1. KAPITEL

Ein Wispern, das von etwas anderem als dem Winter kündet, dringt an Lemuels Ohr: Ein Lüftchen, das über die nicht mehr gefrorene Erde streicht, Wasser, das durch die nicht mehr mit Eis verstopfte Kehle eines Baches schießt, das Läuten des Glockenspiels, das durch die nicht mehr in der Nase brennende Luft hallt. Die Bestätigung für das herannahende Winterende findet Lemuel im Zeiger an Rains Schweizer Uhr, der die Mondphase anzeigt und verrät, daß die Jahreszeit sich dem F des Frühlings zuneigt.

In einem nostalgischen Wachtraum sieht er sich am Z von Zufälligkeit lehnen.

Mittlerweile so etwas wie eine Berühmtheit, hält es Lemuel nach der Verhandlung wegen Unbefugten Betretens noch volle drei Wochen in der Wohnung über dem Rebbe aus, bevor er seinen riesigen Pappkoffer, seinen Tornister von der Roten Armee und seine Plastiktüte aus dem Dutyfree Shop packt und alles in Rains Wohnung verfrachtet. Die offizielle Erklärung für diesen Schauplatzwechsel ist, daß er sich vor den Fernsehreportern retten muß, die das Haus des Rebbe Tag und Nacht belagern und im Freien Scheinwerfer aufbauen, in der Hoffnung, daß er doch einmal das Fenster einen Spaltbreit öffnen und ihnen Antworten auf ihre zugerufenen Fragen zurufen wird. Der wahre Grund für den Umzug ist, daß er sich ans Yjacking in der Badewanne mit einem weiblichen Wesen gewöhnt hat, dessen Nacktheit unter die Haut geht, und auch daran, mit einem sibirischen Nachtfalter im selben Bett zu schlafen und am Morgen von Strichweise Regen geweckt zu werden, die ihm »Yo!« ins Ohr murmelt, während sie seinem schläfrigen Fleisch verwertbare Erektionen entlockt.

Aufgrund seiner langen Erfahrung mit Unannehmlichkeiten fragt sich Lemuel, wann die Seifenblase platzen und die Probleme beginnen werden.

Das Telefon in der Wohnung über dem Rebbe hört auch nach Lemuels Auszug nicht zu klingeln auf. Der Rebbe rennt die Treppen hinauf und stürzt in seiner Hektik mehrere Büchertürme um. Er stellt sich jedem Anrufer als Lemuels Agent vor und notiert Angebote, für umweltfreundliche Waschmittel oder Backofenreiniger zu werben.

»Sie lassen sich schon wieder eine lukrative Gelegenheit durch die schwieligen Finger gleiten«, tadelt er Lemuel, wenn er ihm die Angebote des Tages durchtelefoniert.

Lemuel hört kaum auf den Rebbe. Es hat fünf weitere Morde gegeben in den drei Wochen, die er jetzt über den Dossiers sitzt, die ihm der Sheriff gegeben hat, wodurch sich die Gesamtzahl der Opfer auf achtzehn erhöht hat. Er ist besessen von der Idee, die Informationen in den Akten des Sheriffs zu quantifizieren, seinen Computer mit Bytes zu füttern, Programme zu entwickeln, mit denen er das Material auf Zufälligkeit testen kann. Ist er nun endlich doch auf ein Beispiel für reine, wenn auch makabre, Zufälligkeit gestoßen? Sein Herz sagt: Warum nicht? Sein Kopf sagt ihm, daß diese scheinbare Zufälligkeit nichts weiter ist als der Name, den er seiner Unwissenheit gibt.

Aber was weiß er nicht?

»Was sollte ich mit dem Geld anfangen?« fragt er, als der Rebbe ihn wegen des letzten Anrufs belemmert, eines Angebots, für biologisch abbaubare Unterwäsche zu werben. »Ich bin jetzt schon reicher, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen erhofft hätte. Das Institut zahlt mir zweitausend US-Dollar im Monat. In Petersburg wären das zwei Millionen Rubel. Als ich Rußland verließ, betrug mein Monatsgehalt am Steklow-Institut siebentausendfünfhundert Rubel.«

»Sind Sie auf ihren Streifzügen nie auf etwas gestoßen, was den Namen Kapitalismus trägt? Mit Geld kann man noch mehr Geld machen«, ruft der Rebbe. »Mit mehr Geld kann man Gott dienen, kann man eine Talmudschule bauen, kann man den ganzen Tag und auch noch nächtens im Schlaf die Chaossträhnen in der Thora entwirren. Ihre Haltung ist mir ein Rätsel«, fährt er erregt fort. »Sie ist unamerikanisch.«

»Ich bin kein Amerikaner«, erinnert Lemuel den Rebbe.

»Das ist keine Entschuldigung«, knurrt der Rebbe.

Da die Temperatur schon den dritten Tag über den Nullpunkt steigt, kann man hören, wie Rain in der Garage unter der Wohnung eine betagte Harley-Davidson tunt. Am Sonntag bringt sie den Motor auf Touren und macht mit Lemuel eine Spritztour auf der schmalen, gewundenen, unbefestigten Straße, die sich um den See herum und durch einen Kiefernwald westlich von Backwater schlängelt. Auf dem Soziussitz hinter Rain klebend, sich mit Schenkeln und Armen an sie klammernd, den Kopf platt an die Rückseite ihrer abgenutzten ledernen Fliegerjacke gedrückt und den pfeifenden Fahrtwind im Ohr, während über ihm Wolken durch die kahlen Zweige flitzen, verspürt Lemuel ein merkwürdiges Hochgefühl. ein Loslassen. Er spürt, daß er zum erstenmal über die Welt des Chaos hinausgelangt in Richtung. worauf?

