Frisch rasiert (wenn auch nicht gut rasiert), ein Stückchen Toilettenpapier auf einem eingetrockneten Schnitt am Kinn, umgeben von den Duftschwaden eines zollfreien Aftershaves, schlendert Lemuel am Vormittag die South Main Street entlang, vorbei an Teenagern, die das Eis vom Gehsteig hacken, hinein in das Dorf Backwater, Einwohnerzahl 1290, Studenten nicht mitgezählt. Bei jedem Atemzug brennt die kalte, trockene Luft ihm in der Nase, treibt ihm die Tränen in die Augen. Er blickt verstohlen auf einen seiner Ärmel, dann auf den anderen, sucht nach Spuren eines russischen Herzens; ist ein bißchen enttäuscht, als er nur ausgefranste Ärmel sieht.
Dutzende junger Leute, die Lemuel für Studenten hält, kraxeln die schmalen Pfade zum Campus hinauf, am Abhang des langgestreckten Hügels, der den Ort beherrscht. Mit wehenden bunten Schals bewegen sie sich in dem watschelnden Entengang, den er zum erstenmal bei Word Perkins gesehen hat, als dieser sich am Abend zuvor per highfive von ihm verabschieden wollte. Verblüfft bemerkt Lemuel, daß die Studenten offenbar tatsächlich dorthin wollen, wohin sie unterwegs sind. Er kommt zu dem Schluß, daß die Amerikaner vielleicht einen sonderbaren Gang haben, sich aber im Gegensatz zu ihren russischen Zeitgenossen nicht vor Reisen fürchten, die mit einer Ankunft enden.
Lemuel geht weiter, vorbei an einem Postamt, einem Drugstore, einem Billard-Salon, einer Buchhandlung. Die Gebäude sind eher winzig, von Wolkenkratzern keine Rede. Er erklimmt eine verharschte Schneewächte und geht vorsichtig weiter, die gesandete Straße entlang. An der nächsten Kreuzung bleibt er stehen und inspiziert ein Gebäude, das wie ein Hangar mit Flachdach aussieht; an einem galgenähnlichen Gebilde mitten auf dem gefrorenen Rasen hängt ein Schild, auf dem in bunten Neonfarben »E-Z Mart« steht. Aha, »EASY« Market, ein Supermarkt. Lemuel erinnert sich an Gerüchte von Hangars mit unendlich langen Regalreihen. Sein Schwiegersohn hatte sich angeblich mal in so einem Hangar in West-Berlin verlaufen und erst nach ein paar Stunden wieder hinausgefunden, eine Geschichte, die Lemuel seinerzeit für ein Gleichnis genommen hat.
Den Aktenkoffer unter dem Arm, drückt Lemuel mit der Schulter die Pendeltür auf und steht vor endlosen Regalreihen. Sein Herz, das er nicht auf dem Ärmel trägt, kommt ins Stottern und schlägt dann um so schneller. Er erschrickt über einen warmen Luftstrom, der aus einem in den Fußboden eingelassenen Gitter heraufweht. Er wirft sich durch diese Wand aus Wärme, schiebt sich durch ein Drehkreuz und geht beherzt in einen der langen Gänge. Auf beiden Seiten ziehen sich Regale entlang, so weit das Auge reicht – und die Regale sind ausnahmslos mit Lebensmitteln vollgestapelt!
Wenn das doch nur der Große Führer und Lehrer sehen könnte. Lenin hatte immer behauptet, Quantität lasse sich in Qualität umwandeln. Und hier, in den Gängen eines Lebensmittelgeschäfts, fand sich der greifbare Beweis dafür.
Lemuel inspiziert Dosen mit Corned beef, Maisgemüse und gebackenen Bohnen und bemerkt dabei, daß seine Fingerspitzen taub geworden sind. Als er Gläser mit kalorienarmer Erdnußbutter, Plastikbehälter mit Hershey-Schokoladencreme und Fäßchen mit Ahornsirup aus Vermont in Augenschein nimmt, werden ihm die Knie weich. Er taumelt, befürchtet einen Anfall von Schwindel im Endstadium, klammert sich an ein Regalbrett, atmet mehrmals tief ein und aus, faßt sich an die Nase und ist erleichtert, daß sie kalt und feucht ist. Oder (jäher Zweifel) ist das nur bei Hunden ein Zeichen von Gesundheit? Verwirrt hastet er weiter und befingert unterwegs Klarsichtpackungen, die mit Spaghetti jeder erdenklichen Größe, Form und Farbe gefüllt sind. Seine Lippen bilden die Buchstaben nach, er liest die Etiketten auf Gläsern mit Spaghettisauce – mit oder ohne Fleisch, mit oder ohne Champignons, mit oder ohne Kalorien, mit oder ohne künstliche Farbstoffe. Blitzartig begreift er, daß es in diesem Wunder von einem Land Leute gibt, die Zeit und Geld darauf verwenden, Spaghetti sauce rot zu färben.
Am Gemüsestand kämpft er mit den Tränen, als er die Fingerspitzen über einen knackigen Eissalat gleiten läßt. Er schickt sich an, eine Gurke zu streicheln, läßt sie aber wieder in den Behälter fallen, als eine vollschlanke Frau mit Schnurrbart, die einen mit Waschmitteln vollgestapelten Einkaufswagen vor sich herschiebt, entrüstet mit der Zunge schnalzt. Am Obststand verliert Lemuel vollends die Fassung. Er schnappt sich eine Zitrone – seit mehr als zwei Jahren ist ihm keine Zitrone mehr unter die blutunterlaufenen Augen gekommen –, hält sie sich an die Nase und saugt gierig den berauschenden Duft ein.
Benommen, geblendet, von einer Seite auf die andere taumelnd, biegt Lemuel so rasch um eine Ecke, daß er fast mit einem dunkelblonden Pferdeschwanz kollidiert. Er bemerkt, daß die junge Frau, die zu dem Pferdeschwanz gehört, eine Dose Sardinen über ihre Schulter in die Kapuze ihres Dufflecoats gleiten läßt.
»Was machen Sie da?« platzt er heraus.
Das Mädchen, das unter dem Dufflecoat enge, verwaschene Jeans und knöchelhohe Schnürstiefel trägt, dreht sich zu ihm um. »Yo! Ich klaue Sardinen«, verkündet sie in aller Unschuld. Sie blinzelt mit ihren riesiggroßen seetanggrünen Augen, als hätte sie Mühe, sie auf ihn scharfzustellen. »Und was klauen Sie?«
Lemuel hat das unheimliche Gefühl, schon einmal in diese Augen gesehen zu haben. Verwirrt streckt er ihr die leeren Hände hin, die Handflächen nach oben. »Ich klaue nichts. Ich schaue nur.«
Das Mädchen läßt ein genau berechnetes Lächeln aufblitzen, halb trotzig, halb entschuldigend; Sommersprossen tanzen auf ihrem Gesicht. »Hey, seien Sie kein Stockfisch. Klauen Sie was. Weiß doch jeder, daß die ihre Preise wattieren, um die Ladendiebstähle abzufedern. Deswegen muß auch wirklich wer was stehlen, damit die Supermärkte ehrlich bleiben. Logisch? Sonst machen die Extragewinne, weil keiner was klaut.«
»Ich muß gestehen, so hab ich das noch nie gesehen.«
Das Mädchen zieht eine Schulter hoch. »Hey, Sie sind ja der reinste Dichter.« Verträumt lächelnd schlendert sie zwischen den Regalen durch, studiert Etiketten und läßt die Dosen mitgehen, die ihr zusagen.
Lemuel gelangt auf Umwegen in die Bierabteilung und ist von der Auswahl überwältigt. Vor den Dosen und Flaschen und Sechserpacks und Zwölferpacks und Kästen jeder erdenklichen Form und Größe rollt er fassungslos die Augen. Ein junger Mann mit einem blonden Dreitagebart, das lange Haar mit einem bunten Band zurückgebunden, mit einer Nickelbrille auf der Nase und einem silbernen Ring im Ohrläppchen, bugsiert mühsam einen fahrbaren Untersatz mit Kästen alkoholfreien Biers an ihm vorbei. Ein Ansteckschild an seinem Flanellhemd weist ihn als »Manager« und »Dwayne« aus.
»Wenn Sie nicht finden, was Sie suchen«, sagt Dwayne, »fragen Sie.«
Lemuel nimmt seinen ganzen Mut zusammen. »Sie verkaufen nicht vielleicht auch Kwas?«
Der Manager kratzt sich am Bart. »Ist das ein Markenprodukt oder was Generisches?« Als Lemuel ihn verständnislos ansieht, fragt er: »Was genau ist denn Kwas?«
»Eine Art Bier, das aus Brot gebraut wird.«
»Wenn jemand da draußen so clever ist, daß er Bier aus Brot machen kann », erklärt Dwayne mit einem sympathischen Lachen, »werden wir das verdammt noch mal auch verkaufen. Falls Sie es noch nicht gehört haben sollten, im E-Z Mart ist der Kunde König.« Er holt einen Notizblock und einen Bleistift hervor. »Wie schreibt sich denn Kwas?« erkundigt er sich, die Bleistiftspitze leckend, und sieht Lemuel gespannt an.
