Jüngere Semester driften mit der Ziellosigkeit von Trümmern, die nach einem Schiffbruch an Land getrieben werden, in den Hörsaal. Sie lassen sich müde auf die Stühle sinken, strecken die Gliedmaßen in alle Himmelsrichtungen und sitzen da mit glasigen Augen und scheinbar zu ewigem Gähnen geöffneten Mündern. Der Minutenzeiger der großen Wanduhr springt mit lautem Klicken auf zwei Minuten vor der vollen Stunde. Es ist die elfte Stunde vormittags.
»Meine Zensuren bilden eine Kurve«, erklärt Miss Bellwether Lemuel an der Tafel. Sie weist auf die Studenten, die verstreut in dem ansteigenden Hörsaal sitzen. »Nehmen Sie zum Beispiel diesen Kurs, der als Einführung in die Chaostheorie« im Vorlesungsverzeichnis steht. Von den achtzehn Studenten bekommen bei mir zwei ein A, zehn ein B und sechs ein C.«
»Und Sie vergeben kein D und kein F?« erkundigt sich Lemuel.
Miss Bellwether kichert. »Sie müßten schon sehr gute Gründe haben, um einen Studenten durchfallen zu lassen. Wie unser für die Zulassung zuständiger Dekan gerne sagt, sollte man nie vergessen, von wem man sein Gehalt bekommt.« Sie nickt zu den Studenten hin, von denen mehrere fest zu schlafen scheinen. »Wollten wir jeden durchfallen lassen, der einmal in der Vorlesung einnickt, gäbe es keine Studenten mehr in Backwater. Wir würden vor leeren Bankreihen dozieren. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen in Rußland war, Mr. Falk, aber unsere Studenten kommen ans College, um auf Partys zu gehen, Hasch zu rauchen und, verzeihen Sie den Ausdruck, herumzuvögeln. Es ist schon schlimm genug, daß wir diese Orgie immer wieder mit Lehrveranstaltungen unterbrechen. Wir sollten nicht übermütig werden und auch noch darauf bestehen, daß sie dabei wach bleiben.«
Lemuel schaut in die Runde und murmelt: »In Amerika der Schönen ist die Bildung chaosbezogen.«
»Das können Sie laut sagen.«
Miss Bellwether schaut ihren Gastdozenten mißtrauisch an. Der Minutenzeiger springt auf die Zwölf. Sie schlendert zur Tür, läßt drei weitere Studenten ein und schließt die Tür wieder. Sie kehrt aufs Podium zurück und zieht ihre winzige Armbanduhr auf, während sie Köpfe zählt. »Du lieber Himmel, dreizehn von insgesamt achtzehn, kein schlechter Schnitt für den Morgen nach dem Frühlingsfest. Ist es der Ruhm des Gastdozenten, der Sie Schlag neun aus dem Bett holt, oder die Tatsache, daß ich in dem Ruf stehe, jedem Marsmenschen, der regelmäßig seinen warmen Körper in die Vorlesung schleppt, mindestens ein C zu geben? Egal. Hier ist, direkt aus St. Petersburg in Rußland, Lemuel Falk, derzeit Gastprofessor an unserem Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung. Mr. Falk ist Experte von Weltrang auf dem Gebiet der reinen Zufälligkeit, von der wir letzte Woche gesprochen haben, wie sich diejenigen von Ihnen, die wach waren, vielleicht erinnern. Heute wird Mr. Falk über die transzendente Zahl Pi und ihre Beziehung zur reinen Zufälligkeit sprechen. Bitte sehr, Mr. Falk.«
Lemuel steckt die Hände tief in die Taschen der Cordhosen, die Rain in einem Secondhand-Shop in Hornell für ihn erstanden hat.
»Yo.«
Zwei der in der letzten Reihe schlafenden Jungen strecken die Beine in eine andere Richtung. Die Mädchen in der ersten Reihe wechseln Blicke. Noch nie hat jemand eine Gastvorlesung mit »Yo« begonnen.
»Also über Pi läßt sich allerhand sagen. Pi bezeichnet das Verhältnis zwischen dem Umfang und dem Durchmesser eines Kreises. Jedes Kreises. Jedes beliebigen. Eines Nadelstichs. Oder der Sonne. Oder der Umlaufbahn eines Raumschiffs. Man teilt den Umfang eines Kreises durch den Durchmesser und erhält Pi, das ungefähr drei Komma eins vier beträgt.«
In der zweiten Reihe fällt einem Studenten das Kinn auf die Brust.
»Drei Komma eins vier«, wiederholt Lemuel. »Diejenigen von Ihnen, die nicht gerade ihren wohlverdienten Schlaf nachholen, erinnern sich vielleicht, daß Miss Bellwether Pi als transzendente Zahl bezeichnet hat. Pi ist eine transzendente Zahl in dem Sinne, daß sie unser Vermögen, sie genau zu bestimmen, übersteigt; wenn Sie sich vornehmen, die Dezimalstellen von Pi zu berechnen, dann werden Sie, auch wenn Ihre Handschrift noch so klein ist, das Blatt Papier mit Zahlen vollschreiben. Mehr noch, Sie können alles Papier der Welt vollschreiben und werden trotzdem Pi noch nicht einmal angekratzt haben. Das liegt daran, daß die Dezimalerweiterung von Pi unendlich lang ist. Ich kann zu Ihnen sagen, daß die Unendlichkeit so etwas ist wie der Horizont, den man von einem Schiff aus sieht – man kann noch so lange auf ihn zufahren, er bleibt immer außer Reichweite. Der Versuch, Pi zu berechnen« – Lemuel stößt plötzlich auf einen Aspekt des Problems, der ihm noch nie aufgefallen ist –, »ist eine Reise, bei der man nie ankommt.«
In der zweiten Reihe sitzt ein gutaussehender, dunkelhäutiger Student mit Hakennase und pechschwarzem Haar über sein Heft gebeugt und schreibt so schnell mit, wie Lemuel spricht. Er schaut auf, als Lemuel innehält. Ihre Blicke treffen sich. Der Junge nickt Lemuel zu, wie um ihn zum Weitersprechen zu ermuntern.
