten bei seiner ersten Reise durchs Heilige Land in den Dünen von Caesarea gesammelt und illegal ausgeführt hat. Hüfthohe Bücherstapel lehnen an Wänden und Stühlen. Büchertürme ragen bis über die Simse und verdunkeln die Fenster. Am anderen Ende von Nachmans Büro bilden die Bücherstapel Gassen, und die Gassen bilden ein Labyrinth. Noch mehr Bücher sind auf einem Tisch in einer Ecke gestapelt und in das Regal an der Wand gegenüber den Fenstern gestopft.

Der Rebbe errät Lemuels Gedanken. »Sie sind verblüfft von der Unordnung hier. Sie fragen sich, wie ich da noch etwas finden kann.« Er hält zwei Zuckerwürfel über seine Tasse, zwinkert und wirft sie nacheinander ab wie Bomben, so daß der Tee über den Schreibtisch spritzt. Er rührt mit einem Brieföffner um. »Unordnung«, sagt er, bläst über den Tee und nimmt laut schlürfend den ersten Schluck, »ist der größte Luxus derer, die in geordneten Verhältnissen leben. Wir erschaffen ein Chaos. Wir suhlen uns in Unordnung.«

Einen Moment lang läßt sich Lemuel widerstrebend in einen düsteren Wachtraum ziehen. unscharfe Bilder von Unordnung drücken wie Migräne auf die Rückseite seiner Augäpfel. eine Flutwelle gesichtsloser Männer schwappt durch Türen und Fenster, Schuhe mit dicken, eisenbeschlagenen Sohlen treten nach Menschen, die am Boden liegen.

»In Petersburg«, erzählt er dem Rebbe und schüttelt sich wie ein aus dem Wasser kommender Hund, »haben wir in einer Art permanentem Chaos gelebt und uns in Ordnung gesuhlt, wenn wir sie irgendwo finden konnten.« Und düster fügt er hinzu: »Was nicht oft der Fall war.«

Der Rebbe nickt nachdenklich. Lemuel zuckt die Achseln. Nach einer Weile deutet er mit seiner Teetasse auf die Bücherberge. »Wie viele haben Sie?«

»Zu Hause und hier vielleicht insgesamt zwölf-, fünfzehntausend.«

»Und, haben Sie die alle gelesen?«

»Kein einziges«, erklärt der Rebbe stolz. »Juden legen mir seit Jahren Bücher auf die Schwelle wie Moses im Körbchen. Ich nehme sie an, weil sie von Gott handeln – es ist gegen jüdisches Gesetz, ein Buch zu vernichten, das den heiligen Namen Gottes enthält.«

»Eines Tages werden Sie so viele Bücher haben, daß sie Sie lebendig begraben werden.«

»Welch eine Art zu sterben … der Eastern Parkway Or Hachaim Hakadosch, zu Tode gequetscht unter einer Lawine von Büchern, die den heiligen Namen Gottes enthalten. Solcher Tod gebiert christliche Heilige.«

»Ich wußte nicht, daß Juden christliche Heilige werden können.«

Ein schiefes Lächeln erhellt Nachmans Gesicht. »Und Simon, genannt Petrus, was war der?«

Lemuel trinkt einen Schluck Tee und platzt mit der Frage heraus, die er bisher nicht zu stellen wagte. »Wenn ich bitten darf, wie kommt es, daß es einen jüdischen Rabbi, einen Gottesmann aus dem innersten Herzen Brooklyns, an ein Institut verschlägt, das sich dem Chaos widmet?«

Der Rebbe schaut Lemuel an. »Welche Version hätten Sie denn gern?«

»Wie viele gibt es?«

»Es gibt die offizielle Version, die im Hochglanz-Vorlesungsverzeichnis des Instituts steht. Und dann gibt es die mehr oder minder wahre Geschichte.«

Durch ein Grunzen gibt Lemuel ihm zu verstehen, daß ihm die wahre Geschichte lieber wäre.