In Richtung auf etwas, womit er keine Erfahrungen hat und das er nicht quantifizieren, geschweige denn identifizieren kann.

Als sie auf der Rückfahrt nach Backwater den See erreichen, lenkt Rain die Maschine von der Straße, stellt den Motor ab und schlendert ans Ufer hinunter, um ihr Spiegelbild im stillen Wasser zu betrachten. »Ich bin wirklich schön geworden«, bemerkt sie, als Lemuel nachkommt.

»Bescheiden bist du nicht geworden«, erwidert er trocken.

»Hey, laß mich zufrieden«, gibt Rain zurück. »Als Mädchen muß man doch wissen, was für einen spricht.«

Sie legen sich in die Sonne, die zum erstenmal seit Lemuels Ankunft im Gelobten Land nicht nur Licht, sondern auch Wärme spendet. Der Klang von Rains Stimme macht ihn schläfrig, und er gleitet in einen unruhigen Schlaf. Der kleine Junge krümmt sich in einer Ecke. die gesichtslosen Männer mit den dicksohligen, eisenbeschlagenen Schuhen zerlegen einen Schrank …

Rain rüttelt ihn wach. »Du willst doch wohl nicht auf mir übernachten?«

»Ich hab mich nur ein bißchen ausgeruht.«

»Wo war ich? Ach ja. Wenn Menschen im Krematorium verbrannt werden, ja?, dann zersetzen sich die Zahnplomben und tragen dazu bei, die Ozonschicht zu zerstören, die uns vor der Sonne schützt. Der hochtrabende Name dafür ist Treibhauseffekt.« Rain dreht den Kopf und sieht, daß Lemuel amüsiert lächelt. »Also, ich versteh ja nicht, wie du über so etwas Ernstes wie das Ende der Welt grinsen kannst. Ich hab gelesen, daß es in zehn Jahren kein Ozon mehr geben wird, und das heißt, auch keinen Winter. Die Polkappen schmelzen jetzt schon ab. Wenn das so weitergeht, werden eines Tages sämtliche Küstenstädte der Welt überflutet sein.«

»Wieso weißt du so viel über den Treibhauseffekt?«

»Mein Exmann, der Vogelmörder, hat in einem Treibhaus Marihuana angebaut. Wenn du einen finanziellen Ratschlag gratis haben willst, L. Falk – leg dein Geld in Firmen an, die Ruderboote, Kanus, aufblasbare Flöße oder so was herstellen. Ich hab früher in Atlantic City gelebt, aber weil ich nicht schwimmen kann, bin ich landeinwärts nach Backwater gezogen.«

Auf dem Heimweg hält Rain vor dem E-Z Mart und klaut vier Dosen geflte fisch. An der Kasse diskutiert sie lange mit Dwayne und Shirley, die ihre besten Freunde in Backwater sind. Dwayne meint, der grundlegende Unterschied in der Welt sei der zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen und demgemäß zwischen den überwiegend weißen, industrialisierten Ländern auf der Nordhalbkugel und den überwiegend farbigen Agrarländern auf der Südhalbkugel. Shirley behauptet, Dwayne habe sich nie von seinem Harvard-Studium erholt. Die Welt sei, wie jeder Dummkopf sehen müsse, außerdem aufgeteilt in Männer und Frauen. Rain bringt alle zum Lachen, indem sie dagegensetzt, in Wirklichkeit sei die Welt aufgeteilt in das anale und das orale Lager.

»Jeder, der was anderes denkt, lebt hinterm Mond«, sagt sie.

»Und zu welcher Fakultät gehörst du, Babe?« erkundigt sich Dwayne mit einem tückischen Grinsen. »Anal oder Oral?«

»Einmal darfst du raten«, entgegnet Rain.

Spontan lädt Rain die beiden zum Abendessen ein. Shirley, die heftig Kaugummi kaut, während sie Lemuel beäugt, der auf dem Parkplatz auf der Harley sitzt, fragt: »Kommt dein russischer Freund auch mit?«

»Man sieht deinen Hammer, Bäbe«, witzelt Dwayne.

Shirley wird richtig rot. »Hammer kriegen doch nur Jungs.«

»Der Plural von Hammer«, klärt Dwayne sie mit einem lüsternen Lächeln auf, »ist Hämmer.«

»Da sieht man’s wieder mal«, sagte Shirley zu Rain. »Bei der ersten Gelegenheit macht er seinen Hosenstall auf und läßt seine Harvard-Bildung raushängen.«

»Rain hat mir gesagt, ihr beiden seid fest verbandelt«, sagt Lemuel, während sie die Klappstühle an den Küchentisch ziehen.

»Ja, wir sind schon lange zusammen«, sagte Dwayne. »Ist doch so, oder, Babe?«

Rain, die in einer Schublade nach einem Dosenöffner kramt, lächelt Dwayne zu. »Ich hab in meinem ersten Studienjahr im Mart als Kassiererin gearbeitet«, erklärt sie Lemuel. »Dwayne hat mir unter die Arme gegriffen, finanziell, wie ich die Idee hatte, den Tender zu eröffnen und Haare zu schneiden.«

»Und mit Drogen zu handeln«, ergänzt Shirley boshaft. »Man muß sehen, wo man bleibt«, sagt Rain. »Dwayne hat mich damals gerettet – er hat den Pachtvertrag mitunterschrieben und mir das Geld für den Friseurstuhl vorgestreckt, den Shirley bei einem Trödler in Rochester entdeckt hatte.«

Mayday, die auf ihrer Decke vor sich hinträumt, zuckt im Schlaf.