»Kwas schreibt sich K, W, A, S.«
Dwayne schaut von seinem Block auf und mustert Lemuel durch seine kreisrunden Brillengläser. »Sie sprechen mit Akzent.«
»Finden Sie?«
»Ja, Sportsfreund, finde ich. Aber wegen einem Akzent braucht sich bei uns keiner schämen. Amerika ist ein Schmelztiegel von Akzenten. Wo kommen Sie her?«
»Sankt Petersburg. Rußland.«
Dwaynes Miene erhellt sich. »Ist ja cool. Als ich in Harvard Betriebswirtschaft studiert hab, hab ich meine Magisterarbeit über die Nachteile zentraler Planung in einer nicht marktorientierten Volkswirtschaft geschrieben. Der Titel war Spitze: »Staatlich verordnete Inkompetenz.«
»Was machen Sie mit einem akademischen Grad von der Harvard University in einem Supermarkt in Backwater?«
Dwayne zieht ein Päckchen Life Savers aus der Brusttasche seines Hemdes, bietet Lemuel eins an und nimmt selbst eins, als dieser den Kopf schüttelt. »Ich hab eine Zeitlang an der Wall Street mitgemischt«, sagte Dwayne, »bei einer Brokerfirma, die zu den Fortune 500 gehörte. Ich hab die Struktur von Unternehmen analysiert, einen Haufen Geld verdient, mir die Hände in Vorstandstoiletten gewaschen, wo es richtige Handtücher gibt, eine Eigentumswohnung an der Third Avenue gehabt, die ganze Manhattan-Szene. Shirley, das ist die Kassiererin mit der Naturwelle, Shirley und ich haben dann beschlossen, daß wir lieber normale Fischchen in einem kleinen, unverseuchten Teich sein wollen als Goldfische in einer Kloake. Und deshalb« – Dwayne macht mit den Armen Schwimmbewegungen – »schwimmen wir jetzt hier herum.« Er steckt den Block wieder in seine Jeans und reicht Lemuel die Hand. »Für meine Freunde bin ich Dwayne.«
Lemuel schlägt ein. »Ich bin Falk, Lemuel, für jedermann.«
»Tja, war nett, mit Ihnen zu reden, Lem, Sportsfreund. Lassen Sie sich mal wieder sehen in unserem Teich, ja?«
Wieder draußen auf der Straße, verspürt Lemuel so etwas wie einen Tiefenrausch – er fühlt sich wie ein Taucher, der, aus schwindelnden Tiefen hochgekommen ist. In seinem Kopf tönt eine Melodie, die er nicht kennt. Es dauert ein paar Minuten, bis er erleichtert feststellt, daß sie von dem stählernen Glockenspielturm oben am Waldrand kommt. Weiter vorn auf der Main Street geht er rasch entschlossen in den Studenten-Schnellimbiß »Kampus Kave«, der im Fenster seine »Geld kein Thema Pizza« anpreist, klettert auf einen Barhocker und bestellt Kaffee bei der Frau, die hinter der Theke ein Comicheft liest.
Sie blickt auf. »Mit oder ohne?«
Lemuel, der sich keine Blöße geben will, sagt: »Von jedem eins, wenn Sie so freundlich wären.«
Die Frau kichert. »Also den kenn ich noch nicht.«
Aufgewärmt von den zwei Tassen Kaffee, eine mit, eine ohne, erkundigt sich Lemuel nach dem Weg zum Kramladen. Er schlingt sich sein Khakituch um den Hals und macht sich auf den Weg. Wie er an einem modernen, ebenerdigen Gebäude aus Glas und Ziegeln vorbeikommt, sieht er eine Tafel, auf der in Leuchtschrift Tageszeit und Temperatur sowie die GELDMARKTSÄTZE VOM TAGE angezeigt werden. Eine Menschenschlange reicht aus dem Vorraum des Gebäudes bis auf die Straße hinaus. Ohne auch nur einen Moment zu überlegen, stellt er sich hinten an.
»Ach, bitte, was gibt es denn hier zu kaufen?« fragt er das Mädchen vor ihm.
Sie hört auf, ihren Kaugummi zu kauen, und nimmt den Kopfhörer aus einem Ohr. »Hm? Wie bitte?«
»Könnten Sie mir mitteilen, was hier verkauft wird?« Lemuel zeigt mit dem Kinn auf den Vorraum. »Bei so einer Schlange muß es was Wichtiges sein.« Er kramt in seinen Taschen nach dem kleinen Notizbuch, das er in Rußland immer dabei hatte, und blättert die Seite mit den Maßen seiner Geliebten auf – Büstenhaltergröße, Handschuhgröße, Schuhgröße, Strumpfhosengröße, Hutnummer, Hemdengröße, Schrittlänge, Körpergröße, Gewicht, Lieblingsfarbe (durchgestrichen, mit einer handschriftlichen Anmerkung von Axinja daneben: »Farbe egal«).
Die Liste löst in Lemuel heftige Sehnsucht nach dem vertrauten Chaos von Petersburg aus.
»Wir stehen am AM an«, erklärt das Mädchen mit weinerlicher Stimme. Sie stöpselt den Ohrhörer wieder ein und macht ein paar Tanzschritte, offenbar zu der Musik, die sie hört.
Lemuel wendet sich an einen jungen Mann, der sich hinter ihm angestellt hat. »Bitte entschuldigen Sie, was ist ein AM?«
»Automonetor.« Er bemerkt den fragenden Ausdruck in Lemuels Augen. »Hier kann man sich Kohle holen, also. Geld.«
Lemuel setzt die Teile des Puzzles zusammen. Das Wort »Geldmarktsätze« auf der Anzeigetafel, ein AM, der »Kohle« verteilt – offenbar ein Ausdruck für Geld – die rund zwanzig Personen, die trotz der minus zehn Grad Celsius geduldig Schlange stehen. Was könnte logischer sein: In Rußland steht man nach Kohle an, in Amerika der Schönen nach einer anderen Art Kohle. Die Straßen mögen nicht mit Sony-Walkmans gepflastert sein in diesem Gelobten Land, aber es ist trotzdem ein Land voller Wunder.
Lemuel spricht noch einmal den jungen Mann an, um sich seinen Verdacht bestätigen zu lassen. »Wenn ich an der Reihe bin, wird also« – er zwinkert, zum Zeichen, daß er den Code verstanden hat – »Kohle an mich ausgegeben?«
»Ja, aber nur, wenn Sie Plastik haben.« Der junge Mann hält Lemuel seine Kreditkarte hin.
»Man braucht Plastik, um Kohle zu bekommen?«
»Ja. Das ist die Spielregel.«
»Und wo bekomme ich Plastik?«
»Da drin. Aber die Bank gibt Plastik nur an Leute aus, die ein Bankkonto haben.«
Lemuel mustert das Gebäude. »Das sieht nicht wie eine Bank aus.«
»Sondern wie was?«
»Es erinnert mich an eine Datscha, die ich einmal auf der Krim gesehen habe.«
»Was ist eine Datscha?«
»Eine Datscha ist, wo die Angehörigen der Nomenklatura ihre Wochenenden verbringen.«
»Was ist eine Nomenwiewardasnoch?«
»In Rußland sind das diejenigen, die entscheiden, welche Seite oben ist. Wenn ich Ihnen einen Ratschlag erteilen darf, junger Mann: In jedem beliebigen Land muß man vor allem eins wissen, nämlich wer bestimmt, welche Seite oben ist.«
Lemuel erschreckt den jungen Mann mit einem verunglückten highfive und schert aus der Schlange aus, um seine Erkundung des Gelobten Landes fortzusetzen.
Lemuels Wortschatz aus der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force wächst in schwindelerregendem Tempo; er kennt schon Ausdrücke, die sogar Raymond Chandler, er ruhe in Frieden, nachschlagen müßte, wenn er noch am Leben wäre.
Highfive. Henkel. Geldmarkt. Kohle. Plastik. Und loswerden nicht zu vergessen. Ganz zu schweigen von Stockfisch, offenbar etwas, was keiner sein will. Lemuel betritt den Kramladen im Erdgeschoß eines heruntergekommenen, hundert Jahre alten zweigeschossigen Holzhauses an der Ecke Main und Sycamore Street und strebt zum Ladentisch. »Ich suche den Friseursalon«, sagt er zu dem noch keine zwanzig Jahre alten Verkäufer, der mit einem Schraubenzieher die Schublade einer altmodischen Registrierkasse aufzubrechen versucht.
Der Verkäufer zeigt mit dem Kinn zum hinteren Teil des Ladens. Zwischen Gestellen mit Skianoraks, Langlaufskis und Jogginganzügen schlängelt sich Lemuel zu einer gebrechlich wirkenden Holztreppe durch. Eine große Hand mit unzüchtig ausgestrecktem, nach oben weisendem Mittelfinger ist auf die Scheunenbretter der Wand neben der Treppe gemalt.
Die Stufen ächzen unter Lemuels Gewicht. Das silbrige Schnippschnapp einer Schere ist hinter dem Vorhang zu hören, der am oberen Ende der Treppe anstelle einer Tür angenagelt ist. Lemuel tritt durch den Vorhang und steht im Frisiersalon.