»Ich will mittendrin anfangen«, verkündet der Rebbe. »Ich war Lehrer an einer Talmudschule in Saint Louis, mußte aber kündigen, als meine Studenten es sich in den Schädel setzten, daß ich möglicherweise der Messias sei. Ich versuchte, es ins Lächerliche zu ziehen, so wie Jesus von Natzereth es ins Lächerliche gezogen hat, indem ich ihnen nämlich sagte: ›Ihr sagt recht daran, denn ich bin es auch.‹ Ha! Als Messias ergeht es einem ähnlich wie einem Spion. Man wird immer wieder gefragt: ›Sie sind es also, ja?‹ Sagt man darauf das Offenkundige – ›Wenn ich es wäre, würde ich es Ihnen sagen?‹ – ist der andere erst recht überzeugt, daß man es ist. Natürlich bin ich nicht der Messias, aber wenn ich es wäre, würde ich es trotzdem abstreiten. Wie auch immer, ich ging her und kaufte ein Brownstone-Haus am Eastern Parkway im Bezirk Crown Heights von Brooklyn und gründete meine eigene Talmudschule. Die ersten paar Jahre ging alles gut. Aber wer hätte ahnen können, daß das Viertel sich in ein schwartzer- Getto verwandeln würde? Sie sind sich dessen wahrscheinlich nicht bewußt, aber die Konkurrenz auf dem Talmudschulensektor ist hart. Ich bekam nicht mehr genug Schüler zusammen. Die wenigen Unverwüstlichen, die sich auf Straßen voller arbeitsloser Schwarzer wagten, waren, gelinde gesagt, nicht gerade das Gelbe vom Ei. Manche konnten kaum Hebräisch lesen und schreiben, geschweige denn Aramäisch. Ich gab Nachhilfeunterricht in Lesen und Schreiben, aber das war, wie wenn man ins Feuer spuckt. Es dauerte nicht lange, und ich kam mit meiner Hypothek in Verzug. Ich hielt mich über Wasser, indem ich aus dem Keller der Talmudschule koscheren Wein verkaufte, und hielt mir die verdammten Nazi- Banker, von denen manche Juden waren, vom Leib, indem ich sie des Antisemitismus bezichtigte. Aber dann brachte ich mit einem Interview in einer Talkshow die ganz Welt gegen mich auf.«

»Ich dachte, in Amerika kann jeder sagen, was ihm in den Sinn kommt.«

»In Amerika kann jeder denken, was ihm in den Sinn kommt.

Aber manches sagt man nicht laut. Was ich laut sagte, war: Wir müßten uns mit der Musik abfinden, auch wenn uns die Melodie nicht gefalle, und die Musik sei nun mal, daß die Gois den Juden auch in tausend Jahren den Holocaust nicht verzeihen würden. Ha! Hätte ich für jedesmal, wo mein Telefon klingelte, einen Dollar gekriegt, ich hätte die Hypothek auf einen Sitz zurückzahlen können. Die jüdischen Organisationen heulten wie Wölfe vor meiner Tür. Der Jewish Daily Forward kastrierte mich in einem Leitartikel. Die führenden Institutionen rochen Blut, schlossen auf eine Wunde und entzogen mir die Lizenz. Ich verlor meine vielgeliebte Talmudschule.«

»Womit wir beim Institut wären.«

»Womit wir beim Institut wären. Ich erinnerte mich, irgendwo, vielleicht im Scientific American, einen Artikel über das Institut für Chaosforschung gelesen zu haben. Spontan schrieb ich eine Bewerbung – was hatte ich schon zu verlieren? –, in der ich vorgab, ich hätte mich mein Leben lang für die Spuren des Chaos in der Thora interessiert. Da Physiker und Chemiker und Mathematiker im Personalausschuß des Instituts das Sagen hatten, rechnete ich mir aus, daß sie nicht genug über die Thora wissen würden, um einen Rebbe abzulehnen, noch dazu den Or Hachaim Hakadosch aus Brooklyn. Und siehe da, meine Rechnung ging auf.«

Der Rebbe schraubt den Deckel von dem Senfglas ab, schnuppert am Inhalt, schraubt den Deckel wieder drauf. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Gott ist mein Zeuge – ich glaubte anfangs nicht an mein eigenes Blabla. Aber als ich dann so tat, als ob, erkannte ich, daß es in der Thora tatsächlich Spuren des Chaos gibt. Ha! Ich bin seit meiner Kindheit ein Thora-Junkie, öffne immer wieder Austern der Weisheit auf der Suche nach der PERLE, in Großbuchstaben, die ich für GOTT, in Großbuchstaben, hielt. Und was habe ich gefunden? Ich fand eine ganz normal geschriebene Kuriosität, die sich als Chaos entpuppte!«

Der Rebbe läßt sich in seinen Sessel zurücksinken. Müde schließen sich die Lider über seinen hervortretenden Augen. »Ihre Freundin Rain würde sagen: Sachen gibt’s.«

Kurz vor der Mittagspause kreuzt Charlie Atwater in Lemuels Büro auf, in der Hand mehrere Seiten mit Meßergebnissen zur Oberflächenspannung von Tränen. Er verrät nicht, wie er an das Datenmaterial gekommen ist, aber es ist ein offenes Geheimnis am Institut, daß er eine Affäre mit seiner Sekretärin hat und ihr das Leben schwermacht. Da noch nicht Mittag ist, hat er seinen ersten Drink noch vor sich und spricht die Konsonanten richtig aus. Er ist ganz aus dem Häuschen.