»Wo war ich?«
»Sir, Sie sagten, die Berechnung von Pi sei eine Reise, bei der man nie ankommt«, assistiert der dunkelhäutige Student.
»Yo. Jedesmal, wenn Sie eine neue Dezimalstelle hinzufügen, erhöhen Sie die Genauigkeit um das Zehnfache. So nähert sich also 3,141592 – Pi auf sechs Dezimalstellen berechnet – dem wahren Wert von Pi mit zehnmal höherer Genauigkeit als Pi auf fünf Dezimalstellen berechnet.«
Eine der Studentinnen in der ersten Reihe steckt einer anderen, die hinter ihr sitzt, einen Zettel zu. Die liest ihn und fängt zu kichern an. Miss Bellwether wirft ihr einen strafenden Blick zu, und sie reißt sich zusammen.
»Fünf Stellen. Der erste, der sich mit der Untersuchung von Pi befaßte, obwohl er es noch nicht so nannte, war ein ägyptischer Mathematiker, der vor rund 3650 Jahren ein noch sehr ungenaues Pi benutzte, um eine Kreisfläche zu berechnen. Im vorigen Jahrhundert berechneten Mathematiker Pi auf zwei Stellen genau: drei Komma eins vier. Mit der Erfindung des digitalen Elektronenrechners nach dem, was Sie im Westen als den Zweiten Weltkrieg bezeichnen, konnten Mathematiker Pi auf zweitausend Dezimalstellen berechnen. Damals erschien das schon als gewaltige Leistung. Mit Hilfe der neuesten Generation parallel arbeitender Supercomputer habe ich selbst Pi auf mehr als drei Milliarden Dezimalstellen berechnet.«
Der dunkelhäutige Student in der zweiten Reihe hebt den Bleistift, mit dem Radiergummi nach oben.
»Sir?«
»Yo.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Sir, warum sich die Mühe machen, so viele Stellen zu berechnen, wenn doch ganze siebenundvierzig Stellen schon ausreichen, um die Bahn eines Raumschiffs mit beinahe perfekter Genauigkeit zu bestimmen – allenfalls plusminus des Durchmessers eines Protons?«
»Izzat Afshar«, informiert Miss Bellwether, die an der Wand lehnt, Lemuel in sachlichem Tonfall, »ist Austauschstudent aus Syrien. Im Gegensatz zu manchen unserer eigenen hausbackenen Studenten gelingt es ihm nicht nur, in der Vorlesung wachzubleiben, sondern er macht sogar Hausaufgaben.«
»Das ist eine absolut faszinierende Frage«, sagt Lemuel zu Izzat.
»Sir, ich warte gespannt auf Ihre Antwort.«
Die Augen eines Studenten, der in der letzten Reihe vor sich hindöst, öffnen sich flatternd. »Izzat ist ein amtlich beglaubigter Schwachkopf«, sagt er laut. Das Mädchen in der zweiten Reihe kichert erneut.
»Hey, bitte unterlassen Sie das«, weist Lemuel den Studenten in der hintersten Reihe zurecht. Er starrt ihn an, bis er wegschaut und wieder einschläft. Lemuel wendet sich an Izzat. »Also, aufgepaßt. Die Berechnung von Pi auf drei Milliarden Stellen hat eine praktische Seite, mit der ich mich hier nicht befassen werde. Sie hat aber auch eine theoretische Seite, und mit der werde ich mich befassen. Die drei Milliarden dreihundertdreißig Millionen zweihundertsiebenundzwanzigtausend
siebenhundertdreiundfünfzig Dezimalstellen von Pi, die mir bekannt sind, bilden allem Anschein nach die zufälligste Zahlenreihe, die der Mensch je entdeckt hat. Ich für mein Teil vermute, daß man den Wert von Pi von heute bis zum Jüngsten Tag berechnen könnte, ohne in diesem Wahnsinnswurm Methode zu entdecken; ohne jemals an einen Punkt zu gelangen, wo man mit Sicherheit die nächstfolgende Ziffer vorhersagen könnte. Natürlich blitzt hier und da etwas auf, was ich als Zufallsordnung bezeichne, die, in der Theorie, ein Bestandteil reiner, unverfälschter Zufälligkeit ist; etwas, was wirklich zufällig ist, weist natürlich auch zufällige Wiederholungen auf. Das ist der Grund, weshalb so um die dreihundertmillionste Dezimalstelle acht aufeinanderfolgende Achten auftauchen. Und später zehn Sechsen. Und irgendwann nach den ersten fünfhundert Millionen stößt man auf die Zahlenfolge eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht neun.«
Der Bleistift schießt wieder hoch. »Sir, wollen Sie damit sagen, daß eine wahrhaft zufällige Reihe von Zahlen zwangsläufig zufällige Wiederholungen aufweisen muß?«
Lemuel verbeugt sich spöttisch. »Exakt.«
»Sir, wie erkennt man den Unterschied zwischen zufälligen Wiederholungen, die eine Zahlenfolge als wirklich zufällig ausweisen, und nichtzufälligen Wiederholungen, die darauf schließen lassen, daß eine Zahlenreihe keineswegs zufällig, sondern chaotisch ist?«
»Hey, Izzat, kannst du das am Flaggenmast hissen und noch mal davor salutieren?« witzelt einer der Jungen in der letzten Reihe.