»Sie jagt Schmetterlinge«, erklärt Rain. Lemuel sagt verträumt: »Ich auch, ich jage im Schlaf auch kleine geflügelte Kreaturen. Neben reinen, unverfälschten Regenbogen.«

Shirley schiebt die Dosen mit gefilte fisch über den Tisch hinweg Lemuel hin. »Ich wette, Sie haben gedacht, sie hat das Zeug echt im Mart geklaut«, sagt sie zu ihm. »Dwayne hat ein weiches Herz – er läßt alle seine Freunde klauen.«

Lemuel erwidert: »Auch ein weiches Herz kann man auf dem Ärmel tragen.«

Shirley kommt nicht mit. »Was kann man wo tragen?« Lemuel wendet sich an Dwayne. »Sie haben also die ganze Zeit gewußt, daß Rain in Ihrem Supermarkt klaut?«

»Das ist mir egal«, sagte Dwayne. »Ich verkaufe alles so teuer, daß die Verluste durch Ladendiebstähle wettgemacht werden.«

Rain wirft Dwayne den Öffner zu, und er fängt an, die Dosen aufzumachen. »Hey, ich hab dir ja gesagt, er wattiert seine Preise«, sagt sie.

Shirley sagt: »Rain meint, wir müssen alle hin und wieder was klauen, damit die Supermärkte nicht zu hohe Gewinne machen, weil kein Mensch was mitgehen läßt.« Sie legt den Arm um Rains Arsch und drückt ihn. »Du bist schon eine Marke.«

»Ich hab dich unheimlich gern«, lacht Rain. Sie beugt sich hinunter und küßt Shirley leicht auf den Mund.

»Na, ich dich doch auch«, erwidert Shirley mit einem verlegenen Kichern.

Dwayne schiebt jedem eine Dose gefilte fisch hin. Rain teilt Matzen aus wie Spielkarten. »Weil du jüdischen Glaubens bist«, sagt sie zu Lemuel, »hab ich mir gedacht, du magst so was.«

»Kommt aus Israel«, wirft Shirley munter ein. »Wenn du schon gefilte fisch klaust, hättest du auch noch Rettich mitnehmen können«, beklagt sich Dwayne.

Nach dem Abendessen entschuldigt sich Lemuel und geht ins Gästezimmer, um noch mehr Bytes aus den Akten des Sheriffs in seinen Tischcomputer einzugeben. Die anderen gehen nach einer Weile ins Wohnzimmer. Shirley nimmt die Mäntel herunter, drapiert sich über die Couchlehne und bittet Rain um einen Hit. Rain nimmt ein ausgehöhltes Exemplar des Hite Report aus dem Regal, öffnet es auf dem Tisch, schiebt die LSD-Tabletten und Päckchen mit Hasch beiseite, nimmt sich einen Joint und kuschelt sich vor dem Fernseher zusammen, in dem ein Humphrey-Bogart-Film ohne Ton läuft. Sie zündet den Joint an, nimmt einen tiefen Zug und reicht den Joint an Shirley weiter. Shirley zieht einmal daran und gibt ihn an Dwayne weiter.

»Ich kapier das nicht«, sagte Dwayne mit einem seltsamen Unterton zu Rain.

»Was kapiert er nicht?« fragt Shirley Rain. »Was kapierst du nicht, mein Engel?«

Dwayne spielt mit dem Silberring in seinem Ohr. »Ich blick da nicht durch, bei Lem und Rain. Ich seh natürlich, was er davon hat, da müßte man ja blind sein. Aber was bringt es Rain?«

»Lem ist ein Sahnetörtchen«, sagt Shirley. »Ich hab auch eine Schwäche für süße Sachen.«

»Er kommt aus einem Land, wo die moderne Pest praktisch unbekannt ist«, erklärt Rain mit der Andeutung eines trotzigen Lächelns. »Außerdem ist er unschuldig – wann hat einer von euch Typen das letzte Mal sein weiches Herz auf dem Ärmel getragen? Außerdem ist er schlauer als wir drei zusammen.«

»Wo Rain recht hat, hat Rain recht«, sagt Shirley verträumt.

»Und noch was, last but not least«, fährt Rain fort. »Seit er bei mir wohnt, hör ich keine Trommeln mehr im Ohr.«

»Aber mag er denn Joghurt?« fragt Dwayne anzüglich.

»Dwayne ist ganz wild auf Joghurt«, bemerkt Shirley. »Stimmt’s, Schatz?«

»Rain weiß, daß ich Joghurt mag. Das weißt du doch, oder, Babe?«

Rain beobachtet durch die offenstehende Tür Lemuel, der zusammengesunken an seinem Computer sitzt. Als der zweite Joint zur Hälfte geraucht ist, springt sie auf, schaltet den Fernseher aus und bedeutet Dwayne und Shirley, daß es Zeit ist, die Kurve zu kratzen.

Shirley schmollt. »Du schmeißt uns doch nicht schon raus? Es ist ja noch heute.«

»Ich hatte ja irgendwie gehofft, wir könnten über Nacht bleiben«, sagt Dwayne.

»Und ich hatte gehofft, die neue Ware begutachten zu können«, gesteht Shirley, die inzwischen angenehm bekifft ist.

»Ein andermal, versprochen«, sagt Rain.

»Was Rain verspricht, das hält sie auch«, sagt Dwayne mit einem wissenden Lächeln.