Die junge Frau, die in dem Supermarkt mit den endlosen Regalreihen Sardinen gestohlen hat, tänzelt um einen jungen Mann herum, der auf einem altmodischen Drehstuhl aus Chrom und rotem Leder sitzt. Mit wippendem Pferdeschwanz springt sie zurück, um ihr Werk zu begutachten, macht dann einen Satz nach vorne und attackiert das Haarbüschel über einem Ohr. Schnippschnippschnippschnipp. Hinter ihr durchschneiden Sonnenstrahlen eine große Fensterscheibe, auf der verblichene Buchstaben einen Bogen bilden. Lemuel liest die Lettern von links nach rechts:REDNET. Es dämmert ihm, daß die Buchstaben ein Wort ergeben und daß das Wort von draußen zu lesen ist, für ihn also von rechts nach links.
»Tender. Aha! Das ist also ein Tender.«
Die Friseuse nickt zu den einfachen Holzstühlen hin, die an einer Wand aufgereiht sind. Sie läßt sich nicht anmerken, ob sie Lemuel aus dem E-Z Mart wiedererkennt. »Bin gleich für Sie da«, murmelt sie. Dann wendet sie sich wieder ihrem Kunden zu, baut sich hinter seinem Stuhl auf und mustert ihn im Spiegel. »Na, Warren? Du siehst beinah phantastös aus, aber nicht ganz.«
»Meine Koteletten sind ätzend.«
»Wenn du eine abweichende Meinung verträgst, ich finde, du siehst damit aus wie … Rhett Butler.«
»Wirklich?«
»Hey, du kennst doch meinen Werbeslogan: ›Ein Haarschnitt von mir macht einen andern Menschen aus dir.‹«
Lemuel stopft sein Halstuch in den Ärmel seines verschossenen braunen Mantels und legt diesem mitsamt seinem Sakko über eine Lehne, dann setzt er sich auf einen Stuhl neben einem niedrigen Tischchen mit einem ganzen Stapel Playboys. Er nimmt sich ein Heft, das durch so viele Hände gegangen ist, daß sich die Seiten wie weicher Stoff anfühlen. Mit einem Blick zu der Friseuse überzeugt er sich, daß er nicht beobachtet wird, und blättert sich bis zum Ausklappbild in der Heftmitte durch. Als Petersburg noch Leningrad war, hat er einmal einen Playboy auf einem Flohmarkt durchgesehen. Der Preis entsprach einem Wochenlohn, was ihn aber nicht abhielt, ihn zu kaufen, um sein Englisch zu verbessern. Er fand damals und findet auch jetzt, daß die splitternackten Frauen, die einem von den Seiten der Zeitschrift entgegenlächeln – das Schamdreieck säuberlich zu einem Spitzbart getrimmt, die Nippel ihrer makellosen Brüste wie Kanonenrohre auf den Leser gerichtet –, ungefähr so erotisch wirken wie tiefgefrorene Fische. Ihre Nacktheit geht seiner Ansicht nach nicht unter die Haut.
Am anderen Ende des Raums geht die Sardinendiebin vor ihrem Kunden in die Knie und schnippelt mit der Scherenspitze vorsichtig die aus den Nasenlöchern sprießenden Haare ab. Danach pudert sie ihm mit einem weichen Pinsel den Nacken ein, befreit ihm mit einem Ruck von dem blauweiß gestreiften Umhang und schüttelt die Haare auf den Boden, der mit einer dünnen Schicht Haare bedeckt ist, die ihr bei jeder Bewegung um die Füße wirbeln.
»Yo«, zitiert sie Lemuel herbei.
Der Student reicht der Friseuse einen Geldschein. »Behalt das Kleingeld, Rain. Bist du für die Delta Delta Phi Party heute abend gebongt? Wie man hört, haben die ein paar heiße Filme besorgt.«
»Vielleicht.«
»Was heißt das, vielleicht?«
Sie schaltet plötzlich auf Abwehr und sagt: »Vielleicht heißt vielleicht nicht.«
Lemuel schwingt sich auf den Drehstuhl.
»Hey, Sie sind bestimmt neu hier, stimmt’s?« sagt die Friseuse. »Und, haben Sie meinen Rat befolgt und was geklaut, damit der Supermarkt ehrlich bleibt?«
Lemuel hat gehofft, daß sie ihn wiedererkennen wird. Verdattert antwortet er: »Ich wollte Kwas klauen, habe aber in den Regalen keins gefunden.«
Die Sardinendiebin zuckt die Achseln. »Bloß gut, daß ich genug für uns beide geklaut hab.«
Lachend zieht sie ihm den gestreiften Umhang über den Kopf und steckt das obere Ende in seinen Kragen. Einen Moment lang sieht sie ihn komisch an, dann beugt sie sich vor und zieht behutsam das Stückchen Toilettenpapier von seinem Kinn ab. Ihr Gesicht ist so nahe, daß er ihren Lippenstift riechen kann. Wieder hat er das Gefühl, ihr schon einmal in die Augen gesehen zu haben.
»Ich habe mich beim Rasieren geschnitten«, brummt er verlegen.
»Ich hatte nicht angenommen, daß es bei einem Duell passiert ist.« Die Schere in der einen Hand und einen Kamm in der anderen, mustert Rain das graue Gestrüpp auf Lemuels Kopf. »Also, was wollen Sie?«
»Einen Haarschnitt.«
»Sehr witzig. Was für einen Haarschnitt? Wie wollen Sie wirken? Intellektuell? Gelehrt? Sportlich? Wie Woody Allen? Rhett Butler? Ich kann Sie in einen Renaissance-Mann verwandeln, daß Sie sämtliche Renaissance-Frauen von sich wegprügeln müssen.«
»Es gibt ein Institutsessen«, sagt Lemuel steif. »Da soll ich wie ein Homo chaoticus wirken, im Gegensatz zu einem Homo soviéticas.«
»Ich weiß, was ein Homosexueller ist. Aber ein Homochaoticus …«
»Das ist ein Mann in seiner Rolle als Chaotiker, also als Chaosprofessor.«
»Yo! Schon verstanden. Sie müssen einer von den Stockfischen aus dem gottverdammten Institut in der alten Bruchbude hinter der Bibliothek sein. Wissen Sie was? Wenn Sie wie ein Chaosprofessor aussehen wollen, sollten Sie Ihre Haare so lassen, wie sie sind.«
Mit gespreizten Fingern bemüht sie sich ein paar Minuten lang, sein Haar zu entwirren. Einmal verzieht Lemuel das Gesicht.
»Entschuldigung.« Sie setzt das halb trotzige, halb entschuldigende Lächeln auf, das er schon im E-Z Mart auf ihrem Gesicht gesehen hat.
Erst vorsichtig, dann mit wachsendem Zutrauen schnippelt sie an seinen Haaren herum. »Sie haben doch sicher einen Namen.«
»Falk, Lemuel.«
Rain hält im Schneiden inne und spricht mit Lemuels Spiegelbild. »L. Falk. Sie sind der russische Typ aus der Sendung heute nacht im Radio. Ich weiß noch, Sie haben gesagt, daß Zufälligkeit Unwissenheit ist oder so ähnlich. Ich war mir nicht sicher, was Sie damit gemeint haben, aber es hat sich jedenfalls verdammt intellell angehört. Hey, wie finden Sie das? Die Welt ist klein, stimmt’s? Ich mein, ich war diejenige, die direkt nach Ihnen angerufen hat.«
»Sie sagten etwas über einen G-Punkt …«
»Sie haben mich also gehört?«
»Was, in Gottes Namen, ist ein G-Punkt?«
Rain rückt Lemuels Kopf zurecht und schnippelt weiter. »Den haben, glaub ich, Sigmund Freud und Co. entdeckt. Es ist ein äußerst empfindlicher Punkt ungefähr so groß wie ein Fingerabdruck auf der Innenseite der.« Die Schere zögert. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
Lemuel denkt sich, da er sitzt und sie steht und er sie deshalb nicht auf den Arm nehmen kann, ist das bestimmt wieder eine Redewendung, mit der er sich vertraut machen muß. Außerdem begreift er, daß es sich um was Sexuelles handelt. Er versucht sich zu erinnern, ob seine Geliebte daheim in Petersburg einen solchen Punkt hatte, kommt zu dem Schluß, daß das Thema ein Minenfeld ist, und umgeht es auf Zehenspitzen.