»Ich habe noch nie Tränen untersucht«, sagt er. Mit leicht zitterndem Finger zeigt er auf die säuberlichen Spalten mit Zahlen, die für den unbefangenen Betrachter scheinbar keinerlei Ordnung, keine Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. »Die Zahlen beginnen genau wie bei aus dem Hahn tropfendem Leitungswasser bei Zimmertemperatur, aber dann« – er blättert zur zweiten Seite um – »spielen sie verrückt. Ich habe in Tränen geangelt, aber ich weiß nicht, ob ich Pseudo-Zufälligkeit oder reine Zufälligkeit am Haken habe.«

Lemuel, der zum erstenmal auf dieser Seite des Atlantiks seine Domäne abschreitet, klinkt sich von seinem Bürocomputer aus in die Cray Y-MP C-90 des Instituts ein. Mit einem Programm, das er noch in der ehemaligen Sowjetunion geschrieben hat, läßt er Atwaters Zahlen von dem Großrechner auf die verräterischen Spuren einer Ordnung durchforsten. Die ersten Ergebnisse sind nicht schlüssig, deshalb extrapoliert er – er erweitert Atwaters Experiment um neun hoch neun. Noch ehe eine Stunde vergangen ist, findet er einen schwach erkennbaren Pfad und schlägt ihn ein. Am frühen Nachmittag kann er am Horizont den fast unsichtbaren Schatten eines Musters ausmachen, das mathematische Porträt der Ordnung im Herzen eines chaotischen Systems, das die Chaosforscher als seltsamen Attraktor bezeichnen. Lemuel macht Atwater auf das Muster aufmerksam. Der schlampt inzwischen wieder bei den Konsonanten: »Alscho stehen Tränen doch im Zuschammenhang mit dem Chaos. Ich brauche unbedingt wasch zu trinken.«

Dunkelheit liegt über Backwater, als Lemuel Feierabend macht. »Wissen Sie schon das Neueste?« fragt ihn Mrs. Shipp, als er im Hinausgehen an ihrem Schreibtisch vorbeikommt. »Es ist in aller Munde. Der Zufallsmörder hat wieder zugeschlagen.«

Rain, die nackten Füße auf Mayday, hört aus dem Radiowecker in der Küche Nachrichten, als Lemuel auftaucht. Der Leichnam einer Studentin an einer staatlichen Universität nicht weit von Backwater ist mit einem Plastiksack über dem Kopf und einem Loch von einer.38er Kugel im Kopf in einem Keller an ein Rohr gefesselt gefunden worden. Rain ist so entsetzt, daß sie die Scheibe Vollkornweizenbrot vergißt, die sie in ihren altmodischen Toaster mit den aufklappbaren Seiten gesteckt hat. Es fällt ihr erst wieder ein, als das Brot in Flammen aufgeht. Mayday rappelt sich mühsam auf und betrachtet die Rauchwolken, die aus dem Toaster aufsteigen.

»Ich bin sogar schon zu blöd, eine gottverdammte Scheibe Brot zu toasten«, giftet sie. »Von jetzt an«, gelobt sie, während sie mit einem Küchenhandtuch die Flammen ausschlägt, »kriegt jeder Unbekannte, der in den Tender kommt, eine Ladung Lachgas in die Visage.«

Plötzlich steht das Handtuch in Flammen. Mit einem spitzen Schrei wirft sie es durch die Küche. Es landet auf einem Pappkarton mit Küchentüchern und Servietten. Im Handumdrehen brennt der ganze Karton. Rain grapscht nach der Milchtüte auf dem Tisch und versucht, das Feuer mit Milch zu löschen, aber die Tüte ist fast leer. Sie rennt zum Ausguß, füllt ein Glas mit Wasser und wirft in ihrer Panik das Glas mitsamt dem Wasser nach dem Karton, mit dem Erfolg, daß das Feuer auf einen Stapel Zeitungen übergreift. Die Küche füllt sich mit Rauch.

»Um Himmels willen, so tu doch was!« schreit sie.

Lemuel macht den Hosenschlitz auf, holt seinen Penis heraus und uriniert auf das Feuer. Zischend gehen die Flammen aus. Rain reißt das Fenster auf. Kalte Luft dringt in die Küche ein, in der es nach Rauch, Urin und verbranntem Papier stinkt. Sie schlingt die Arme um den Oberkörper und betrachtet Lemuel mit einem an Bewunderung grenzenden Ausdruck.

»Wenn ich’s mir genau überlege«, sagt sie, »läßt deine Ausrüstung doch nichts zu wünschen übrig.«

Lemuel wischt den Küchenboden mit Ammoniak auf, während Rain die Wände mit Rosenwasser besprüht. Hinterher lassen sich beide erschöpft auf die Couch fallen. Lemuel erwähnt, daß er im Backwater Sentinel eine Anzeige für einen Film von Nikita Michalkow gesehen hat, der diesen Abend im russischen Original mit englischen Untertiteln läuft. Er erwähnt, daß er sich danach sehnt, wieder einmal Russisch zu hören, aber Rain meint, sie müsse unbedingt an einer Versammlung der Siebenten-Tags-Baptisten teilnehmen, also komme es nicht in Frage, sich den Film anzusehen, und ebensowenig komme es für sie in Frage, ohne bewaffneten Begleitschutz die North Main Street entlangzuschlendern, solange ein Zufallsmörder die Gegend unsicher mache.

Lemuel erlaubt sich den Hinweis, daß er nicht bewaffnet ist.