Rain gibt ihnen noch zwei Joints als Wegzehrung mit. Sie läßt sich auf die Couch fallen, schlenkert die Schuhe weg und streichelt Mayday mit den Zehen. Nach einer Weile ruft sie: »Wenn ich dich um mich habe, komme ich mir minderwertig vor. Hörst du, L. Ficker-Falk? Ich mein, ich bin doch dumm wie Bohnenstroh verglichen mit dir. Du weißt so viel, daß du sogar weißt, was du nicht weißt. Wo hast du eigentlich all das Zeug über Chaos und Zufall gelernt?«

Lemuel kommt gemächlichen Schritts ins Zimmer und zieht die Augenbrauen hoch, als er das mit Tabletten, Päckchen und Joints gefüllte ausgehöhlte Buch sieht. »Wo sind denn Dwayne und Shirley hin?«

»Die haben sich verdünnisiert.« Sie sieht Lemuel argwöhnisch an. »Also, wie wird man ein Homo chaoticusl«

Lemuel läßt sich neben ihr auf der Couch nieder und reibt sich die Augen, die röter sind als gewöhnlich. »Ich habe alles, was ich weiß, in der U-Bahn aufgeschnappt«, erklärt er. »Ich hatte einen Professor, Litzky hat er geheißen, das war ein echter Neuerer, der ist schon ganz im Chaos aufgegangen, bevor die Welt noch wußte, daß das eine Wissenschaft ist. Er wurde wegen antikommunistischer Tendenzen von der Moskauer Universität ausgeschlossen, nachdem jemand ein Exemplar von Solschenizyns Im ersten Kreis bei ihm gefunden hatte. Das war mitten im Semester. Professor Litzky setzte seine Vorlesungen in der U-Bahn fort. Er rief immer seine Studenten an, nannte eine U-Bahn-Station und eine bestimmte Zeit. Wir zwängten uns alle in den Wagen, die Türen gingen zu, und Litzky dozierte über Fraktale als Möglichkeit, das Unendliche sichtbar zu machen, über die endlosen Verzweigungskaskaden, über Unstetigkeiten, über Periodizitäten. Er dozierte zwölf bis fünfzehn Stationen lang, und manche von uns machten sich krakelige Notizen, während die U-Bahn über die Gleise ratterte. Während der Vorlesung steckten wir ihm Umschläge mit Rubelscheinen in die riesigen Taschen seines Mantels. Von Litzky verfaßte Artikel wurden nicht veröffentlicht, Bücher kamen ohnehin nicht in Frage, aber er gilt trotzdem heute noch als Vater des sowjetischen Chaos.«

Lemuel schüttelt verzweifelt den Kopf. Seine Stimme belegt sich. »Du hättest uns sehen sollen, wie wir da in der U-Bahn rumhingen, uns an den Schlaufen festhielten und uns zu ihm hinbeugten, um ja kein Wort, keine Silbe zu verpassen, und wie er in seinem zwei Nummern zu großen Mantel an jeder Haltestelle eine Pause machte, bis die aufgezeichnete Ansage der Station kam, und sich dann wieder ins Chaos stürzte. Von Diffeomorphismen gefalteter Zahlenebenen hörte ich zum erstenmal zwischen Flughafen und Retschnoi Woksal. Von stetigen ›Nudel‹-Abbildungen zwischen Komsomolski und Marx-Prospekt. Wir genossen die Reise und fürchteten die Ankunft. Wir wußten nie vorher, an welcher Haltestelle die Vorlesung enden würde. Litzky wartete immer bis zum allerletzten Augenblick und sprang erst aus dem Wagen, wenn die Türen schon zugingen; einmal verfing sich sein Mantel in der Tür, und wir mußten die Notbremse ziehen, um ihn zu befreien. Er stakste immer davon und tauchte in der Menge unter, mit eingezogenem Kopf wie eine Schildkröte, verloren in seinem Mantel, verloren in seinen Gedanken. Dann sahen wir uns an, erstaunt über Dinge, die er nicht erklärt hatte, von denen er annahm, wir würden sie schon verstehen, erstaunt über eine Welt, in der das Chaos wie ein altes Hemd an Passagiere eines U-Bahn-Zuges weitergereicht wurde. Später, im mündlichen Examen, wurden wir aufgefordert, unsere Quellen anzugeben, aber keiner hatte den Mut, Litzky zu nennen. Also logen wir und gaben Aufsätze von obskuren Transsylvaniern oder Ungarn an.« Lemuel schüttelt den Kopf, während er versucht, seine eigene Geschichte zu verdauen. »In Schuld und Sühne läßt Dostojewski eine Figur namens Rasumichin sagen, daß es möglich ist, uns zur Wahrheit durchzulügen.« Die Stimme versagt ihm, seine Augen sind auf etwas in der Vergangenheit gerichtet. »Ich habe mich weiß Gott mein Leben lang zur Wahrheit durchgelogen.«

Rain zieht Lemuels Kopf an ihre Brust und massiert ihm die Stirn. »Rußland«, hört sie ihn murmeln, »ist das letzte.«

»Verglichen mit Amerika«, sagt Rain, ihren eigenen Gedanken nachhängend, »ist Rußland einsame Spitze. Das einzig Interessante, was mir jemals in der U-Bahn passiert ist, war, als ein Exhibitionist seine Hose aufgemacht hat. Sachen gibt’s.«

 

Lemuel kann nicht schlafen und geht bis in die frühen Morgenstunden in dem unaufgeräumten Wohnzimmer auf und ab, denkt über die Weiße der Nacht nach, kritzelt Differentialgleichungen auf die Rückseite von Briefumschlägen, versucht, die Mysterien der Serienmorde aufzuklären, die sic h hartnäckig als zufällig darstellen, gleichgültig, wie oft er die Münze wirft.

Irgendwann nach Mitternacht kommt Rain auf der Suche nach einem Glas Wasser durchs Zimmer. Sie trägt flauschige Hauspantoffeln und ein T-Shirt, das in der Wäsche eingegangen ist und ihr kaum bis zum Nabel reicht. Die ausgebleichte Aufschrift quer über die Brust lautet: »Frauen, die Männern nacheifern, haben keinen Ehrgeiz.« Unter dem Satz steht der Name T. Leary.

»Wer ist T. Leary?« fragte Lemuel Rain, als sie aus der Küche zurückgeschlurft kommt.