»Ist Rain Ihr Vorname oder Ihr Familienname?«
»Vorname. Mein Familienname ist Morgan. Ich hab denselben Namen wie ein Typ, den Sie als Russe und so wahrscheinlich nicht kennen. J. P. Morgan? Nein. Hab ich mir gedacht. Der hatte was mit Geld zu tun, und das ist was, womit ich auch gern zu tun hätte.« Sie schürzt die Lippen und linst über Lemuels Kopf weg zu seinem Spiegelbild. Offenbar zufriedengestellt, nimmt sie die andere Kopfseite in Angriff. »Wie sind Sie denn zu diesem. Henkel gekommen: Rain – Regen?«
»Ich wurde nach dem Wetter am Tag meiner Geburt getauft. Mein voller Name, wie er in der Geburtsurkunde steht, lautet Strichweise Regen, aber das Strichweise laß ich meistens weg. Meine kleine Schwester heißt Leicht Bewölkt. Hippie-Eltern. Sachen gibt’s.«
»Und was bedeutet ›Tender‹?«
Rain schaut zu dem REDNET an der Fensterscheibe. »Ich hab den Salon vom Kramladen gepachtet. Der Tender war im Vertrag inbegriffen. Ich seh das so: »Tenders so sehen wir Frauen uns selbst – Sie wissen schon, ›Love me Tender‹, wir sind ›tender‹ zu den Männern, also zärtlich und sanft und liebevoll und einfühlsam. Aber die Männer haben die Tendenz, uns als – ›Tender‹ zu sehen – als den kleinen Anhänger einer Dampflokomotive.« Sie zuckt die Achseln. »Ich geb mir Mühe, mich von den Männern nicht unterkriegen zu lassen. Es gelingt mir nicht immer.«
Breitbeinig, in den Knien federnd, umkreist Rain Lemuels Kopf und plappert weiter, während sie ihm die Haare schert. »Leute, die sich nicht kennen, fangen eine Unterhaltung meistens damit an, daß sie übers Horoskop reden. Sie haben sicher auch in Rußland schon von den Tierkreiszeichen gehört, oder? Also ich persönlich, ich glaub ja nicht an den ganzen Löwen- und Steinbockmist. Ist ja vielleicht ganz brauchbar zum Kennenlernen, aber dann, was kommt dann? Dieses im Aszendenten und jenes im Deszendenten. Ich bin praktizierende Katholikin, aber was ich praktiziere, ist nicht der Katholizismus. In der Messe war ich zum letztenmal, als ich per Anhalter durch Italien gefahren bin und Geld aus dem Klingelbeutel klauen mußte, um nicht zu verhungern. Außerdem hab ich die Kerzen gestohlen und sie an Straßenecken verhökert.«
»Wenn Sie nicht den Katholizismus praktizieren, was praktizieren Sie dann?«
»Ich praktiziere Haardesign, aber nur als Teilzeitjob – ich schneide Haare, um mich durchs College zu bringen. Ich praktiziere Horn in der Blaskapelle von Backwater, obwohl ich weder marschieren noch Noten lesen kann, ich spiele nach dem Gehör. Ich praktiziere Safer Sex, den ich auch nach dem Gehör spiele, obwohl heutzutage Safer Sex ja oft null Sex bedeutet. Ich praktiziere Hauswirtschaft, das ist mein Hauptfach, und Filmgeschichte, das ist mein Nebenfach. Ich praktiziere.«
Lemuel merkt, daß er sich allmählich ausblendet. Er hört ihre Stimme weiterplätschern, kriegt aber nicht mehr mit, was sie sagt. Es ist wie ein Film ohne Ton. Von Zeit zu Zeit murmelt er »Mhm«, wobei es sich um einen Ausdruck handelt, der in keinem Wörterbuch steht, den aber jeder zu verstehen scheint. Ihm wird bewußt, daß es eine seltsam intime Angelegenheit ist, sich von einer Frau, noch dazu einer attraktiven, die Haare schneiden zu lassen. Er ist keiner fremden Frau körperlich so nahe gewesen, seit der KGB ihn wegen seiner Unterschrift unter eine Petition verhaftet und mit Handschellen an eine Filmkritikerin gefesselt hat. Als Rain sich schräg über seine Brust beugt, um ihm die über die Augen fallenden Haare zu stutzen, spürt er die Bewegung der Luft und riecht für einen Moment einen Frauenkörper, ein nach Rosen duftendes Parfüm, das schon fast, aber doch nicht ganz verflogen ist. Aus dem Augenwinkeln mustert er ihre schmalen Hüften, die Linie ihres Oberschenkels, ihre Handgelenke, die Form ihrer Fingernägel, die Ringe, die sie an fast allen Fingern trägt, keiner gleicht dem anderen. Als sie sich abwendet, um nach dem Kamm zu greifen, genehmigt er sich einen ausgiebigen Blick auf ihren Arsch, der, in ausgewaschenen, hautengen Jeans steckend, das uneingeschränkte Prädikat »prachtvoll« verdient. Immer wieder einmal sind ihre Brüste für kurze Zeit auf seiner Augenhöhe, nur Zentimeter entfernt. Am Rand seines Blickfelds sieht er, wie sich die Knöpfe an ihrem Hemd spannen, erhascht er eine Ahnung von nackter Haut, die Andeutung einer schwellenden Brust zwischen den Knöpfen. Sie trägt offensichtlich keinen Büstenhalter, was in dem Arbeiterparadies, aus dem er geflohen ist, undenkbar gewesen wäre. Einmal streift die weiche Spitze ihrer Brust sein Ohr – oder ist er nur dabei, sich einem angenehmen Wachtraum hinzugeben? Oj, Ta’amu ure’u. Wenn er nur könnte.
Und dann kürzt sie auch ihm die Haare, die aus den Nasenlöchern sprießen, lockert den Umhang, pudert ihm den Nacken ein und nimmt ihm den Umhang ab. Steifbeinig steht Lemuel auf, setzt sich die Brille wieder auf und betrachtet sich im Spiegel. »Und?«
»Ich fühle mich gehobelt.«
»Das soll das Gegenteil von ungehobelt sein, stimmt’s? Also muß es ein gottverdammtes Kompliment sein.«
Lemuel fährt sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich hoffe, man wird mich nicht für einen Studenten halten.« Er zückt eine kleine Geldbörse mit Reißverschluß, zählt fünf Dollarscheine ab und gibt sie ihr. »Ich habe gelesen, daß in Amerika Trinkgelder üblich sind, aber ich weiß nicht, wieviel.«
»Der Haarschnitt macht vierfünfzig. Die meisten geben mir fünf und sagen, ich soll das gottverdammte Kleingeld behalten.«
»Also bitte«, sagt er mit einem schwachen Lächeln, »behalten Sie das gottverdammte Kleingeld.«
Rain klimpert mit den Wimpern. »Kommt nicht oft vor, daß einer bitte sagt, wenn er mir sagt, daß ich das gottverdammte Kleingeld behalten soll.« Während Lemuel sich den Mantel anzieht, kommt sie unauffällig näher. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag: Ich bin noch nie einem leibhaftigen Russen begegnet. Und ich bin zu so einer Verbindungsparty heute abend eingeladen. Ich bin nicht gerade scharf darauf, zu Hause rumzuhocken. Außerdem bin ich nicht scharf drauf, da allein aufzukreuzen und mich betatschen zu lassen. Alle diese gottverdammten Typen, die einem ganz nebenbei mit der Hand über Rücken und Schultern streichen, um festzustellen, ob man einen BH trägt.« Sie holt tief Luft. »Also, ich will keine Umschweife machen …«
»Sie sind schon der zweite Mensch, dem ich in Amerika begegne, der nicht gern Umschweife macht.«
»Wer war der andere?«
»Ein Rabbi.«
»Ascher Nachman, der flippige Rebbe?« Rain verzieht das Gesicht. »Der bezieht sein Gras von mir. Ich hab ihn mal gefragt, ob im Alten Testament oraler Sex vorkommt. Wissen Sie, was er gesagt hat? Er hat gesagt, das Alte Testament er hat einen anderen Namen dafür, ich weiß nicht mehr genau, welchen – hätte eine gottverdammte mündliche Überlieferung. Außerdem hat er mir erzählt, daß dieser Onan – Sie wissen, wen ich meine? –, also der Typ, von dem das hochgestochene Wort für Wichsen kommt, dieser Onan hätte bloß Coitus interruptus gemacht, was, wie der Rebbe behauptet, eine gängige Methode der Geburtenkontrolle vor Christus war, also in der Zeit vor den Kondomen. Hey, wo steht. denn geschrieben, daß ein sauberer junger Rabbi nicht ein dreckiger alter Lustmolch sein kann? Andererseits kann ein Rabbi, der Marihuana raucht, nicht ganz so übel sein. Vor allem nicht, wenn er statt Koteletten Korkenzieherlöckchen hat. Ich kenn Mädels, die würden einen Mord begehen für solche Löckchen. Ich hab ihm mal einen Haarschnitt auf Kosten des Hauses angeboten, wenn er mir das Geheimnis verrät, aber da läuft nichts, hat er gemeint. Na jedenfalls, um auf die Umschweife zurückzukommen, die ich nicht machen will: Hätten Sie Lust, mit mir da hinzugehen …«
Lemuel traut seinen Ohren nicht. »Sie bitten mich, Sie zu dieser Verbindungsparty zu begleiten?«
»Sagen wir, es würde mir nichts ausmachen, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«
Lemuel denkt über die Einladung nach und nickt dann bedächtig. Rain hält ihm, ohne zu lächeln, die Hand hin. Lemuel schlägt ein, auch ohne zu lächeln. »Abgemacht«, sagt sie, als hätten sie einen Vertrag abgeschlossen.