Ernst und besorgt sagt Rain darauf: »Hey, ich weiß, daß du nicht mit einer gottverdammten Kanone in der Tasche rumläufst. Wie ich Bewährungshelferin war, bin ich viel mit Polizisten zusammengewesen, und dabei hab ich gemerkt, daß Typen, die bewaffnet sind, Typen, die’s nicht sind, auf eine ganz besondere Art anschauen. Schon wie du das erste Mal den Kopf durch den Vorhang im Tender gesteckt hast, hab ich sofort gewußt, daß du nicht bewaffnet bist.«

Ihre Augen weiten sich, weil ihr gerade was eingefallen ist. Sie denkt daran, wie er den Küchenbrand gelöscht hat.

»Jedenfalls nicht mit einer Feuerwaffe«, schränkt sie nachdenklich ein.

 

D. J. Starbuck zieht einen Schuh aus und trommelt mit dem Pfennigabsatz auf das Pult, aber keiner achtet darauf.

»Wir haben so viele Petitionen unterschrieben, daß sie uns schon zu den Ohren rauskommen«, schreit Matilda Birtwhistle. »Wir sind es der nächsten Generation schuldig, unsere Maßnahmen zu verschärfen.«

»Mit einem Wort«, schreit Rain, die Mayday unterm Arm hat, »unsere Geduld ist am Ende.«

»Bis hierher und nicht weiter«, ruft der Rebbe in eines der über den Saal verteilten Mikrofone. Dröhnend hallt seine Stimme aus den beiden Lautsprechern, die beiderseits des hölzernen Gekreuzigten an der Wand aufgehängt sind.

Shirley, die auf Dwaynes Schultern sitzt, kreischt: »Wenn die wirklich nach Backwater kommen und Ärger haben wollen, dann können sie ihn kriegen!«

Lemuel schreit Rain ins Ohr: »Wer kommt nach Backwater? Und was für Ärger wollen die haben?«

Ein ältlicher Professor der Kunstgeschichte mit gepflegtem Spitzbart reißt dem Rebbe das Mikrofon aus der Hand. Er fuchtelt mit seinem Spazierstock und ruft mit schwacher Stimme: »Wir müssen denen den Krieg erklären. Backwater muß zur Front werden.«

»Carpe diem, Professor Holloway«, schreit einer der Footballspieler, die unter dem Buntglasfenster stehen. Die anderen Footballspieler intonieren im Chor: »Carpe diem, carpe diem.«

Ein halbes Dutzend Cheerleader, die gerade von einer Probe gekommen sind und noch ihre violetten Strumpfhosen und rot und goldfarbenen Plisseeröckchen anhaben, klettern auf die Bänke im hinteren Teil der Kirche und beginnen mit einem Singsang: »Schiebt sie zurück, schiebt sie zurück, schiebt sie weit zurück!« Die hundertfünfzig Menschen, die in der Kirche der Baptisten des Siebenten Tages zusammengepfercht sind, nehmen den Schlachtruf auf. »Schiebt sie zurück, schiebt sie zurück, schiebt sie weit zurück!«

»Wer soll zurückgeschoben werden?« quengelt Lemuel.

»Die Bulldozer«, schreit ihm Rain ins Ohr.

»Ruhe bitte, Ruhe, wenn ich bitten darf«, kreischt D. J. schrill in ihr Mikrofon am Pult.

»Jetzt beruhigt euch doch um Himmels willen«, belfert Jedidiah Macy, der baptistische Geistliche, der rechts vom Altar auf dem Orgelstuhl sitzt.

Nach und nach legt sich der Tumult. Die Cheerleader steigen von den Bänken. Die Leute setzen sich.

»Ich beantrage, daß wir über die Frage abstimmen«, sagt D. J. ins Mikrofon.

»Ich unterstütze den Antrag«, ruft der Rebbe mit bedenklich hervortretenden Augen in sein Mikrofon.

»Jeder, der für militante Aktionen ist, sagt bitte aye.«

Ein vielstimmiges Aye hallt von den Deckenbalken wider.

»Und wer ist dagegen?«

D. J. blickt sich in der plötzlich still gewordenen Kirche um. Ein Grinsen verdrängt ihren üblichen sardonischen Ausdruck. »Die Mehrheit ist eindeutig dafür«, verkündet sie triumphierend.

»Ich schlag vor«, meldet sich Word Perkins, das Faktotum des Instituts, zu Wort, »daß wir losen und der Verlierer sich unter den ersten Bulldozer legt.«

»Wir haben für militante Aktionen gestimmt, nicht für ein Selbstmordkommando«, widerspricht D. J. erschrocken. Sie beugt sich näher zum Mikrofon. »Ich bitte um Vorschläge für militante Aktionen.«

Der baptistische Geistliche springt vom Orgelstuhl auf und reckt die Faust. »Schluß mit dem parlamentarischen Scheiß, wir teilen uns in Ausschüsse und gehen auf die Straße.«

Die Menge, mit dem verdatterten Lemuel in ihrer Mitte, schreit begeistert ihre Zustimmung hinaus.