»Ich nehme an, er war ein Zeitgenosse von Tolstoi.« Sie läßt sich in den einzigen Sessel im Zimmer fallen und die Beine über die Armlehne baumeln. Mayday auf ihrer Decke wacht auf, gähnt, schließt dann ein Auge und beobachtet Rain mit dem anderen. Rain schaut durch die offene Küchentür zurück und sieht das I. J. u. I. V. n. G. e. m. n. a. a. m. A. u. m. U. z. G. auf der Tafel. »Was ich dich fragen wollte«, sagt sie betont beiläufig, »wie lange behalten die dich eigentlich an deinem Chaos-Institut?«

»Der Vertrag über die Gastprofessur lautet auf ein Semester.«

Die Stille zwischen Frage und Antwort ist plötzlich elektrisch geladen. »Und dann?« Lemuel zuckt die Achseln.

»Hast du schon mal dran gedacht hierzubleiben? Am Institut? In Amerika?«

»Was muß ich tun, um Amerikaner zu werden?« Rain bringt ein angestrengtes Lächeln zustande. »Hey, kauf dir eine Knarre.«

Lemuel muß lachen, aber sein Herz ist offenbar nicht dabei. »Ob ich am Institut bleiben kann, hängt davon ab, ob eine Planstelle für einen Wissenschaftler frei wird.«

»Wenn du dich entschließen würdest, in Amerika zu bleiben, könnte es also auch noch andere Wege geben, stimmt’s?« Lemuel grunzt.

»Ich meine«, spricht Rain ärgerlich weiter, »willst du überhaupt in Amerika bleiben?«

»Ich hab noch nicht viel drüber nachgedacht«, sagt er vage.

»Vielleicht solltest du aber viel drüber nachdenken«, sagt sie. Als er nicht antwortet, zuckt sie gereizt die Achseln. Sie streckt den nackten Arm aus, um das Radio einzuschalten.

Es läuft gerade das Ende der Kurznachrichten von WHIM.

»… Wetter im Drei-Kreise-Bezirk am heutigen dritten März wird teilweise bewölkt sein, also auch teilweise nicht bewölkt; für den Nachmittag wird strichweise Regen vorhergesagt, und die Temperaturen werden auf 50 Grad Fahrenheit oder knapp darüber steigen. Wenn Sie im Haus bleiben, sollten Sie also möglichst wenig anziehen. Schreibst du mit, Charlene, Schatz? Ha, ha! Okay, jetzt nehmen wir noch ein paar Anrufe entgegen.«

Der Moderator schwatzt ein paar Minuten mit einer Frau, die gegen Abtreibung ist, und spricht dann mit einem katholischen Priester, der gegen empfängnisverhütende Mittel ist. »Die einzige Rechtfertigung für die Fleischeslust«, sagt der Priester, »ist die Möglichkeit der Fortpflanzung.«

Erbost schnappt sich Rain das Telefon und tippt eine Nummer ein, die sie anscheinend im Kopf hat. »Ich hab genug Scheine, um einen gottverdammten Magistertitel in Fleischeslust zu kriegen«, bemerkt sie.

»Hallo«, schreit sie ins Telefon. »Da bin ich wieder.«

Eine verknisterte Stimme tönt aus dem Radio. »Da bin ich wieder.«

»Bist aber früh auf heute, Rain. Oder womöglich verdammt lang wachgeblieben.«

»Ich bin von dem..« – »Ich bin von dem Anrufer vor mir aufgeweckt worden, der da rumgesülzt hat von wegen Fleischeslust und so. Der hat doch keinen blassen Schimmer. Der weiß so wenig, daß er nicht mal weiß, was er nicht weiß.«

»Kannst du das noch mal langsam sagen, zum Mitschreiben.«

»Was verstehen denn Priester.« – »Was verstehen denn Priester vom Vögeln? Der Grund, warum ich praktizierende Katholikin bin, aber nicht den Katholizismus praktiziere, wenn du verstehst, was ich meine, ist, daß die organisierte Religion eine Verschwörung gegen die Frauen ist.«

»Hör gut zu, Charlene, Schatz. Rain hat eine neue Verschwörungstheorie.«

»Genau. Wenn du meine Meinung.« – Genau. Wenn du meine Meinung hören willst, Religion ist nichts weiter als ein Komplott der Männer, um den Frauen multiple Orgasmen vorzuenthalten, die Männer ja nicht haben können, indem sie uns Schuldgefühle suggerieren, falls wir Spaß am Sex haben. Machen wir doch keine gottverdammten Umschweife. Jeder weiß, daß ein guter Orgasmus selten allein kommt.«

»Ich nehme an, du sprichst aus Erfahrung.«

»Hey, Erfahrungen hab ich …« – »Hey, Erfahrungren hab ich wirklich genug gemacht. Die besten übrigens mit Männern jüdischen Bekenntnisses.«

»Was ist denn so toll an jüdischen Liebhabern? Wo ich praktizierender Adventist vom Siebenten Tag bin, solltest du vielleicht lieber mal kurz weghören, Charlene, Schatz.«

»Hey, das kann ich dir.« – »Hey, das kann ich dir sagen, was an jüdischen Liebhabern so toll ist. Erstens einmal hast du ein kleineres Risiko, Gebärmutterhalskrebs zu kriegen, wenn dein Partner beschnitten ist.«

»Wo hast du denn diese Weisheit her?«

»Das hab ich.« – »Das hab ich gelesen, und zwar entweder im Hite Report oder im Backwater Sentinel oder im National Geographic. Sonst lese ich nämlich nichts, abgesehen von den Sachen fürs Studium.«