Ich will mir Mühe geben und es so erzählen, wie’s war. Ich muß gehört haben, daß jemand die Treppe raufkommt, weil ich weiß noch, daß ich den Kopf gedreht und gesehen hab, daß sich der Vorhang zu mir her bauscht, als ob er die Wärme von einem näherkommenden Körper spürt. Und dann kam dieser Stockfisch, der mich im E-Z Mart fast über den Haufen gerannt hätte, durch den Vorhang in meinen Salon gestolpert. Also, wenn jemals jemand einen Haarschnitt dringend nötig hatte. Der hatte so ein verfilztes Knäuel Stahlwolle auf dem Kopf, wie man es – und das sagt Ihnen jemand, der’s w.ssen muß davon bekommt, daß man sich jahrelang die Haare von Dilettanten schneiden läßt, die eine stumpfe Gartenschere benutzen. Im Vergleich dazu hat der durchschnittliche Neandertaler bestimmt zivilisiert ausgesehen.
Abgesehen von den Haaren hatte er auch was, na ja, Ausländisches an sich. Ich rede nicht von dem billigen Aftershave, ich rede von der Art, wie er seine Klamotten trug, von den Klamotten als solchen. Die waren so unansehnlich, daß ich nicht weiß, ob ich sie beschreiben könnte, wenn mein Leben davon abhinge. Wenn ich mich konzentriere, kann ich mich gerade noch an einen verschossenen braunen Mantel erinnern, der fast bis auf seine Schuhspitzen zipfelte. Und an ein Halstuch kann ich mich erinnern, ein khakifarbenes, das er sich doppelt um den dicklichen Hals gewickelt hatte. Hosen muß er natürlich auch angehabt haben, aber ich kann mich weder an die Farbe erinnern noch daran, ob er Rechts- oder Linksträger war, ein Detail, das mir im allgemeinen nicht entgeht. Er hatte ein Hemd an, bis obenhin zugeknöpft, aber ich glaube nicht, daß er eine Krawatte trug. Nein, er hat bestimmt keine getragen. An eine Krawatte, in Backwater eher die Ausnahme als die Regel, würde ich mich bestimmt erinnern. Unter der Jacke trug er einen ärmellosen Pullover, und ich weiß von keinem dieser beiden Artikel mehr die Farbe, aber der Pullunder war der reinste Schuhputzlappen, völlig verfackt. Unter dem Arm hatte er eine abgeschlaffte Tasche aus Kunstleder. Daß es kein echtes Leder war, nahm ich deshalb an, weil einer, der so rumläuft, einfach nichts Echtes haben kann.
Also gut, jetzt sein Gesicht. Er hatte ein komisches, fast hätte ich gesagt bizarres Glitzern in den Augen, von dem ich nicht wußte, wo ich’s hintun soll, bis ich zufällig in den Spiegel schaute, wie ich hinter ihm aufgefegt hab, und in meinen Augen genau dasselbe sah … Irgendwo hab ich mal gelesen, wahrscheinlich in einem National Geographie im Wartezimmer beim Frauenarzt, daß jedes Gesicht eine Karte von einem Land ist, an das wir uns vage erinnern. Also jedenfalls, ich kann Ihnen sagen, das stimmt. Mein Neandertaler – ich rede vom Haarschnitt, nicht von der Intelligenz, okay? –, mein Neandertaler hatte sich irgendwann im Leben mal furchtbar erschrocken, und die Spuren der Furcht, der Beunruhigung, der Überraschung, ja sogar der Verzweiflung waren ihm ins Gesicht geschrieben, in die Augen eingeprägt. Die blutunterlaufen waren. Was hieß, daß er entweder zuviel trank oder zuwenig schlief – oder beides.
Wenn ich einen Kunden seh, der eine Tasche dabei hat, Imitat oder nicht, halt ich ein Auge offen, damit er mir nicht meine gottverdammten Playboys klaut, was – entschuldigen Sie, wenn ich vorwegnehme, was Ihnen gleich durch den Kopf gehen würde – nicht dasselbe ist wie das Klauen von Sardinen im Supermarkt, weil ich meine Preise nämlich nicht wattier, um den Playboy-Schwund wettzumachen. Damit er merkt, daß ich ein Auge offenhalte, hab ich meinen üblichen Spruch abgelassen. »Bin gleich für Sie da«, hab ich gesagt. Ich hab zugesehen, wie er das Halstuch in das Armloch von seinem Mantel gestopft hat, eine Methode, die mir nicht fremd ist – sie erinnert mich an meinen Exmann, von dem ich mich nach zwei Monaten Eheunglück scheiden ließ, weil er seine Verwandten dazu angestiftet hatte, bei unserer Hochzeit Reis statt Vogelfutter auszustreuen. Roher Reis, falls Ihnen das noch nie einer gesteckt hat, quillt nämlich im Vogelmagen, verstehen Sie? Und das führt bei den Vögeln zu akuten Verdauungstörungen und, falls sie genug Reiskörner fressen, was sie bei Hochzeiten gern tun, zu einem qualvollen Tod. Wo war ich? Yo! Ich hab gesehen, wie er den Playboy befingert, und auch, wie er ohne den Kopf zu heben zu mir hersieht, ob meine Wenigkeit ihn beobachtet, aber ich wandte den Blick ab – ich hab eine Schwäche für hochgestochene Redewendungen wie »wandte den Blick ab«, man klingt dann so. gebildet. Ich wandte also den obenerwähnten Blick ab, und er hat betont gleichgültig das Heft durchgeblättert bis zum Klappbild in der Mitte. Und damit bin ich bei der ersten Sache, die mir an ihm gefiel.
Für mich war er ein offenes Buch wie die meisten Männer, und was las ich in dem Buch? Daß er keine religiösen oder sonstigen Vorbehalte gegen Nuditäten hatte – welcher vernünftige Mensch hätte die auch? –, aber auch, daß er die Miezen nicht sexy fand. Das hat mich fasziniert, zugegeben. Ich meine, nach meinen Erfahrungen vögeln Frauen Typen, die sie im Grunde genommen mögen, vorausgesetzt, die Kerle sind mit einem Schwanz ausgestattet. Männer dagegen vögeln Muschis, ganz gleich, ob sie die dazugehörigen Frauen kennen oder nicht, von mögen ganz zu schweigen. Aber mein Neandertaler war irgendwie anders. Er war doppelt so alt wie ich, mindestens – ich bin dreiundzwanzig –, und ich hörte förmlich schon, wie mich die gottverdammten Verbindungsbrüder beim Delta Delta Phi als Grabräuberin und Friedhofsschänderin verarschen würden. Aber ich hab schließlich noch nie was drauf gegeben, was die Leute denken, immer vorausgesetzt, man zählt die Brüder von der Delta Delta Phi zu den denkenden Menschen.
Im Hinterkopf hatte ich auch noch andere Gründe, L. Falk, was sich als sein Henkel herausstellte, zu fragen, ob er mit mir auf die Party gehen wollte. Es heißt ja, alles über dreißig ist auf dem absteigenden Ast, aber ich frag mich langsam, ob ich nicht besser dran wäre mit einem ständigen Begleiter, der auf dem absteigenden Ast sitzt. Ich hab die Nase gestrichen voll von diesen Fuzzis, die denken, sie tun dir einen Gefallen, wenn sie dich vögeln, und tatsächlich danke sagen, wenn’s vorbei ist, als ob du der gottverdammte Tender an ihrer Lokomotive wärst, sich aus dem Bett wälzen, sich den Pimmel an deinen gottverdammten Handtüchern abwischen und beim Abgang »Also, ich ruf dich an, ja?« sagen, obwohl sie genausogut wissen wie du, daß sie deine Telefonnummer gar nicht haben.
Ich hab genug von diesen einmaligen Gastspielen, die damit enden, daß ich dasitze und drauf warte, daß das gottverdammte Telefon klingelt.
Was mich sonst noch fasziniert hat an L. Falk? Also erstens einmal, daß er nicht geraucht hat. Das hab ich an seinem Atem gerochen, wie ich mich über ihn gebeugt hab, um ihm das angetrocknete Klopapier von dem Schnitt am Kinn abzuziehen. Ich hab auch nie geraucht, bis ich gesehen hab, daß irgend so ein gottverdammter Gesundheits- oder Krankheitsminister was darüber abgesondert hat, daß Typen, die rauchen, die Typen umbringen, die nicht rauchen. Die sind doch tatsächlich dabei, ihren gottverdammten radioaktiven Atommüll Backwater vor die Haustür zu kippen, und diesem Ausschuß ist es verdammt noch mal nicht zu blöd zu behaupten, daß das nicht ›Ihre Gesundheit gefährdet‹, ja? Aber meine gottverdammte Zigarette bringt angeblich die halbe Menschheit um! Sie müssen wissen, daß ich, damit wenigstens eine gegen diesen Schwachsinn protestiert, zu rauchen angefangen habe. Es war mir allerdings so widerlich, wie ich da aus dem Mund gerochen hab, daß ich es nach ein paar Tagen wieder gelassen hab, aber nicht ohne vorher diesem Gesundheits- oder Krankheitsminister mit der Hand einen geharnischten Brief zu schreiben, von wegen dieser gottverdammten radioaktiven Atommüllkippe und den Vogelmördern, die bei Hochzeiten rohe Reiskörner streuen.
Gut, er hat mir nicht geantwortet. Na und? Wo war ich?