»Abermals eine absolut faszinierende Frage«, räumt Lemuel ein. »Ich nehme an, Sie warten gespannt auf meine Antwort.«
»Ja, Sir.«
»Nichtzufällige Wiederholungen lassen, wenn ich sie durch ein von mir selbst entwickeltes Computerprogramm laufen lasse, etwas erkennen, was wir in der Chaosbranche als seltsamer Attraktor bezeichnen, und dabei handelt es sich um ein mathematisches Abbild der Ordnung, die wir im Innersten eines chaotischen Systems vermuten. Wenn man dagegen zufällige Wiederholungen mit demselben Programm analysiert, dann – Pfeifendeckel.«
»Wie bitte, Sir? Pfeifendeckel?«
»Pustekuchen. Nichts. Nada. Null. Niente. Nothing. Was wir als diskrete Aufforderung verstehen sollten, den Hut abzunehmen, Kerzen anzuzünden und im Flüsterton zu sprechen, weil wir uns möglicherweise im Dunstkreis reiner, unverfälschter Zufälligkeit befinden.«
»Sir, Sie sprechen von reiner, unverfälschter Zufälligkeit, als handle es sich dabei um eine Religion, als sei sie das Werk Gottes.«
»Reine, unverfälschte Zufälligkeit«, entgegnet ihm Lemuel – die Worte strömen aus einem unerforschten Brooklyn im tiefsten Inneren seines Herzens – »ist nicht das Werk Gottes. Sie ist Gott.«
Lemuels Augen leuchten vor Ergriffenheit. Also hatte der Rebbe doch recht. Zufälligkeit ist Sein Beiname.
»Scheiß Jahwe«, murmelt er.
»Sir?«
Nach der Vorlesung verstaut Izzat gemächlich seine Sachen in einem Kroko-Aktenkoffer und steht erst auf, als er mit Lemuel allein im Raum ist. Schüchtern nähert er sich dem Gastprofessor.
»Sir, wäre es wohl möglich, ein paar Worte unter vier Augen mit Ihnen zu wechseln?«
»Hey, habe ich Sie nicht in einer früheren Inkarnation auf der Delta-Delta-Phi-Party Hasch rauchen sehen?«
»Das ist durchaus denkbar, Sir.«
»Und wurden Sie nicht zu dreißig Dollar ersatzweise dreißig Tage Haft verurteilt, weil Sie gegen die Atommülldeponie demonstriert haben?«
»Sir, Sie sind offenkundig mit einem ausgezeichneten Gedächtnis für Gesichter gesegnet.«
Lemuel zuckt mit einer Schulter. »Also, was wollten Sie mich fragen?«
»Sir, darf ich fragen, wann Ihr Vertrag mit dem Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung ausläuft?«
»Fragen Sie. Fragen Sie. Das wollen alle wissen, also warum nicht auch Sie?«
»Sir, wann läuft Ihr Vertrag aus?«
»Wann endet das Semester?«
»Am einunddreißigsten Mai.«
»Und am einunddreißigsten Mai läuft auch mein Vertrag aus.«
»Sir, was werden Sie dann tun? In die Wohnung in St. Petersburg zurückkehren, die Sie mit zwei Ehepaaren teilen, die kurz vor der Scheidung stehen?«
Lemuel zieht die Hose und die Augenbrauen hoch. »Sie kennen offenbar Einzelheiten über mich, die nicht in meiner offiziellen Biographie im Hochglanz-Vorlesungsverzeichnis des Instituts stehen. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sir, mein Vater ist Minister des Inneren.«
»Ihr Vater ist Minister welches Inneren?«
»Der Arabischen Republik Syrien, Sir. Als ich ihm mitteilte, daß ich an Ihrer Gastvorlesung teilnehmen würde, schickte er mir ein dringendes verschlüsseltes Fax, in dem er mir die praktische Seite der Berechnung von Pi auf drei Milliarden Dezimalstellen erläuterte.«
»Ihr Vater, Minister des Inneren der Arabischen Republik Syrien, versteht etwas von der praktischen Seite der Berechnung der Dezimalstellen von Pi?«
»Sir, mein Vater hat am Massachusetts Institute of Technology Mathematik studiert. Er schrieb seine Magisterarbeit über allgemein Bekanntes und seine Dissertation über Spieltheorie. Das erklärt, warum er Chef des Verschlüsselungs- und Entschlüsselungsdienstes meines Landes geworden ist. Es erklärt außerdem, warum er eine genaue Vorstellung von Ihrem bemerkenswerten Beitrag zur Kunst der Kryptographie hat. Ich selbst habe nur eine verschwommene Vorstellung, Sir, denn die mathematischen Feinheiten übersteigen eindeutig mein Begriffsvermögen, aber mir scheint, Sie haben ein Computerprogramm entwickelt, das mit fast vollkommener Zufälligkeit in die drei Milliarden dreihundertdreißig Millionen
zweihundertsiebenundzwanzigtausend
siebenhundertdreiundfünfzig Dezimalstellen von Pi greift, um einen zufälligen dreistelligen Code zu extrahieren, der dann zur Verschlüsselung und Entschlüsselung geheimer Nachrichten dient.«
»Hey, mir scheint, Ihr Vater, der Minister des Inneren, ist durchaus auf dem laufenden.«