»Ich hab immer gehört, Beschnittene hätten weniger Gefühl.«

»Also ich kann mich.« – »Also ich kann mich in dem Punkt nicht beklagen.«

»Glaub ich dir aufs Wort. Willst du nicht bei der Telefonistin deine Telefonnummer hinterlassen, bevor du auflegst? Ha, ha! Kleiner Scherz am Rande, Charlene, Schatz. War nett, mit dir zu plaudern, Rain. Für alle, die eben erst eingeschaltet haben, ihr hört WHIM Elvira, wo sich die Elite ein Stelldichschwein gibt. Der nächste Anrufer bitte.«

»Hey, von Priestern könnte ich dir Sachen erzählen«, redet Rain unbeirrt weiter. »Zum Beispiel damals, wo ich beichten mußte, daß ich meinen Cousin Bobby auf den Mund geküßt hatte.« Sie merkt, daß ihre Stimme nicht mehr aus dem Radio kommt. »Was sagt man dazu? Hat der Kerl doch einfach aufgelegt.«

 

Lemuel schaut auf dem Weg zum Institut im E-Z Mart vorbei, läuft einmal schnell durch die Gänge, mit Dwayne im Schlepptau, der Block und Bleistiftstummel gezückt hat. Dwayne hat in Lemuel ein Naturtalent für Supermarkt-Management entdeckt. Der Gastprofessor ist dahintergekommen, daß ein Supermarkt viel mit einem Schiff gemeinsam hat; beides sind perfekte Metaphern für die Chaosforschung, denn bei beiden nimmt man an, daß sich Ordnung hinter der scheinbaren Unordnung verbirgt. Schon mehrmals hat Lemuel, stets auf der Suche nach Spuren von Ordnung im Chaos der Regale, Dwayne auf Fehler im Computerprogramm des Supermarkts aufmerksam gemacht, das die Lagerbestände dem voraussichtlichen Bedarf der Ortsbewohner anpaßt.

»Ich hab das dumpfe Gefühl, daß dir der Eissalat ausgeht«, bemerkt Lemuel, als sie am Gemüsestand vorbeikommen. »Gleiches gilt für Dijonsenf, Mrs. Hammersmith’s kalorienarme Doughnuts, die importierte französische Salatsauce und die Sparpackung Stay Free.« Lemuel bleibt vor einem Artikel stehen, der ihm bislang noch nicht aufgefallen ist. »Yo! Was ist denn das, Dwayne? Was soll das heißen, ›Einmal drin, nie mehr raus‹?«

»Na, ein ›Kakerlaken-Motel‹ eben. Eine Kakerlaken-Falle.«

An der Kasse begrüßt ihn Shirley. Sie fährt sich mit den Fingern durch die Naturlocken. »Na, was läuft?« fragt sie. »Nichts Besonderes«, erwidert Lemuel. Shirley drückt das Kreuz durch, so daß sich ihre winzigen Brüste unter dem weißen Kittel abzeichnen. »Anscheinend hab ich immer noch meine Schwäche für Männer, die uneingeladen erscheinen.«

»Nur keine Panik«, lacht Lemuel.

Eine dürre Kassiererin, die an der nächsten Kasse die Einkäufe eines untersetzten Orientalen eintippt, unterbricht ihre Arbeit und bittet Lemuel schüchtern um ein Autogramm. Der Orientale, der Nadelstreifen trägt und mit einem spröden britischen Akzent spricht, fragt die Kassiererin: »Sagen Sie, ist der Mann eine Zelebrität?«

Shirley kichert belustigt. »Ist er eine Zelebrität, ist er keine?«

Die dürre Kassiererin klimpert mit ihren riesigen falschen Wimpern. »Ich hab Sie in der Glotze gesehn«, erzählt sie Lemuel feierlich. »Ich fand Sie allererste Sahne.«

Der Orientale verzieht das Gesicht. »Allererste Sahne?«

»Hey, Ihr Kunde braucht den einen oder anderen Tip, oder?« sagt Lemuel kichernd. Er dreht sich zu dem Orientalen um. »Ich kann zu Ihnen sagen, »allererste Sahne« kommt aus derselben Familie wie ›phantastös‹, und das ist ein Cousin ersten Grades von ›phallüstig‹. Astreines Englisch«, fügt er augenzwinkernd hinzu. »Sachen gibt’s.«

Beim Betreten seines Büros wird Lemuel von seinem weiblichen Freitag aufgehalten. »J. Alfred möchte mit Ihnen sprechen«, teilt ihm Mrs. Shipp mit.

»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagt ein paar Minuten später der Direktor zu Lemuel und zieht ihn in eine Ecke seines Büros. Er dirigiert seinen Besucher zu einer Ledercouch und stellt sich händeringend vor ihn hin. »Kaffee, Tee, Slibowitz mit oder ohne Mineralwasser?«

Goodacre nickt heftig, als Lemuel zu bedenken gibt, für Kaffee sei der Vormittag schon zu weit fortgeschritten und für Alkohol der Tag noch zu jung. Der Direktor läßt sich in einem Eames-Sessel nieder, dreht sich damit um 360 Grad, als müsse er sich aufziehen, kaut nachdenklich an der Unterlippe und räuspert sich überflüssigerweise.