Yo! Ich war gerade am Erklären, was in meinem Gehirn vorgegangen ist, als ich L. Falk gefragt habe, ob er mit mir, ähem, zu dieser Party gehen will. Es stimmt ja, was immer wieder gesagt wird, daß Safer Sex praktisch dasselbe ist wie null Sex, oder? Ich mein, ich danke Gott für den Zauberstab von Hitachi. Das letzte Mal, daß ich beinah gebumst worden wäre, ist jetzt sieben, in Worten sieben gottverdammte Wochen her; damals hab ich einen meiner ehernen guten Neujahrsvorsätze gebrochen und mein eigenes Gras geraucht, statt es zu verkaufen. Das Ende vom Lied war, daß ich mit dem aus Polen stammenden Tackle aus der Football-Mannschaft von Backwater ins Bett gestiegen bin. Die Unterhaltung ist immer öder und langweiliger geworden. »Nein, erst das Kondom«, hab ich zu ihm gesagt, wie’s im Kessel zu brodeln anfing. Jede Bewegung kommt schlagartig zum Stillstand. »Was denn für ein Kondom?« fragt der Tackle mit Panik in der Stimme. Ich mach keine Umschweife. »Hey, ich kenn dich doch kaum, Zbig«, sag ich. »Ich kann noch nicht mal deinen Nachnamen aussprechen. Du erwartest doch nicht, daß ich da ohne ein gottverdammtes Kondom mit dir bumse.« Er war richtig rührend. »Ich bin kein Fixer«, hat er gesagt. »Und ich fick keine Knaben«, hat er gesagt.
Ich fick keine Knaben! Schon ein Witz, oder? Daß man einem erwachsenen Tackle Aufklärungsunterricht erteilen muß. Ich bin also von ihm runter und hab ihm die gottverdammten Leviten gelesen. »Du weißt doch: Das nächste Mädchen, das du vögelst, könnte mit Jungen gebumst haben, die mit Jungen bumsen. Komm schon, Zbig, du wirst doch einen kümmerlichen Überzieher für einen Regentag eingesteckt haben.«
Mein gottverdammtes Pech, er hatte keinen. »Du könntest mir ja wenigstens einen blasen«, hat er gesagt, als ob oraler Sex dasselbe wie Safer Sex war. Nicht, daß ich das einem Typen normalerweise abschlagen würde, wenn er höflich fragt. Ich meine, wenn schon, denn schon. Überhaupt, ein Flötensolo unter guten Freunden, was ist das schon groß? Was ich nicht leiden kann, wo ich überhaupt nicht drauf steh, ist, wenn sie dir deinen gottverdammten Kopf Richtung Süden drücken und schon zu stöhnen anfangen, eh du auch nur dort ankommst, um dir zu zeigen, wie tierisch sie der bloße Gedanke daran aufgeilt.
Sie müssen wissen, daß es mich anmacht, Typen aufzugeilen. Mein Exmann, der Vogelkiller, hat mir mal gesagt, ich war eine Fellatrix. Ich hab’s im Random-House-Wörterbuch in der Bibliothek nachschlagen wollen, aber Fehlanzeige. Es steht nicht drin. Aber man müßte schon ein Spatzenhirn haben, um sich nicht zusammenreimen zu können, was eine Fellatrix ist, und ich mußte ihm zustimmen. Meinem Exmann. Daß ich eine bin. Ich sterbe für das, was man in feinen Kreisen oralen Sex nennt. Ich lutsche gern. Ich begreif nicht, wieso das nicht mehr Frauen öfter machen. Weil, gibt’s denn was Natürlicheres, als zu spüren, wie er im Mund hart wird? Zu spüren, wie die Dinge ihren Lauf nehmen. Der Einfluß, den man da hat!
Ich will damit wohl nur sagen, daß Blasen und Bumsen verdammt aufregende Aktivitäten sind. Ich hab mein erstes Flötensolo absolviert, als ich dreizehneinhalb war, und damit Sie sehen, wie wichtig mir das ist: Ich weiß immer noch, mit wem und wo. Es war ein pickliger Basketballspieler, in den ich verknallt war, Bobby Moran hat er geheißen, er war ein Cousin ersten Grades von mir, aber das ist eine andere Geschichte; Schauplatz der verruchten Tat war der Filmvorführraum an der Rückseite des Auditoriums für die unteren Klassen, oben über den hintersten Bänken. Mein Gott, das ist jetzt schon zehn Jahre her! Wenn ich dran denke, wie die Zeit verfliegt – und Sie müssen wissen, daß ich in den dazwischenliegenden Jahren wirklich fleißig geblasen habe und trotzdem überhaupt nicht blasiert bin. Für mich verlieren Blasen und Bumsen nie ihr Mysterium, diese absolut aufregende Mischung aus Lust, die man gibt, und Lust, die man dadurch empfindet, daß man Lust gibt.
Was ja der Grund dafür ist, daß wir unser Leben lang die Beine breit- und den Mund aufmachen für das Originellste, was Männer je zustande bringen: einen gottverdammten Ständer. Sachen gibt’s.
Womit ich wieder bei L. Falk und der Verbindungsparty wäre. Ich geh nicht automatisch davon aus, daß wir im Bett landen, immerhin ist er ja doppelt so alt wie ich und kann einen G-Punkt nicht von einem Loch in der Wand unterscheiden. Aber man muß natürlich bei jedem Date einkalkulieren, daß es auf Sex rausläuft – warum sollte man sonst überhaupt auf Verbindungspartys gehen, oder? Ich mein, warum geben sich die Typen so gottverdammt viel Mühe, einen zu überzeugen, daß sie nicht gewalttätig sind? Ich sag Ihnen, warum – weil sie einen zum Mitmachen bei einem im Grunde genommen doch ziemlich gewalttätigen Akt überreden wollen, darum. Wenn sie glaubwürdig sind, mach ich mit. Oder hab zumindest immer mitgemacht, bis diese gottverdammte Pest zugeschlagen hat. Und hier kommt L. Falk wieder ins Spiel. Ich müßte lügen, wenn ich nicht zugeben wollte, daß ich dran dachte – und immer noch dran denke –, er könnte die Erhörung meiner Gebete sein.
Wie immer in solchen Fällen gibt’s auch hier eine Plusund eine Minusseite. Auf der Minusseite muß man sich drüber klarwerden, daß der Typ ein Kaputtnik ist. abgebaggert, ausgebrannt, jenseits von Gut und Böse, hoch in den Vierzigern. Der ist so himmelweit weg von dem, was ich mir unter einem super Lover vorstelle, also weiter geht’s gar nicht. Auf der Plusseite steht, daß er gar kein guter Lover sein braucht, weil ich gut genug bin für zwei. Außerdem ist er eindeutig nicht gewalttätig, was einem Mädel das Mitmachen erleichtert. Sogar daß er nicht in der Lage ist, den Finger auf den G-Punkt zu legen, könnte man als Pluspunkt werten – die Erkundung unbekannter Gewässer kann dem Rudergänger genausoviel Spaß machen wie dem Kapitän, stimmt’s? Aber mit Abstand das dickste Plus in seinem Köcher ist, daß L. Falk aus Rußland kommt, wo es (ich kenn mich aus, ich hab den Backwater Sentinel abonniert) nicht nur praktisch kein Fleisch und kein Brot, sondern auch praktisch kein AIDS gibt.
Hey, Safer Sex ist vielleicht nicht Sex vom Feinsten, aber es war immerhin Sex, oder?
Und last but not least interessiert er mich wegen der Geschichte mit den Serienmorden, die mir zufällig vorkommen, auch wenn unser Homo chaoticus, der Chaosprofessor L. Falk, meint, zufällig gibt’s nicht. Sehen Sie’s mal von meinem Standpunkt aus: Wenn die Morde nicht zufällig wären, wenn also jemand zum Beispiel nur stotternde Blondinen umbrächte oder linkshändige Lesbierinnen oder frivole Friseusen, die sich mit Thailand-Trüffeln was dazuverdienen, dann wüßte ich wenigstens, woran ich bin. Ich wüßte, ob ich ein potentielles Opfer bin oder nicht, stimmt’s? Ich will damit sagen, weil die Morde zufällig sind, könnte ich ein faktisches Opfer werden, ohne auch nur gewußt zu haben, daß ich ein potentielles Opfer war. Zufallsmorde sind die schlimmsten – man weiß nie, ob man nicht die nächste ist.
Und weil ich nicht weiß, ob ich vielleicht die nächste bin, hab ich keinen Bock drauf, allein zu Hause zu hocken. Deswegen hab ich beschlossen, heute abend zu der Party zu gehen. Und deswegen macht’s mir nichts aus, wenn jemand, der den G-Punkt nicht kennt, mich begleitet. Zu der Party. Und hinterher nach Hause. Klar? Klar.
Oliven mampfend, Martinis schlürfend, fachsimpelnd oder über die Börse und das Wetter redend, umkreisen die fünfzehn festangestellten Wissenschaftler zusammen mit dem Dutzend Gastdozenten und der Handvoll Fellows am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung die Tische im Speisesaal des Instituts, die die Form von zwei runden Klammern haben, und suchen nach ihren Namen auf den von Hand beschriebenen Tischkarten. Als sie ihre Plätze eingenommen haben, fangen Studentinnen mit adretten weißen Schürzchen an, aus Karaffen Wein einzuschenken. Der Direktor, J. Alfred Goodacre, packt Lemuel am Ellbogen und bugsiert ihn ans obere Ende der einen Klammer.