Izzat lächelt schüchtern. »Sir, mein Vater, der Minister des Inneren, ist bekannt dafür, daß er über vorzügliche Informationsquellen in den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion verfügt. Das erklärt, warum es ihm gelang, viele Ihrer Wissenschaftler-Kollegen zu verpflichten. Dank meinem Vater, dem Minister des Inneren, beschäftigt die Arabische Republik Syrien nun ehemalige sowjetische Raketentechniker, Triebwerksingenieure, Laser- und Telemetrieexperten, Kernphysiker. Ich könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen.«
»Ich brauche dieses Gespräch so dringend wie ein Loch im Kopf.«
Auf dem Gang erklingen melodische Gongtöne. »Sir, um in der unnachahmlichen Sprache meiner Verbindungsbrüder zu reden: Checken Sie’s. Mein Vater.«
»Der Minister des Inneren … »
». hat mich angewiesen, Ihnen politisches Asyl in der Arabischen Republik Syrien anzubieten.«
»Wenn ich politisches Asyl brauchte, wäre Syrien das letzte Land auf der Erde, in das ich gehen würde. Lachhaft! Politisches Asyl! In der Arabischen Republik Syrien!«
»Sir, Sie ziehen voreilige Schlüsse, ohne sich die Vorteile politischen Asyls in der Arabischen Republik Syrien zu vergegenwärtigen.«
»Nennen Sie mir einen einzigen Vorteil. Politischen Asyls. In der Arabischen Republik Syrien.«
»Vierundzwanzigstündiger Zugang zu einem Fujitsu-Supercomputer, um Ihrer Arbeit an der reinen, unverfälschten Zufälligkeit nachzugehen. Ein Nummernkonto in der Schweiz mit einem siebenstelligen Anfangsguthaben – mein Vater, der Minister des Inneren, meint damit britische Pfund. Ein vollklimatisiertes Maisonette-Penthouse im Zentrum von Damaskus ganz für Sie alleine. Eine Eigentumswohnung mit kompletter Dienerschaft in Dair As Sur am Euphrat, das ein milderes Klima hat als Miami. Ah, ich sehe Ihnen an, daß Sie wetterfühlig sind. Da Sie aus einer Stadt nur einen Schneeballwurf vom Nördlichen Polarkreis kommen, wer könnte Ihnen da verübeln, daß Sie sich zu Florida oder einer ähnlich paradiesischen Gegend hingezogen fühlen? Womit ich beim letzten Punkt auf der Liste meines Vaters angekommen bin: Soviel schwarzen Beluga, wie Ihr Herz begehrt.«
Lemuel schaut aus dem Fenster und entdeckt Rain, die, das Horn mit einer geflochtenen Kordel schräg über den Rücken gehängt, zu ihrer Probe mit der Blaskapelle eilt.
»Was mein Herz begehrt, ist nicht schwarzer Beluga.«
»Sir, ich kenne meinen Vater und kann Ihnen versichern, was immer Ihr Herz begehrt, Sie brauchen es nur zu erwähnen, und es gehört Ihnen.«
Lemuel, der sich in einem schmerzlichen Wachtraum verloren hat, peilt einen Horizont hinter dem Horizont an. »Mein Herz begehrt. zu wissen, was aus meiner Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force geworden ist.«
»Sir?«
Word Perkins, das Faktotum des Instituts, ist verwundert, zu so später Stunde noch Licht unter Lemuels Tür zu sehen, und steckt ohne anzuklopfen den Kopf herein. »Na, hab ich Sie erwischt, Professa aus Petasburg. Wieder mal bis tief in Nacht mit Ihrm Compjuta hinterm Massenmörder her, wie?«
Lemuel ist beim Schreiben seines Programms an einer kniffligen Stelle angekommen und hackt noch ein paar Zeichen auf den Bildschirm.
Word Perkins, der seine Runde als Nachtwächter macht, ist auf der Suche nach einer Ausrede für ein Päuschen. Probeweise setzt er Lemuel einen Schuß vor den Bug. »Wennse mich schon fragen, also das wolln viele Leute wissen, wie einer zu eim Henkel wie ›Word‹ kommt. Ganz einfach. Mein alter Herr war Baptistenpfarrer inner Bronx«, erklärt er, während er langsam den Lichtschein der Schreibtischlampe umkreist. »Ich war’s erste von zwölfen. Also is mein Papa hergegang und hat mich Word getauft, nach dem Johannes seim Ewangeljum. ›Im Anfang war das Woat …‹«
Lemuel schaut von der Tastatur auf. »Können Sie auch den Rest der Passage aufsagen?«
Word Perkins schwingt sich auf die Ecke von Lemuels Schreibtisch und greift in die Tasche, um sein Hörgerät lauter zu stellen. »Na klar«, sagt er, »›Im Anfang war das Woat, und das Woat war bei Gott, und das Woat war Gott.‹«
»Das Wort war Gott«, wiederholt Lemuel langsam.
»So steht’s jenfalls drin.«
»Welches Wort war Gott?«
»Könn mich durchsuchen.«
»Durchsuchen? Ach, ich verstehe. Ich könnte Sie durchsuchen – stimmt’s –, und würde trotzdem nicht drauf kommen, welches Wort Gott war.«
»Hm?«
»Andererseits, wenn Sie mich durchsuchten, würden Sie vielleicht drauf kommen, welches Wort Gott war.« Lemuel lächelt triumphierend. »Yo! Zufälligkeit ist das Wort. Das war Gott.«
Word Perkins versteht gar nichts mehr, nimmt die blaue Polizeimütze ab, die er immer trägt, wenn er als Nachtwächter arbeitet, und kratzt sich über einem zu groß geratenen Ohr, wodurch er flockige Schuppen löst, die zu Boden schweben.