 

Die Naturwissenschaft sagt uns, daß der Kern unseres Planeten aus geschmolzenem Eisen und Nickel besteht, Millionen Grad Celsius heiß, wenn nicht noch heißer. Der empirische Befund widerspricht dem. Als ich da mit dem von Rain so genannten B-Team hinter einem niedrigen Zaun am Rand des Ackers kauerte, gut eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, spürte ich durch die dicken Sohlen meiner neuen Timberland-Schuhe (die mich – ich muß verrückt gewesen sein, daß ich sie kaufte – im Dorfladen den Gegenwert von 79.990 Rubeln gekostet hatten) eine eisige, bis ins Mark dringende Kälte aus den Eingeweiden der Erde. Wenn es zwischen meinen Füßen und China wirklich etwas Heißes, Geschmolzenes gab, merkte ich jedenfalls nichts davon.

Rain hatte mir eingeschärft, ich sollte mich warm anziehen, und deshalb trug ich fast alles, was ich an Kleidern besaß – lange Unterwäsche über meiner normalen Unterwäsche, zwei Hemden, den Pullunder, den mir meine Mutter nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis gestrickt hatte, über dem gekauften langärmeligen Pullover, meinen abgetragenen braunen Mantel, der mir bis an die Knöchel reichte, vor Mund und Nase mein Khakituch und auf dem Kopf Rains Skimütze mit der Bommel.

Ich hätte genausogut nichts anhaben können, so kalt war mir.

Wir waren um vier Uhr früh da hinausgegangen, um »in Stellung zu gehen«, bevor die Trooper die Straße sperrten. So hatte es der Baptistenpfarrer formuliert. Er war Militärkaplan in Vietnam gewesen, in dem imperialistischen Krieg, den Amerika die Schöne um die Vorherrschaft in Südostasien führte. Er sprach im Militärjargon, und aus seinem Mund hörte sich »in Stellung gehen« an wie ein Manöver einer römischen Legion.

Ich weiß noch, daß ich nach rechts und links schaute, um festzustellen, ob irgendjemand im B-Team noch am Leben war, abgesehen vom Rebbe, der seit unserer Ankunft ununterbrochen flüsterte. In der silbrigen Stille des abnehmenden Mondes sah ich Dampfwölkchen aus den Mündern von Rain und Mayday und Dwayne und Shirley und Word Perkins kommen und hörte etwas weiter weg unterdrücktes Husten und Murmeln. Diese schwachen Zeichen überzeugten mich, daß es noch Leben auf der Erde gab.

»In der altindischen Mythologie«, dozierte der Rebbe er hatte Angst, es war seine Art, die Teufel in Schach zu halten –, »geht der Kosmos durch drei Phasen: Erschaffung, symbolisiert durch Brahma, Ordnung, symbolisiert durch Wischnu, und eine Wiederkehr der Unordnung, symbolisiert durch Schiwa. Das entspricht der Schöpfung, dem Paradies und der Sintflut in der Thora. Die Ordnung Wischnus und die Unordnung Schiwas kann man vielleicht ebenso wie die Ordnung des Paradieses und die Unordnung der Sintflut als die zwei Seiten einer Medaille betrachten, als zwei Gesichter desselben Gottes, zwei Aspekte derselben Realität. In meiner Lesart der Thora koexistieren diese Aspekte genauso wie in der Chaostheorie, womit, falls Sie eine vorurteilsfreie Meinung hören wollen, wieder einmal bewiesen wäre.«

Rains gequetschte Stimme unterbrach den Rebbe. »Da kommen sie.«

Ihre Worte wurden weitergesagt.

»Da kommen sie, mein Engel«, echote Shirley mit Beklommenheit in der Stimme.

»Da kommen sie«, schnaubte Word Perkins.

»Wer kommt?« fragte ich Rain, aber sie spähte so angestrengt über den Zaun, hinter dem wir hockten, daß sie mich nicht hörte. Ich enteiste mit einer heroischen Willensanstrengung meine Gelenke, kniete mich hin und schaute über den Zaun. Ich sah die Scheinwerfer von Autos, die in einer Entfernung von ungefähr einem Kilometer langsam durch eine Kurve krochen. Rain fing an, laut zu zählen, mit einer Stimme, der man anhörte, daß ihre Kiefermuskeln eingefroren waren. »Eins, zwei drei, vier, Jesus, fünf, sechs, heiliger Bimbam, sieben, acht, neun. Sieben Autos voller gottverdammter Bullen! Die großen Scheinwerfer dahinter, das müssen die Tieflader mit den Bulldozern sein. Was denken die, wen sie vor sich haben, Saddam Hussein?«

Das A-Team lag zwischen uns und den Scheinwerfern in Stellung. Die gut zehn Kamikazes – das war der Codename des Baptistenpfarrers für die Freiwilligen im ATeam – hatten sich aneinander und an die Pfeiler der Brücke gekettet, die über einen zugefrorenen Bach führte. Wir konnten die Kamikazes als Silhouetten im Scheinwerferlicht ausmachen, als die Polizeiautos in Dreierreihe auf der anderen Seite der Brücke hielten. Wir hörten Autotüren zuschlagen, hörten die Kamikazes die Parolen rufen, die sie in der Kirche geprobt hatten. »Backwater braucht keinen Atommüll« oder so ähnlich.