»Kommen Sie mit Ihrer Arbeit gut voran?« erkundigt er sich fürsorglich. »Haben Sie sich am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung eingelebt?«

Lemuel blinzelt langsam. »Seit ich hier bin, ist mir vieles klarer geworden.«

»Ich bin erleichtert, das zu hören«, sagt Goodacre. »Sie wirken wie jemand, der weiß, auf welcher Seite sein Brot mit Butter bestrichen ist, der einen diskreten, gutgemeinten Rat nicht übelnimmt. Ich erinnere mich, daß ich Ihnen am Tag Ihrer Ankunft einen Tip hinsichtlich Ihrer äußeren Erscheinung gab. Nun, gesagt, getan.« Der Direktor entläßt einen Schwall jovialen, verschwörerischen Gelächters in Lemuels Richtung. »Ich kann Ihnen sagen, daß das Institut sich des Privilegs, einen Mann Ihres Kalibers unter seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern zu haben, sehr wohl bewußt ist. Wir wiegen uns gern in dem Glauben, mit dem Institut für fortgeschrittene Forschung an der Princeton University um die insgesamt für diesen Forschungszweig zur Verfügung stehenden Mittel zu konkurrieren. Und Kapazitäten wie Sie machen uns zweifellos konkurrenzfähiger. Und damit komme ich zum Kern der Sache, zum Auge des Sturms. Obwohl wir unseren Sitz in einem abgelegenen Tal in einem abgelegenen Winkel des puritanischen Amerika haben, sehen wir uns als Hort des Liberalismus, als eine tolerante Gemeinschaft gleichgesinnter Intellektueller. Was der einzelne tut und mit wem er es tut, ist seine eigene Sache.« Lemuel grunzt.

»Nichtsdestotrotz«, fährt Goodacre fort, mit einer Stimme, die kaum noch vom leisen Knirschen eines rostigen Scharniers zu unterscheiden ist, »gibt es eine Schmerzgrenze. muß der Liberalismus irgendwo ein Ende haben.«

Lemuel liest zwischen den Zeilen. »Sie sprechen von Rain.«

»Sie sind aus der Wohnung über dem Rebbe ausgezogen. Sie sind zu ihr gezogen.«

»Das verdammte Telefon ist heißgelaufen, wissen Sie. Die Nächte waren künstlich weiß – auf der Straße waren Filmscheinwerfer aufgebaut. Ich konnte die Nacht nicht mehr nutzen.«

»Ich war fest überzeugt, ich würde Sie dazu bringen können …«

»Rain hat mir angeboten, mir amerikanisches Englisch beizubringen.«

»Am Institut wird eine Planstelle frei. ein fester Vertrag.«

»Ich kann zu Ihnen sagen, daß unsere Beziehung, die zwischen Rain und mir, rein oraler Art ist. Der Rebbe hat uns wissen lassen, daß er an den Eastern Parkway zurückkehren, eine Talmudschule aufmachen und Vorlesungen über das Chaos im Alten Testament halten möchte.«

Beide Männer holen tief Luft.

»Um es ganz klar zu sagen«, setzt Goodacre neu an, »eine für alle Welt sichtbare Liaison zwischen einem der Gastprofessoren des Instituts und einer Friseuse, die in einem unteren Semester studiert und halb so alt ist wie er, belastet unsere liberale Tradition. Laut Vertrag, Lemuel – ich darf Sie doch Lemuel nennen? –, sind Sie für ein Semester hier bei uns. Es war unsere Hoffnung und, angesichts der Zustände in der ehemaligen Sowjetunion, doch wohl auch Ihre, daß dieses Gastspiel in eine Dauerstellung münden würde.«

Lemuel rutscht unbehaglich auf der Couch herum. Sein Herz sagt ihm, daß die Russen, die gegen Napoleon kämpften, einen Fehler machten, als sie zurückwichen; Rains Vater hatte recht – man mußte sein Territorium an der gottverdammten Grenze verteidigen. Jetzt mache ich viel Aufhebens von einer Sache, die viel Aufhebens verdient. Ich sage zum erstenmal im Leben etwas ohne Subtext. Kann ich denn erwarten, das zu überleben? Will ich es denn überleben? Er schließt die Augen, massiert mit Daumen und Mittelfinger eine sich ankündigende Migräne und sieht sich, in einem quälenden Wachtraum, auf den befehlshabenden Offizier zugehen, sich als jüngstes designiertes Mitglied in der Geschichte der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften ausweisen und energisch gegen die Brutalität der Polizei protestieren.

»Wahrscheinlich hab ich irgendwas nicht mitbekommen, J. Alfred«, hört er sich leise sagen, mit einer Stimme, die, wie seine zweite Unterschrift, auf keinen Fall seine eigene ist. »Ich darf Sie doch J. Alfred nennen? Hat es etwas mit Chaostheorie zu tun, mit wem ich ficke?«

Goodacre fällt die Kinnlade herunter. Einen Augenblick lang fürchtet Lemuel, der Direktor erleide einen Herzanfall. Er fragt sich, ob man in Amerika der Schönen wegen Totschlags verurteilt werden kann, weil man etwas ohne Subtext gesagt hat.

Schließlich schnappt Goodacres Mund wieder zu. Er kommt mit einem Ruck auf die Beine. »Danke, daß Sie vorbeigekommen sind«, sagt er. Er macht keine Anstalten, ihm die Hand zu geben.

Lemuel zieht eine Schulter hoch. »Nicht der Rede wert«, murmelt er. »Allererste Sahne.«

»Du hast was gesagt?« explodiert Rain, als Lemuel sie im Tender anruft und ihr von seiner Unterredung mit J. Alfred Goodacre berichtet. »Du denkst, da war kein Subtext, ja? Aber es war doch einer da.«

Lemuel hört Herzeleid heraus, wo er freudige Überraschung erwartet hat. »Also, was war der Subtext?«

»Hey, daß du nicht in Backwater bleiben willst, das ist der Subtext. Daß du nicht mit einer Friseuse zusammenleben willst, die in einem unteren Semester studiert und halb so alt ist wie du.« Lemuel will widersprechen, aber sie fällt ihm ins Wort. »Du bist verliebt in meinen tätowierten Schmetterling, aber für den Homo sapiens, der dazugehört, hast du nicht viel übrig.«

»Das verstehst du falsch«, protestiert Lemuel. »Er wollte, daß ich den Bus anhalte und aus unserer Beziehung aussteige. Ich hab nein gesagt. Ich hab ihm gesagt, er soll sich ins Knie ficken.«

»Hey, ist ja irre. Aber was willst du dann machen, wenn dein Vertrag abgelaufen ist? Wer sonst in Amerika wird schon einen Homo chaoticus einstellen, der leidenschaftlich hinter was her ist, was gar nicht existiert? Mann, bist du von allen guten Geistern verlassen?«

 

»Lassen Sie ihr Zeit, sie wird sich schon wieder abregen«, sagt der Rebbe zu einem tief deprimierten Lemuel, als dieser in der Hoffnung, Tee und Sympathie zu bekommen, in Nachmans Büro auftaucht.