»Dieser Johannes!« erregt sich Lemuel. Rasch fügt er hinzu: »Hey, nichts gegen besagten Heiligen. Aber er muß schon wirklich ein As gewesen sein. Stellen Sie sich vor. Am Anfang war die Zufälligkeit, und die Zufälligkeit war bei Gott, und die Zufälligkeit war Gott.«
Word Perkins’ Augen verengen sich zu einem mißtrauischen Schlitz. »Diese Zufälligkeit, die Gott war, die hat nix zu tun mit Skilanglauf, oder?«
Lemuel schüttelt den Kopf. »Nein.«
Word Perkins akzeptiert das mit einem bedächtigen Nicken; der Groschen ist gefallen. »Da hab ich mich ja wien Trottel aufgeführt, an dem Abnd, wo Sie nach Backwater gekomm sind. Weil ich gesagt hab, daß das hier mit dem vielen Schnee das reinste Paradies für Zufallsforscher sein muß.«
»Sie sind viel weniger ein Trottel als die meisten anderen«, versichert Lemuel Word Perkins. »Sie geben es zu, wenn Sie sich geirrt haben. Außerdem hat sich Backwater tatsächlich als Paradies für Zufallsforscher erwiesen.«
»Wenn se nix mim Schnee zu tun hat, was hat’s dann auf sich mit der Zufälligkeit, die Gott war?« Word Perkins beißt sich auf die Lippe. »Wo Sie doch Gasprofessa sind an der Chaosschule, freß ich’n Besen, wenn der Zufall nich was mit’m Chaos zu tun hat.«
»Zufälligkeit und Chaos hängen miteinander zusammen, aber nicht so, wie Sie denken. Chaos ist das Gegenteil von Zufälligkeit, Word. Im tiefsten Innern enthält das Chaos den Keim der Ordnung. Auch wenn wir sie nicht sehen können, ja?, ist die Ordnung doch da. Reine Zufälligkeit dagegen verbirgt in ihrem tiefsten Innern …«
»Langsam kapier ich. Die Zufälligkeit, die nix mit Schnee nich zu tun hat, verdeckt die Unordnung.«
»Nicht so sehr Unordnung, denn die setzt bewußte Vermeidung von Ordnung voraus, sondern ein schlichtes, elegantes, völlig natürliches Fehlen jeder Ordnung.« Lemuel spricht jetzt mit sich selbst. Teile eines Puzzles fügen sich zusammen. »Yo! Der Rebbe, dem Zufälligkeit körperliches Unbehagen bereitet, der sie für ein Laster hält, hat Spuren von Zufälligkeit bei Gott entdeckt, und das ist der Grund, warum er Gott liebt, Ihn aber nicht mag. Ich für mein Teil halte Zufälligkeit für eine Tugend, und als ich Spuren von Gott in der Zufälligkeit entdeckte, hat mir das geholfen, Ihn zu mögen, obwohl ich nicht hundertprozentig sicher bin, daß es ihn überhaupt gibt.«
Word Perkins ist verwirrt. »Wie kann man was mögen, was es gar nich gibt?«
»Ich kann zu Ihnen sagen, daß es nicht leicht ist.« Lemuel taucht ab ins Labyrinth seiner eigenen Logik. »Hey, Dostojewski ist auf dem falschen Dampfer, wenn er Iwan Karamasow sagen läßt, wenn Gott tot wäre, dann wäre alles erlaubt. Gerade weil Gott lebt, weil Er die Inkarnation der Zufälligkeit ist, ist alles erlaubt. Verstehen Sie, Word? Verdammt noch mal, wenn Er sein kann, wann und wo Er will, dann können wir, seine Ebenbilder, das auch.«
»Ja, na ja, was mir so an Ihn gefällt, Professa aus Petasburg, ja?, is, daß Sie nich auf dem hocken, was Sie wissen -Sie bring’s unter die Leute.« Word Perkins rutscht vom Schreibtisch herunter und geht in Richtung Tür. »Denk’n Sie nich, daß mir unser kleiner Plausch nich gefällt, aber ich muß mit meiner Runde weitermachen. Schrein Sie, wenn Sie’s gut sein lassen wolln, ja? Dann kann ich die Tür hinter Ihn abschließen.« Sein Kichern hallt durch den langen Korridor. »Wolln ja nich, daß sich Unbefugte reinschleichn und sich am Chaos von unserm Institut vergreifn, oder?«
»Nein«, stimmt Lemuel zerstreut zu und dreht sich wieder zum Bildschirm um.
Er gibt ein paar Befehle ein, lehnt sich zurück und sieht zu, wie endlose Ziffernkolonnen über den Bildschirm marschieren; der Großrechner des Instituts, eine Cray Y-MP C-90, vergleicht, von Lemuels Tastatur aus gesteuert, die neuesten beiden Serienmorde mit den achtzehn Morden davor. Der Supercomputer nähert sich den Verbrechen aus verschiedenen Richtungen, vergleicht Alter, Beruf und äußere Merkmale der Opfer, die Tageszeiten der Verbrechen, die Monatstage, die Mondphasen, die Schauplätze der Morde. Ausgehend von den Fallbeispielen der beiden neuen Serienmorde hat Lemuel auf der Suche nach dem Keim von Ordnung in all der Unordnung neue Elemente einprogrammiert: Körpergröße und Gewicht der Opfer beispielsweise, oder die Farbe der Kleidung, die sie trugen, als sie umgebracht wurden. Obwohl er numerische Äquivalente in immer neuen Kombinationen und Permutationen analysiert und zahllose Variationen über ein und dasselbe Thema durchspielt, entdeckt der Supercomputer nicht die Spur von Ordnung in diesem Wust von Zufälligkeit.
Frustriert und immer noch überzeugt, daß er irgend etwas übersehen hat, schaut Lemuel besorgt auf die Wanduhr. Nach dem Belegungsplan, der vor dem Direktorat ausgehängt ist, darf er von seinem Terminal aus den Supercomputer des Instituts bis Mitternacht nutzen, und dann soll die Cray für eine routinemäßige Wartung ihres Kühlsystems abgeschaltet werden. Indem er mit steifen Fingern auf die Tastatur einhackt, weist Lemuel den Großrechner an, das Problem abermals aus einer anderen Richtung anzugehen, und lehnt sich dann zurück und starrt auf den Bildschirm, auf dem neue Zahlenkolonnen erscheinen. Nach wie vor scheint jedes der Verbrechen rein zufällig zu sein, die Software liefert keinerlei Anhaltspunkte für einen seltsamen Attraktor, der eine Überschneidung andeuten würde, die Wiederholung eines Details, ein Körnchen Ordnung, eine Methode hinter dem Wahnsinn dieser Morde. Alles, was der Supercomputer ausspuckt, ist. Unordnung … Unordnung.