Auf einmal flammte ein greller Scheinwerfer auf.

»Das heißt, daß die Fernsehkameras laufen«, verkündete Rain aufgeregt.

Wir sahen den alten Professor Holloway vor der Menschenkette auf und ab schreiten und den Stock über seinem Kopf herumwirbeln, während eine Phalanx von Troopern, manche von ihnen offenbar mit Gewehren bewaffnet, näherrückte. Dann plärrte eine Stimme aus einem batteriebetriebenen Megaphon: »Was ich hier in der Hand halt is ein Gerichtsbeschluß, mit dem Ihn untersagt wird, die Bulldozer zu behindern, die Erdbewegungen für den Bau der Atommülldeponie durchführen solln. Ich forder Sie auf, sich zu zerstreun. Wenn Sie sich weigern, muß ich Sie verhaftn wegn Widerstand gegen.«

Der Rest der Warnung ging in einem schrillen Rückkopplungspfeifen unter.

Rain drückte ihre Lippen an mein Ohr. »Typen, die bewaffnet sind, reden auch anders mit Typen, die nicht bewaffnet sind, stimmt’s?«

Die Polizei machte kurzen Prozeß mit dem A-Team. Trooper zerschnitten mit Bolzenschneidern die Schlösser an den Ketten, und die Kamikazes, die immer noch tapfer ihre Parole intonierten, wurden zu einem Bus getragen, der hinter den Tiefladern aufgetaucht war.

Ich weiß noch, daß ich mich fragte, ob der Bus geheizt sein würde; ich weiß noch, daß ich dachte, je eher wir festgenommen wurden, um so größer wären unsere Chancen, die Nacht zu überleben.

Der Schlachtplan, den sich der Baptistenpfarrer ausgedacht hatte – neben mir (ich habe meine zwei Jahre Wehrpflicht mit Baumwollpflücken in Usbekistan verbracht) der einzige von uns, der über nennenswerte militärische Erfahrung verfügte –, war derselbe wie der von Wellington in der Schlacht bei Waterloo. Wie der Baptistenpfarrer uns erklärt hatte, war unsere Strategie einer gegen zehn und unsere Taktik zehn gegen einen. Das A-Team war der Schlüssel zum Erfolg. Sobald ihre Ketten durchgezwickt wurden, sollten die Kamikazes die Polizei zu der irrigen Annahme verleiten, die übrigen Mitglieder der Bürgerinitiative gegen die Atommülldeponie hätten gekniffen.

Die Trooper fielen offenbar auf die Kriegslist herein, denn sie winkten die beiden Tieflader weiter, ohne das Deponiegelände vorher zu inspizieren. Der erste schwach hellgraue Schimmer, in den sich Streifen von Ocker mischten, tauchte am Osthimmel auf, als die Tieflader parallel zu unserem Acker auffuhren, keine fünfzig Meter von der Stelle, wo wir uns hinter dem Zaun zusammenduckten. In der Annahme, falls weitere

Demonstranten auftauchten, würden sie aus Richtung Backwater kommen, blockierten die Polizisten die Brücke, indem sie ihre Wagen darauf abstellten. Die Fahrer der zwei gigantischen Bulldozer begannen zusammen mit vier Männern, die Plastikhelme über Skikapuzen trugen, die Heckrampen der Tieflader herunterzukurbeln.

Die Winden quietschten. Die vier stählernen Rampen schlugen auf dem Asphalt auf.

Als ob das ein vereinbartes Zeichen wäre, stand der Baptistenpfarrer auf und brüllte »Vorwärts, christliche Soldaten!« Mit diesem Schlachtruf sprang er durch eine Lücke in dem Zaun. D. J., der ein zeltähnlicher Umhang um die Knöchel wehte, stolperte hinter ihm her. Rechts von mir rüsteten sich mehrere Footballspieler zu einem Flankenangriff. Ich erhaschte einen Blick auf ein paar hübsche Ärschchen, als die Cheerleader, die immer noch ihre Strumpfhosen und kurzen Röckchen anhatten, über den Zaun kletterten. Und ich sah, wie sich der Rebbe, in kohlschwarzem Mantel und kohlschwarzem Schlapphut, höchst würdevoll erhob und sich sorgfältig den Staub von den Knien klopfte, um dann mit ausgreifenden Schritten auf die Tieflader zuzugehen.

»Chasak«, rief er, mehr, so schien mir, an sich selbst gerichtet als an die Mitstreiter, »sei stark.«

»Komm«, schrie Rain und zerrte Mayday und mich hinter sich her. Dwayne führte Shirley durch eine andere Lücke im Zaun. Sekunden später tanzten wir wie die Indianer im Kreis um sechs Arbeiter und die beiden Tieflader herum.

Unsere Taktik – zehn von uns gegen einen von denen hatte geklappt.