»Stimmt das, was Goodacre sagt: Daß Sie am Ende des Schuljahrs wieder an den Eastern Parkway zurückkehren wollen?«

»Das kam ganz plötzlich. Ich habe IBM verkauft, ich habe General Dynamics verkauft, ich habe mir ein bißchen Startkapital bei einem Dritten geborgt, für den ich gelegentlich freiberuflich etwas mache, und mit dem ganzen Geld habe ich mich in eine genossenschaftliche Talmudschule eingekauft, die demnächst an der Ecke Kingston Avenue/Eastern Parkway mitten im Herzen von Brooklyn eröffnet wird. Es soll eine Konfessionsschule ohne konfessionelle Engstirnigkeit werden. Es wird außer mir noch zwei Rebbes geben, von denen der eine Anti-Antisemitismus lehren wird, also den positiven Umgang mit dem Neuen Testament, unter Betonung der Tatsache, daß Jesus und seine Jünger Juden waren. Der andere Rebbe wird einen Überblick über die Geschichte des Martyriums geben, von der Schlange im Garten Eden, die dazu verdammt wurde, für immer auf dem Bauch zu kriechen, weil sie das Kapitalverbrechen begangen hatte, eine bestimmte Obstsorte zu empfehlen, bis zu Jesus von Natzereth, der zur Kreuzigung verdammt wurde, weil er das Kapitalverbrechen begangen hatte, sich als König der Juden auszugeben. Ich selbst werde einen Kurs mit dem Titel »Chaos und Jahwe: Zwei Seiten einer Medaille« geben. Zufällig bin ich vor kurzem auf ein erquickliches Zitat für die Beschreibung der Lehrveranstaltung im Hochglanz-Vorlesungsverzeichnis der Schule gestoßen – vielleicht kennen Sie es, vielleicht auch nicht: Es ist George Russells Warnung an den jungen James Joyce: ›Sie haben nicht genug Chaos in sich, um eine Welt zu erschaffen.« Wie finden Sie das?«

Bevor Lemuel antworten kann, ist der Rebbe schon beim nächsten Gedanken. »Meine Zwickmühle – ich habe mich die ganze Nacht damit rumgequält und quäle mich schon den ganzen Vormittag damit rum – ist, daß ich Jahwe liebe, wie könnte es auch anders sein, aber Ihn eigentlich nicht richtig mag, geheiliget sei Sein Name. An manchen Tagen ist mir richtig übel davon. Warum, frage ich mich, kuscht der Eastern Parkway Or Hachaim Hakadosch, dessen Begierde unter anderem auf Ordnung gerichtet ist, vor einem Gott, dessen Beiname Zufälligkeit ist? Ich gestehe Ihnen, es gibt Tage, an denen ich versucht bin, den Rat von Hiobs Weib zu befolgen, ich spreche von Hiob Kapitel 2, Vers 9. Als sie dazukommt, wie ihr armer Teufel von Mann sich mit einem Scherben die Schwären schabt, spricht sie zu ihm: ›Hältst du noch fest an deiner Vollkommenheit? Fluche Gott und stirb.‹«

»Und, was hält Sie zurück?«

Der Rebbe wirft resigniert die Arme hoch. »Ich liebe das Leben«, gesteht er, »vor allem, wenn man die Alternative bedenkt. Außerdem gibt es ein altes jüdisches Sprichwort, das ich jetzt gleich erfinden werde. Es besagt, man solle so lange wie möglich leben, damit man möglichst kurze Zeit tot ist.«

Eines der zwei Telefone auf dem Schreibtisch des Rebbes surrt. Er packt den Hörer, murmelt »Hekinah degul«, hört zu, zieht eine Augenbraue hoch, reicht Lemuel den Hörer. »Es ist Ihr Amanuensis«, sagt er. »Das ist Liliputanisch für weiblicher Freitag.«

Mrs. Shipps Mitteilung klingt wie eine Durchsage vom Tower eines Flughafens. »Schon wieder hat eine dieser Journalistenkreaturen um die Erlaubnis gebeten, auf unserer Rollbahn zu landen«, sagt sie. »Diesmal ist es eine Frau, die mit einem Akzent spricht, der mich an Ihren erinnert, nur daß er noch stärker ist. Als ich sie fragte, wo sie herkommt, sagte sie etwas über das Chaos anderer Leute, das angeblich schöner ist. Ist das ein Land? Ich habe sie in Warteposition gesetzt, im Konferenzraum am Ende des Flurs.«

»Ich traue Journalisten nicht über den Weg«, sagt Lemuel zum Rebbe. »Marx, Lenin, Trotzki waren allesamt zeitweise Journalisten, und schauen Sie sich an, was sie Mütterchen Rußland angetan haben.«

Lemuel stürmt in den Konferenzraum, fest entschlossen, die Journalistin zum Teufel zu jagen – er gibt Interviews nur nach Vereinbarung, und Vereinbarungen lehnt er ab –, bleibt aber wie vom Donner gerührt stehen, als er besagter Journalistin ansichtig wird.

»Sdrawstwui, LemuelMelorowitsch.«

»Yo! Axinja! Tschto ty delajesch w Amerike?«

»Choroschi wopros …«