Eigentlich nicht Unordnung, hat er eben doch Word Perkins erklärt, denn die setzt bewußte Vermeidung von Ordnung voraus.
Die über den Bildschirm flimmernden Zahlen verschwimmen. Eine Ader pulsiert auf Lemuels Stirn. Er weiß auf einmal, was in der Computeranalyse der zwanzig Serienmorde fehlt. Yo! Es fehlt genau das, was er ungefähr bei der dreihundertmillionsten Dezimalstelle von Pi entdeckt hat, nämlich achtmal in Folge die Zahl acht. Es fehlt der geringste Hinweis auf gelegentliche Ordnung, die ein wesentlicher Bestandteil reiner, unverfälschter Zufälligkeit ist. Mein Gott, denkt Lemuel, ich könnte mich ohrfeigen, daß ich da nicht schon früher draufgekommen bin. Wenn die Serienmorde durch ein schlichtes, elegantes, völlig natürliches Fehlen jeder Ordnung gekennzeichnet wären, wenn sie also wahrhaft zufällig wären, würden sie zufällige Wiederholungen aufweisen. Sicher, die Stichprobe ist klein, aber irgendwo bei seinen zwanzig Morden hätte der Serienmörder dieselbe Tageszeit oder denselben Tag des Monats zweimal erwischt; er hätte jemanden ermordet, der dasselbe Alter oder denselben Beruf gehabt hätte wie eines seiner früheren Opfer. Er hätte zwei Menschen umgebracht, die rote Flanellhemden trugen.
Womit bewiesen ist, daß die Morde überhaupt nicht zufällig waren, sondern vielmehr das Werk von jemandem, der sie zufällig erscheinen lassen wollte. Aber warum sollte sich der Mörder solche Mühe geben, die Morde zufällig erscheinen zu lassen? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Der gemeinsame Nenner der Serienmorde, der rote Faden, der sich durch die Morde zieht, muß die unausgesprochene Theorie des Mörders sein, daß, falls er oder – warum nicht? – sie sich die Opfer rein nach dem Zufallsprinzip aussuchte, die Polizei nie über die scheinbare Zufälligkeit hinausgehen und nach einem Motiv suchen würde und die Morde daher nie aufgeklärt werden würden. Woraus sich ergibt, daß das Gegenteil zutrifft: Da die Opfer in Wirklichkeit nicht zufällig ausgesucht wurden, muß eines der Verbrechen leicht aufzuklären sein.
Aber welches? Lemuel braucht nichts weiter zu tun, als sich noch einmal die Akten der einzelnen Verbrechen vorzunehmen und bei jedem Mord hinter der scheinbaren Zufälligkeit nach dem Motiv zu suchen. einer der Morde wird ein Motiv erkennen lassen, das so offensichtlich ist, daß der Mörder das Verbrechen als einen weiteren zufälligen, unmotivierten Mord in einer ganzen Serie tarnen mußte.
Lemuel gibt neue Befehle in den Computer ein und ruft die alten Akten auf, beginnend mit dem ersten Serienmord. Plötzlich ist der Bildschirm leer. Eine Meldung erscheint: »Ihre Verbindung mit dem Cray-Computer wurde unterbrochen.« Lemuel sieht auf die Uhr. Es ist fünf nach halb zwölf.
Eigentlich stünden ihm noch fünfundzwanzig Minuten an dem Großrechner zu. Er gibt sein Paßwort ein und versucht, die Verbindung wiederherzustellen, bekommt aber nur die lakonische Mitteilung: »Zugriff verweigert.« Aufgebracht grapscht er sich das Telefonverzeichnis des Instituts und fährt mit dem Daumennagel die Spalte entlang, bis er die Nummer des Direktors gefunden hat. Er packt den Telefonhörer und wählt die Nummer. Nach dem sechzehnten Klingeln meldet sich der Direktor.
»Goodacre.«
»Hier ist L. Ficker-Falk, einer der führenden Zufallsforscher der Welt. Erinnern Sie sich an mich? Von Rechts wegen sollte ich von acht bis zwölf Zugang zu der Cray haben. Von Rechts wegen sollte ich Mitternachtsöl verbrennen dürfen.«
»Sind Sie alkoholisiert? Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ich kann zu Ihnen sagen, daß es elf Uhr achtunddreißig ist, plusminus ein paar Sekunden. Das bedeutet, daß mir noch zweiundzwanzig Minuten Computerzeit zustehen. Sie haben mich immer wieder aus dem Großrechner gedrängt, seit wir unsere kleine Unterredung in Ihrem Büro über Rain und mich hatten. Anfangs konnte ich mich nur an den Nachmittagen mit dem Rechner vernetzen. Dann an den Abenden. Jetzt muß ich mir die Nacht um die Ohren schlagen, wenn ich in den Großrechner will.«
Der Direktor räuspert sich. »Darf ich fragen, an welchem chaostheoretischen Projekt Sie arbeiten?«
Lemuel räuspert sich. »Ich kann zu Ihnen sagen, daß der Sheriff mich gebeten hat, nach Korrelationen zwischen seinen Serienmorden zu suchen.«
»Sie korrelieren Serienmorde?«
»Ganz recht. Um festzustellen, ob es wirklich Zufallsmorde sind.«
Ein paar Sekunden lang herrscht gespanntes Schweigen. Schließlich sagt der Direktor: »Ich möchte der Ansicht Ausdruck verleihen, daß die Aufklärung von Serienmorden am Großrechner des Instituts nicht das ist, wofür wir Sie aus Sankt Petersburg hierher geholt haben.«
Lemuel hält den Hörer auf Armlänge von sich weg und starrt ihn an. Blechern ertönt weiter die Stimme des Direktors. »Von Ihnen wird erwartet, daß Sie Ihr berühmtes Zwischenreich erkunden und nach der Zufälligkeit suchen, die ein Fußabdruck des Chaos ist. Und was tun Sie? Sie mißbrauchen den Supercomputer des Instituts zu freiberuflicher Arbeit für den Sheriff. Haben Sie auch nur eine blasse Ahnung, was Computerzeit kostet? Für eine halbe Stunde an einer Cray Y-MP C-90 wurden schon Morde begangen.«
Lemuel spürt, wie er in einen gleißend bunten Wachtraum gezogen wird. Vor seinem geistigen Auge ist er A. Newski, der teutonische Ritter mit Nazi-Stahlhelmen daran hindert, eine Grenze zu überschreiten, bei der es sich um einen zugefrorenen See handelt. Verschiedene Einstellungen von dem Eis, das unter den Füßen der Feinde in Schollen zerbricht, von Pferden, die den Halt verlieren und ins Wasser rutschen, von teutonischen Rittern, die, von ihrer schweren Rüstung in die Tiefe gezogen, unter der Oberfläche des eisigen Wassers verschwinden. Eine lange Einstellung aus Bodennähe von dem Nebel, der aus dem brodelnden See aufsteigt. Schwenk auf einen triumphierenden A. Newski, der den Blick über die Szene schweifen läßt. Auf den jetzt ruhigen See, von A. Newskis Standpunkt aus.