Einer der Arbeiter stieg aufs Trittbrett, griff ins Führerhaus und drückte anhaltend auf die Hupe. Von der Brücke her antwortete eine Sirene auf einem der Polizeiautos. Wir sahen, wie die Trooper sich Hals über Kopf in ihre Autos schwangen.

Zwei fuhren gleichzeitig los und stießen zusammen. Dicht vor uns sprang einer der Mammut-Bulldozer an, dann kam der Motor auf Touren, und der Bulldozer kroch auf seinen gigantischen Panzerraupen langsam auf die Rampe zu.

»Die Kamikazes sollten doch die Rampen blockieren«, brüllte der Baptistenpfarrer.

»Die Kamikazes sind alle verhaftet«, rief Dwayne. »Du meine Güte«, jammerte der Baptistenpfarrer.

Und dann strömten Trooper in braunen Uniformen und mit braunen Stetsons auf dem Kopf aus den Polizeiautos und stürzten sich auf die Cheerleader, die sich tapfer mit ihren Stäben verteidigten. Eine grellweiße Lampe ging an und tauchte die Szenerie in taghelles Licht. Ich sah zwei Männer mit langen, schmalen Kameras auf der Schulter dicht hinter den Troopern.

Rain zog Mayday und mich hinter den ersten Tieflader, auf dem sich der riesige Bulldozer Zentimeter für Zentimeter auf die Rampe zubewegte. »Leg dich auf die Rampe«, schrie sie mir ins Ohr. »Die haben nicht den Mumm, wen zu zerquetschen.«

Sie hielt mit der einen Hand Mayday an der Leine und mit der anderen mich am Halstuch fest, als wollte sie um jeden Preis verhindern, daß ich ihre Anweisung befolgte. Ihre Stimme sagte, geh, ihre Hand an meiner Leine sagte, bleib. Ihre meergrünen Augen, so groß, wie Augen nur sein können, und vor Angst überfließend, sahen mich an, als sei ich ein potentielles Opfer.

Plötzlich wußte ich, wo ich diese Augen schon einmal gesehen hatte.

Unter diesen Umständen war es ein Kinderspiel, mich auf die Rampe zu legen. Tatsache ist, daß ich enttäuscht war, als mir klar wurde, daß das alles war, was sie von mir wollte. Ich hätte alles für sie getan. Ich wäre an einem dieser langen Seile um die Fesseln in die Tiefe gesprungen, wo man Zentimeter über dem Boden abgefangen wird. Es war eine Möglichkeit, eine Schuld zu begleichen.

An dieser Stelle sollte ich eine Fußnote anbringen, um die Geschichte in den richtigen zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Ich hatte einmal in Leningrad eine Demonstration gesehen, das war 1968, an dem Tag, als das staatliche Fernsehen sein Programm für die Sondermeldung unterbrach, sowjetische Truppen hätten Prag von den Konterrevolutionären befreit. Ich fuhr gerade mit meinem Skoda am Smolny vorbei, in dem sich die Zentrale der Kommunistischen Partei befand, als sechs unerschrockene Seelen Transparente entfalteten, auf denen die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei verurteilt wurde. Sie hatten kaum die Transparente über ihre unschuldigen Köpfe erhoben, als sie von einer Flutwelle von KGB-Agenten verschlungen wurden, die aus Türen und Erdgeschoßfenstern des Gebäudes hervorbrach, als wäre sie eigens für so eine Eventualität da drin eingeschlossen gewesen. Die KGB-Agenten gingen nicht gerade zartfühlend mit den vier jungen Männern und zwei jungen Frauen um – sie rissen ihnen die Transparente aus den Händen, warfen die Demonstranten zu Boden und traten sie mit den dicksohligen, eisenbeschlagenen Schuhen, die KGB-Leute immer trugen. Ich sah, wie eine der beiden Frauen an den Haaren zu einem Mannschaftswagen ohne Aufschrift gezogen wurde. Während sie an meinem Auto vorbei über die Pflastersteine geschleift wurde, schaute sie zu mir auf, und ihre meergrünen Augen senkten sich in meine mit einer Intensität, wie sie nur ein liebender Mensch in einen Blick legen kann. Sie sah mich an – das wurde mir später klar –, als sei ich ein potentielles Opfer. In der Zeit, die ein Herz für einen Schlag braucht, ein Auge für einen Lidschlag, eine Lunge für die Aufnahme eines Fingerhuts Luft, wurde ich von wilder, ewiger, quälender Liebe zu ihr gepackt. Es ist demütigend für mich, Ihnen das zu sagen, aber obwohl ich mit eigenen Augen sah, wie sie an den Haaren weggezerrt wurde – mein Gott, das ist ein wahres Detail –, kam ich meiner Geliebten nicht zu Hilfe. Ich stieg nicht aus meinem in der Tschechoslowakei hergestellten Auto aus, um zu dem befehlshabenden Offizier hinzugehen, mich als jüngstes designiertes Mitglied in der Geschichte der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften vorzustellen und Protest zu erheben. Hier waren die Faschisten, und hier war ein großer Fluß, und trotzdem sammelte ich mich nicht. Ich hatte nach wie vor zwei Unterschriften, wissen Sie, eine für Personalausweise und Soldbücher und Visumanträge, eine zweite für die Fälle, in denen es nützlich sein konnte, hinterher abzustreiten, daß es meine Unterschrift war.