»Gratuliere zu dem Haarschnitt«, flüstert er ihm zu. »Sie hat schon was auf dem Kasten, unser Tender.«
Lemuel ist verwirrt. »Auf welchem Kasten hat sie was?« erkundigt er sich, aber der Direktor schüttelt gerade einem Gastprofessor aus Deutschland die Hand und überhört die Frage.
Weiter unten am Tisch ist Matilda Birtwhistle ins Gespräch mit ihrem Nachbarn Charlie Atwater vertieft. »Früher wurde bei Institutsessen der Wein nie dekantiert«, bemerkt sie.
»Die dekantieren ihn«, mutmaßt Atwater und nippt an seinem vierten Martini, »damit wir nicht merken, was für einen billigen Sauerampfer sie uns vorsetzen.« Er schnuppert an dem Wein in seinem Glas und verdreht angewidert die Augen.
Matilda Birtwhistle muß lachen. »Ach, hören Sie auf, Charlie.«
»Sie denken, ich übertreibe?« Atwater nimmt einen Schluck von dem Wein, spült sich damit den Mund aus, als ob er gurgeln wollte, und schluckt ihn dann runter. Die Augen fallen ihm fast aus dem Kopf. »Oh, mein Gott! Das ist Chateau Migrainel«
Rebbe Nachman, der Matilda Birtwhistle gegenübersitzt und sein Weinglas am Stiel hält, schwenkt die Flüssigkeit behutsam im Glas und sieht dann zu, wie sie an den Seiten herabrinnt. »Wenn Sie ein unabhängiges Gutachten brauchen«, ruft er quer über den Tisch. »Mis en bouteille, wie wir auf jiddisch sagen, im Keller des E-Z Mart an der Main Street. Und anschließend st ihm der Transport nicht bekommen.« Er grinst schief, ruft »Bolschoi lechaim« und genehmigt sich einen kräftigen Schluck.
Später, als die Studentinnen die Dessertteller abräumen und Kaffee und Pfefferminzplätzchen servieren – erhebt sich der Direktor und schlägt mit einem Löffel an sein Glas. »Meine Herren, meine Damen.« Die Gäste unterhalten sich so angeregt, daß sie nicht merken, daß der Direktor Aufmerksamkeit heischt. »Eingangs« – Goodacre hebt die Stimme – »möchte ich Sie alle herzlich willkommen heißen bei unserem Institutsessen.« Die Gäste verstummen nach und nach.
»Lassen schie mich schagen«, flüstert Charlie Atwater, den Direktor nachäffend, seiner Tischnachbarin zu, »wie beeindruckt isch bin, so viele exzellente Forscher auf dem Gebiet der Chaoschtheorie in einem Raum verschammelt zu schehen.«
»Lassen Sie mich sagen«, fährt Goodacre fort, »wie beeindruckt ich bin, so viele exzellente Forscher auf dem Gebiet der Chaostheorie in einem Raum versammelt zu sehen.« Matilda Birtwhistle kichert anerkennend. »Albert Einstein hat einmal gesagt«, spricht der Direktor weiter, »das Unbegreiflichste am Universum sei, daß es begreifbar ist. Es ist mir ein großes Vergnügen, in den Reihen des Instituts einen Mann begrüßen zu dürfen, der mehr als sein Teil dazu beigetragen hat, dieses Universum begreifbar zu machen. Ich brauche ihn nicht vorzustellen. Sie alle sind mit seinen Arbeiten über Entropie ebenso vertraut wie mit seiner Suche nach absoluter Zufälligkeit in der Dezimalentwicklung von Pi. Viele von uns sind der Meinung, wenn es einen Nobelpreis für Mathematik gäbe, hätte er ihn inzwischen gewiß erhalten, und zwar dafür, daß er die Grenzen der Zufälligkeit weit hinausgeschoben hat. Lassen Sie uns gemeinsam unseren Gastprofessor aus Sankt Petersburg begrüßen. Meine Damen, meine Herren: Lemuel Falk.«
Die festangestellten Wissenschaftler, Gastdozenten und Fellows applaudieren stehend. Lemuel, den Kopf gesenkt, die Wangen gerötet, starrt auf seinen Aktenkoffer hinunter, der an einem Bein seines Stuhls lehnt. Alte Gewohnheiten sind zählebig. Am Steklow-Institut für Mathematik waren Institutsessen, vor allem solche mit Gästen aus dem Ausland, gute Gelegenheiten, Zwiebelbrötchen, Kaviar in Dosen und Halbliterflaschen polnischen Wodkas zu stehlen. Lemuel hat alle Hoffnung fahrenlassen, sich eine der Weinkaraffen aneignen zu können, weil die bestimmt vor und nach dem Essen gezählt werden. Aber sein Sinnen und Trachten ist daraufgerichtet, das übriggebliebene Sesambrötchen von dem Teller vor ihm in seinen Aktenkoffer umzubetten.
Aber wie soll er das anstellen, wenn aller Augen auf ihn gerichtet sind?
Der Applaus verebbt. Die Gäste lassen sich wieder auf ihren Stühlen nieder. Am oberen Ende der Klammer gibt sich Lemuel einen Ruck und kommt auf die Füße. Er rückt seine Brille zurecht, läßt den Blick über die dreiteiligen Anzüge, die Sportsakkos mit Wildlederflecken an den Ellbogen, die Kugelbäuche, die Bifokalbrillen, die Halb- und Vollglatzen und die Daumen schweifen, die Tabak in Pfeifenköpfen festdrücken. Er nickt mehreren Professoren des Instituts zu, die er von internationalen Symposien kennt. Er sieht, daß Rebbe Nachman ihm aufmunternd zulächelt.
»Ich kann zu Ihnen sagen.« hebt Lemuel an.
»Geht’s bitte etwas lauter, Professor?« ruft jemand vom anderen Ende der Tafel.
Lemuel räuspert sich. »Ich kann zu Ihnen sagen, auch wenn Sie es vielleicht nicht hören wollen«, setzt er mit kräftigerer Stimme erneut an, »daß ich mit mehr Fragen als Antworten versehen nach Backwater gekommen bin. Ich will Sie nicht mit den leichteren langweilen: Wie kann man sein Herz auf dem Ärmel tragen? Was kann eine Friseuse auf welchem Kasten haben? Was bedeutet ›Nonstops to the most Florida cities‹ wirklich? Wer bestimmt in Amerika, welche Seite oben ist? Ich möchte Ihnen nicht einmal mit der kniffligen Frage die Zeit stehlen, die Rebbe Nachman mir gestern abend gestellt hat, nämlich, wenn Gott den Menschen wirklich liebte, warum hat Er ihn dann erschaffen? Vielmehr werde ich mit Ihrer Erlaubnis gleich zu der Frage kommen, die mir Nacht für Nacht den Schlaf raubt.«
Lemuel überzeugt sich mit einem Blick auf den Teller, daß das Sesambrötchen noch da ist, und schaut dann wieder sein Publikum an. »Was ist das Chaos? Es ist schon oft definiert worden: als Ordnung ohne Periodizität, zum Beispiel; als scheinbar zufälliges wiederkehrendes Verhalten in deterministischen Systemen wie Meereswellen und Temperaturen, Börsenkursen, dem Wetter, der Fischpopulation in Teichen, dem Tropfen eines Wasserhahns. Ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß diese Definitionen nicht stichhaltig sind, ich möchte Ihnen eine andere Weise vorschlagen, das Chaos zu betrachten, nämlich diese: daß Systeme, die zu komplex für die klassische Mathematik sind, einfachen Gesetzen gehorchen. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben. Mit dem Rüstzeug der klassischen Mathematik können wir mehr oder weniger die langfristige Bewegung der rund fünfzig Himmelskörper im Sonnensystem berechnen. Aber der Versuch, die kurzfristige Bewegung der etwa hundert Billionen Teilchen in einem Milligramm Gas zu berechnen, übersteigt die Möglichkeiten des leistungsfähigsten Computers, um nicht zu sagen des brillantesten Programmierers. Dennoch können wir viel über die Bewegung der Gasteilchen in Erfahrung bringen, wenn wir begreifen, daß die unglaublich komplexe Welt in diesem Milligramm Gas einfachen Gesetzen gehorcht.«
Lemuels Mund ist auf einmal knochentrocken. Er trinkt einen Schluck Wasser. Als er wieder aufschaut, sieht er, daß die Gäste sich gespannt vorbeugen und an seinen Lippen hängen. Ermuntert redet er weiter. »Die Wissenschaft vom Chaos kann demzufolge als der Versuch gesehen werden, das Wesen der Komplexität zu begreifen. Meiner Ansicht nach sind die herkömmlichen Naturwissenschaften, also Physik, Chemie, Biologie und so weiter, zu Tendern geworden – zu Anhängern mit Brennstoff für die große Lokomotive, die wir als die Wissenschaft vom Chaos bezeichnen.« Ein Kichern geht durch seine Zuhörerschaft – jeder der Gäste war zu dieser oder jener Zeit schon einmal in Rains Tender. »Die einzige wahrhaft originelle und in manchen Fällen sogar brillante Arbeit wird heute von Chaostheoretikern geleistet, die gerade den Beweis dafür erbringen, daß komplexe Systeme einfachen Gesetzen gehorchen und sich dabei scheinbar unberechenbar verhalten. Was uns zu der Schlußfolgerung berechtigt« – Lemuel spricht jetzt sehr langsam, wählt die Worte mit Bedacht –, »daß deterministisches Chaos in den meisten Fällen die Erklärung für Zufälligkeit ist. Aber. ist es auch die Erklärung für jede Art von Zufälligkeit?«
Mehrere seiner Zuhörer stecken aufgeregt die Köpfe zusammen. »Was will er uns damit sagen?« begehrt der Gastprofessor aus Deutschland zu wissen.