Soeben von der erfolgreichen Verteidigung eines Territoriums an seiner gottverdammten Grenze zurückgekehrt, hält sich Lemuel den Telefonhörer wieder an den Mund und schneidet dem Direktor mit einem Urjaulen das Wort ab. »Auch für eine Stelle am W.-A.-Steklow-Institut für Mathematik wurden schon Morde begangen. Was also sagt uns das über den Homo mathematicus, was wir besser nicht wissen sollten?« Plötzlich ernüchtert, nimmt Newski wieder seine L.-Falk-Stimme an. »Key, Stockfisch, Mord gilt allgemein als eine chaosbezogene Angelegenheit«, murmelt er. »Wenn das nicht wahr ist«, fügt er mit einem bitteren Lacher hinzu, »will ich tot umfallen.«
Bekümmert schaltet Lemuel seinen Computer aus, schließt sein Büro ab und macht sich auf den Heimweg. Auf dem Korridor fällt ihm auf, daß das Licht ungewöhnlich schwach ist, vor allem auf dem Treppenabsatz. Er könnte schwören, daß der Gang heller beleuchtet war, als er am frühen Abend sein Büro aufsuchte. Es konnte ja wohl nicht ein halbes Dutzend Glühbirnen gleichzeitig durchgebrannt sein. Er tastet nach der Pendeltür, die zum Treppenhaus führt.
Zwei Gestalten tauchen aus einer dämmrigen Nische auf.
»Falk, Lemuel?«
Lemuel prallt erschrocken zurück. »Was wollen Sie?«
»Ihr Geld und Ihr Leben.«
Lemuel schnappt nach Luft. Der zweite Schatten, hochgewachsener, schlanker, fieser als der erste, so scheint es Lemuel, lacht leise. »So was darfst du nicht sagen, Frank. Sonst kriegt er noch Schiß. Und wir wollen doch nicht, daß er sich vor Angst in die Hosen macht.«
»Es sollte ein Witz sein«, erklärt Frank feierlich.
»Ha, ha«, sagt Lemuel lahm. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier reingekommen?«
Der zweite Schatten sagt: »Mr. Word Perkins hat uns eingelassen, nachdem wir unsere Legitimation vorgewiesen hatten.«
»Was für eine Legitimation?«
»Wir sind beide mit Pistolen bewaffnet«, sagt Frank. »Die Pistolen sind mit Schalldämpfern ausgestattet.«
Lemuels Gaumen ist plötzlich trocken wie Kreide. Im Dunkeln spürt er, wie die beiden Männer ihn auf die eigentümliche Weise ansehen, wie bewaffnete Menschen andere ansehen, die es nicht sind.
»Hey, das soll wohl schon wieder ein Witz sein?«
»Wir haben die weite Reise von Reno, Nevada, hierher gemacht, um mit Ihnen über etwas zu sprechen«, sagt der Schatten namens Frank.
»Worüber denn?« Lemuel versucht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Worüber denn?«
»Über Ihre Zukunft«, erwidert Frank. »Das war’s doch, worüber wir mit ihm sprechen wollten, Fast Eddie, oder?«
»Genau«, bestätigt Fast Eddie. »Wir haben die lange Reise gemacht, um dafür zu sorgen, daß er eine Zukunft hat.«
»Sie sind nicht wegen der zufälligen Morde hier?«
»Sehen wir so aus?«
Fast Eddie reißt ein Streichholz an und hält die Flamme an die Spitze einer dünnen Zigarre. Lemuel sieht, daß beide Männer einen Schlapphut tragen. »Die paar Morde, die wir aus erster Hand kennen«, erklärt Fast Eddie hinter einer Wolke von Zigarrenrauch, »waren alles andere als zufällig.«
Lemuel schreit ins Treppenhaus: »Yo, Word!«
Ein schwaches Echo steigt vom Erdgeschoß auf. »Yo, Word!«
Lemuel versinkt in einem Hirngespinst, das jählings wie ein verstümmelter Alptraum in seinem Kopf auftaucht, und hört eine Stimme aus seiner verlorenen Kindheit. Du sagst uns jetzt, wo dein Vater sein Code-Lexikon versteckt hat. Er weicht zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand steht, wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und ruft: »Um Himmels willen, Word, wo, zum Teufel, stecken Sie denn? Sie bringen sich in die größten Schwierigkeiten, wenn Sie zulassen, daß sich Unbefugte am Chaos unseres Instituts vergreifen.«
»Uns interessiert nicht das Chaos von dem Institut«, sagte der Schatten namens Fast Eddie ruhig. »Uns interessiert Ihr Chaos.«
»Eine Masse Leute, die wir kennen, haben einer Masse Leute, die wir kennen, von Ihnen erzählt.«
»Von mir?«
»Manchmal sieht’s fast so aus, als ob im Staat New York alle bloß über Sie sprechen wollen.«
»Alle Wege führen nach Backwater«, lacht Fast Eddie.