Wollte Gott, es wäre anders, aber in meinem Fall ist das, was man sieht, nicht das, was man kriegt. Bis ans Ende meiner Tage werde ich mir diese Feigheit nicht verzeihen. was vermutlich der Grund war, warum ich, als Rain sagte, ich solle mich auf die Rampe legen, bei mir dachte, was habe ich denn außer meinem Leben noch zu verlieren, wo ich doch alles andere schon verloren habe?

So kam es, daß ich meinen hundertsechs Jahre alten Körper auf der Rampe ausstreckte, während um mich herum die Welt verrückt spielte. Schattenhafte Gestalten rannten hierhin und dorthin, Menschen schrien, eine Tränengasgranate flog Dwayne vor die Füße, rollte ein Stückchen, explodierte unter dem kurzen Röckchen eines der Cheerleader-Mädchen und entließ eine dünne weiße Wolke, die Trooper fummelten an ihren Gasmasken herum, der Baptistenpfarrer fluchte und hustete, D. J. mußte sich erbrechen, und der Rebbe, jetzt ohne Hut, hielt ihr den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Dwaynes Herzblatt Shirley von zwei Troopern weggeschleift wurde, die doppelt so groß waren wie sie; ich konnte ihre Schuhe nicht sehen, aber ich wußte, daß sie dicke, eisenbeschlagene Sohlen haben mußten; ich sah Mayday inmitten dieses Wahnsinns friedlich pissen, ich sah Word Perkins mit einem irren Grinsen im Gesicht die Luft aus einem riesigen Reifen lassen, ich sah Rain unter dem Führerhaus des riesigen Bulldozers auf und ab hüpfen, sich die Augen reiben und den Fahrer anschreien: »Da liegt ein Mensch auf der Rampe. Hast du mich verstanden, du gottverfluchter Scheißkerl? Du wirst einen Homo chaoticus ermorden, wenn du nicht aufpaßt.«

Schwer zu sagen, ob der Fahrer sie in dem Chaos hören konnte oder ob er ihr, falls ja, einfach nicht glaubte. Wie auch immer, er fuhr jedenfalls mit seinem Bulldozer weiter rückwärts auf die Rampe zu. Ich verdrehte den Kopf, schaute nach oben und sah, wie sich die riesigen Ketten über den Rand der Ladefläche schoben und langsam nach unten kippten, auf die Rampe zu, auf der ich lag. Ich wandte den Kopf ab. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren, aber ich hatte auch nicht den Nerv hinzusehen. Ich spürte, wie mir am ganzen Körper heiß wurde, und dachte, daß vielleicht doch geschmolzenes Metall zwischen mir und China war, bis ich merkte, daß ich in ein unglaublich helles Licht blinzelte und jemand schreien hörte, alle sollten aus dem Weg gehen, damit er schießen könne. Ich stellte mir vor, die Trooper würden mir eine Kugel ins Herz schießen, bevor der Bulldozer den Körper zermanschte, in dem es schlug, was ich für die amerikanische Art der Verhinderung von Grausamkeit an einem Homo sapiens hielt.

Ich hörte einen unirdischen, an Mayday erinnernden Jauler von Rain: »Runter von der gottverdammten Rampe!«

Ich hörte, wie ich mir sagte, das hier sei ein großer Fluß, und ich war glücklich, auf meine alten Tage doch noch einen gefunden zu haben.

Und dann wich ganz plötzlich das Pandämonium einer so abgrundtiefen Stille, daß es schien, als hätte die Erde auf einmal aufgehört sich zu drehen. Ich fragte mich, ob so etwas möglich war, ich fragte mich, ob dies das reine, unverfälscht zufällige Ereignis in der Geschichte des Universums war, nach dem ich suchte. Dann sah ich, wie dem Rebbe die Augen aus den Höhlen traten, und ich hörte deutlich die Wörter »oj« und »vej« auf das Pflaster spritzen wie zwei dicke Tropfen aus einem Wasserhahn, und mir dämmerte, daß ich den Eastern Parkway Or Hachaim Hakadosch hören konnte, weil ich den Motor des Bulldozers nicht mehr hörte. Ich wandte den Kopf, um wieder die Rampe hinaufzuschauen, aber ich konnte nichts sehen, und dann begriff ich, warum ich nichts sehen konnte: Die Panzerkette war nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt und verstellte mir den Blick. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie ein Mädchen an den Haaren durch die Landschaft meines unzerquetschten Herzens geschleift wurde, und ich dachte, wo du auch sein magst, ich habe meine Schuld bei dir beglichen, und dann zog mich Rain an den Füßen und half mir, unter der stählernen Raupe hervorzukriechen und von der Rampe zu klettern, und hysterisch schluchzend klammerte sie sich an mich. Dann wurde ich ohnmächtig.