»Er stellt die Theorie auf, daß das Chaos die zweite Geige nach der Zufälligkeit spielen sollte«, grollt sein Nachbar, ein Astrophysiker, bei dem es sich um eine Leihgabe des Massachusetts Institute of Technology handelt. Mehrere andere, die in Hörweite sitzen, nicken zustimmend.
Lemuel sieht den Rebbe direkt an. »Verzeihen Sie mir, Rebbe, wenn ich Ihnen sage, daß meine Frage für unser Verständnis vom Universum und von unserem Platz darin entscheidender ist als die, die Sie gestern abend aufgeworfen haben. Lassen Sie mich meine Frage anders formulieren. Wenn wir die scheinbare Zufälligkeit Schicht für Schicht abschälen, gelangen wir an eine Endstation, als die sich bis jetzt das Chaos erwiesen hat. Aber die eigentliche Suche beginnt erst. Liegt es nicht im Bereich des Möglichen, daß diese Endstation, das Chaos, in Wahrheit nur eine Zwischenstation ist? Und liegt es nicht gleichermaßen im Bereich des Möglichen, daß die wahre Endstation, der theoretische Horizont jenseits dessen es keinen weiteren Horizont gibt, die reine, unverfälschte, nichtchaotische Zufälligkeit ist?«
Ein ungehaltenes Brummen erfüllt den Raum. »Sie sind im Grunde gar kein Chaostheoretiker«, ruft Sebastian Skarr ihm zu. »Sie sind ein Zufallsforscher, der das Chaos für seine Zwecke mißbraucht.«
Der Rebbe stimmt ihm widerstrebend zu. »Im tiefsten Innern, das haben Sie gestern abend selbst zugegeben, lieben Sie das Chaos nicht.«
»Das Chaos ist nicht Gott«, verteidigt sich Lemuel. »Und auf jeden Fall bin ich ein Zufallsforscher, der ungewollt ins Chaos geraten ist.«
»Sie bekennen, ein Chaostheoretiker wider Willen zu sein«, schimpft der deutsche Professor. »Könnte es sein, daß Sie aus Versehen ans falsche Institut geraten sind?«
Der Rebbe wirft die Arme hoch. »Reine, unverfälschte Zufälligkeit gibt es nicht. Sie jagen einem Phantom nach.«
Lemuel ist bestürzt über den Sturm, den er entfacht hat. »Meine Sichtweise der reinen Zufälligkeit«, verteidigt er sich, »ist chaosbezogen.«
Matilda Birtwhistle hebt den Finger. »Gestatten Sie eine Frage, Professor?«
»Das führt ins Uferlose«, verkündet der Direktor. »Wir sind hier nicht in einer Arbeitssitzung.«
»Die Chaotiker werden chaotisch«, bemerkt Charlie Atwater süffisant.
»Bitte sehr«, sagt Lemuel zu Matilda Birtwhistle.
»Sie vertreten bekanntlich die These, daß jede Zufälligkeit eine Pseudo-Zufälligkeit und diese Pseudo-Zufälligkeit ein Fußabdruck des Chaos sei.«
»Bis jetzt hat sich das leider immer bewahrheitet«, stimmt Lemuel zu.
»Wenn ich Sie richtig verstehe«, fährt Birtwhistle fort, »wollen Sie damit sagen, das Chaos könne sich eines Tages als ein Fußabdruck der Zufälligkeit erweisen.«
»Reiner, unverfälschter Zufälligkeit«, korrigiert Lemuel.
»Reiner, unverfälschter Zufälligkeit, gewiß. Aber falls sich das als zutreffend herausstellt, wie geht’s dann weiter? Womöglich ist die reine, unverfälschte Zufälligkeit, die nach dem Chaos kommt, ihrerseits auch bloß der Fußabdruck von etwas anderem. »
»Vielleicht ein Fußabdruck desch reinen, unverfälschten Chaosch«, wirft Charlie Atwater ein.
Der Gastprofessor aus Deutschland schiebt angewidert seinen Stuhl zurück. »Wenn Sie mich fragen: Er sucht also die reine Zufälligkeit? Meinetwegen, warum nicht? Jeder hat sein Steckenpferd. Aber was er gefunden hat, ist die reine Lächerlichkeit.«
Nervöses Gelächter kommt auf, ebbt aber gleich wieder ab. Alle schauen erwartungsvoll zu dem Redner am oberen Ende der Klammer hin.
Lemuel sammelt seine Gedanken. »Als das Molekül entdeckt wurde, war es in gewissem Sinne ein Fußabruck des Atoms. Das Atom erwies sich dann unter anderem als Fußabdruck eines Kerns, der Atomkern als Fußabdruck von Protonen und Neutronen, und diese halten wir heute für Fußabdrücke von Mesonen und Quarks. Aber wovon sind Quarks der Fußabdruck? Wer könnte behaupten, sie seien nicht der Fußabdruck von etwas, was noch tiefer im Inneren versteckt liegt?«
»Matilda hat recht«, ruft Sebastian Skarr. »Wenn das, was Sie sagen, stimmt, wird die Reise nie zu Ende sein. Es gibt keine Endstation.«
»Wir sind keine Chaostheoretiker«, klärt Matilda Birtwhistle ihre Kollegen auf, »sondern vielmehr Raumfahrer, die dazu verurteilt sind, bis in alle Ewigkeit ein unendliches Universum zu erkunden.«
Lemuel zuckt die Achseln. »Wir werden an eine Endstation kommen, wenn wir auch nur ein einziges Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit finden. In diesem Augenblick werden wir wissen, daß nicht alles unter der Sonne vorherbestimmt ist, daß der Mensch Herr seines Geschickes ist.«
»Und wenn es so etwas wie reine, unverfälschte Zufälligkeit nicht gibt?« entgegnet Matilda Birtwhistle. »Was dann?« Lemuel, der plötzlich erschöpft ist, murmelt: »Ihr alle seid Stockfische.«
»Lauter, bitte, Professor«, ruft jemand. Charlie Atwater rülpst in die vorgehaltene Faust. »Dasch ischt allesch scher deprimierend«, stöhnt er. »Ich brauche unbedingt wasch tschu trinken.«
Lange Zeit schauen die Gäste in ihre Kaffeetassen. Lemuels Kopf fährt mehrmals unsicher in die Höhe. Er schaut zum Direktor hin, der offenbar Zwiesprache mit sich selbst hält; dann läßt er sich so ungeschickt auf seinen Stuhl zurücksinken, daß er den Teller mit dem Sesambrötchen herunterwirft. Er bückt sich tief hinab, steckt das Brötchen in seinen Aktenkoffer und kommt mit dem leeren Teller wieder hoch.
Eine Studentin mit einem Tablett Pfefferminzplätzchen geht hinter ihm vorbei. Sie legt ihm eines auf seine Untertasse.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagt Lemuel. Das Mädchen lächelt gewinnend. »War mir ein Vergnügen«, erwidert sie kichernd.
»Wenigstens eine, die hier vergnügt ist.« Während er zusieht, wie seine Kollegen vom Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung ihre Stühle zurückschieben und sich allmählich von der Tisch-Klammer entfernen, fragt sich Lemuel, ob diese Vorstellung von einem endlosen Zyklus von Zufälligkeit und Chaos nicht bloß wieder einer seiner angenehmen Wachträume ist, etwas, was einen Teil von ihm zufriedenstellt, zu dem er noch nicht vorgedrungen ist.
Niedergeschlagen geht er hinaus und stößt beinah mit dem Rebbe zusammen. »Was habe ich falsch gemacht?« fragt er ihn. »Und was soll ich jetzt tun?«
Rebbe Nachman tanzt auf dem Eis, damit seine Zehen nicht taub werden. »Ein klugscheißender Goi hat einmal gelobt, sich zum Judentum zu bekehren, falls es dem berühmten Rebbe Hillel gelinge, ihm die ganze Thora in der Zeit auszulegen, die er, der Goi, auf einem Bein stehen könne. Rebbe Hillel war einverstanden, der Goi stellte sich auf ein Bein, und Rebbe Hillel sagte zu ihm: »Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das ist die ganze Thora, der Rest ist Kommentar. Gehe hin und studiere.««
Rebbe Nachmans Lächeln wirkt noch schiefer als sonst. »Ich glaube nicht, daß Sie jemals Zufälligkeit entdecken werden, ich meine reine, unverfälschte Zufälligkeit, und zwar aus dem simplen Grund, daß es sie nicht gibt. Andererseits: Sie werden Sie bestimmt nicht finden, wenn Sie nicht danach suchen. Gehe hin und studiere.«