»Was sagen die Menschen über mich?«
Frank macht einen Schritt auf Lemuel zu. »Daß Sie die Zahlen tanzen lassen.«
»Es stellt sich raus, daß Sie anderer Leute Post lesen können«, bemerkt Fast Eddie.
»Es gibt gewisse Leute – Bundesanwälte, FBI-Juristen, CIA-Agenten –, die alles mögliche über die Firma schreiben, bei der wir angestellt sind.«
»Wir haben keine Schwierigkeiten, das, was sie über uns schreiben, in die Finger zu kriegen«, schnurrt Fast Eddie. »Das dumme ist nur, daß es lauter Kauderwelsch ist. A-x-n-t-v, r-l-qt-u, z-b-b-m-o. Dämmert’s Ihnen?«
»Zufallsgenerierte Gruppen von fünf Buchstaben«, sagt Lemuel müde, »bedeuten, daß das Original verschlüsselt wurde.« Er ist überzeugt, daß die beiden Männer im Dunkeln eisenbeschlagene Schuhe tragen.
»Es geht das Gerücht, daß Sie Kauderwelsch lesen können.«
»Es geht das Gerücht, daß das Kauderwelsch, das wir meinen, nach einem Verschlüsselungs-Standard der US-Regierung codiert ist, der auf den Namen Data Encryption Standard hört. Die Leute, die Mitteilungen verschlüsseln, damit wir sie nicht lesen können, benutzen eine Geheimzahl, den sogenannten Schlüssel, um die Mitteilung zu verwürfe ln. Die Leute, die diese Mitteilung lesen, benutzen dieselbe Geheimzahl, um den Text zu entschlüsseln.«
»Wir haben uns gedacht, wenn Sie den Schlüssel rauskriegen, könnten wir die Mitteilung entschlüsseln und das Kauderwelsch lesen.«
»Was für ein Name ist eigentlich Falk, Lemuel?«
»Russisch.« Lemuel schluckt schwer. »Jüdisch.«
»In unserer Firma haben alle die gleichen Chancen, hab ich recht, Frank?«
»Sie sind nicht zufällig italienischer Abstammung? Sie können nicht zufällig parlare italiano!«
»Ich hab dir doch gesagt, es spielt keine Geige, ob er Italienisch spricht«, klärt Fast Eddie seinen Kollegen auf. »Das Kauderwelsch, das er für uns lesen soll, ist in Englisch.«
»Ich wollte ja bloß seine Qualifikation überprüfen«, verteidigt sich Frank.
»Legen wir die Karten auf den Tisch«, sagt Fast Eddie. »Die Firma, bei der wir arbeiten, möchte Sie einstellen. Sie könnten einen Titel führen – Chefbeauftragter für Kauderwelsch-Entzifferung oder so ähnlich. Wir haben Niederlassungen im ganzen Land. Was Ihren Arbeitsort angeht, können Sie sich’s also aussuchen. Reno, Nevada, hat ein trockenes Klima, das für Leute mit Asthma oder Bronchitis gut sein soll. In Florida scheint das ganze Jahr die Sonne; Leute, die da wohnen, beschwören es. In Neuengland wird’s im Winter kalt, zugegeben, aber dafür soll der Herbst schön bunt sein.«
»Sie brauchen eine Wohnung, Sie kriegen eine Wohnung. Sie brauchen gespitzte Bleistifte, Sie kriegen gespitzte Bleistifte. Sie brauchen eine Sekretärin – und wenn ich Sekretärin sage, meine ich: jung, hübsch, Minirock, Beine bis zum Hals –, Sie kriegen eine Sekretärin.«
»Normalerweise arbeite ich mit einem Computer.«
»Sie brauchen einen Computer, Sie kriegen einen Computer.«
»Was immer Sie hier verdienen, wir zahlen das Dreifache.«
»Und keine Abzüge für Krankenversicherung oder Altersversorgung.«
»Um Ihre Gesundheit kümmern wir uns selber. Und Altersversorgung brauchen Sie keine – bei uns gehen Sie nie in Pension.«
Lemuel räuspert sich im Dunkeln. »Es ist nicht so, daß ich Ihr Angebot nicht zu schätzen wüßte, ja? Es ist eher deswegen, weil ich verschiedene Eisen in verschiedenen Feuern habe.«
»Da sollten Sie aber aufpassen, daß Sie sich an keinem die Finger verbrennen«, rät Fast Eddie.
»Was unser Angebot angeht«, sagt Frank, »da war’s mir schon recht, wenn ich Sie überzeugen könnte.«
Zu seinem größten Erstaunen hört Lemuel den A. Newski in sich sagen: »Meinen Sie, daß Ihr Wortschatz dafür ausreicht?«
Frank übergeht Lemuels Beleidigung. »In meiner Branche«, sagt er liebenswürdig, »haben wir eine Redensart: Eine Kugel ist mehr wert als tausend Worte.«
»Wahrscheinlich ist das nur wieder einer von seinen Witzen«, beruhigt Fast Eddie Lemuel.
»Es ist uns klar, daß das für Sie eine wichtige Entscheidung ist«, sagt Frank. »Sie brauchen uns nicht sofort eine Antwort geben.«
Fast Eddies Arm kommt aus einer Wolke von Zigarrenrauch und boxt Lemuel spielerisch in den Oberarm. »Ja, lassen Sie sich Zeit. Denken Sie ruhig ein paar Minuten drüber nach, bevor Sie ja sagen.«