Ich hasse Abschiede. Am nächsten Tag wird Paula Schwab in die Reha verlegt. Jenny verbringt den ganzen Tag bei ihr. Wir alle stehen auf dem Flur Spalier, als sie im Rollstuhl zum Aufzug gefahren wird. Sie lacht und sagt: »Auf dass ich Sie alle nie wiedersehe.« Und obwohl ich ihr auch nichts sehnlicher wünsche, merke ich schon am Nachmittag, dass sie mir fehlt.
Ich schleiche mich in Professor Dehmels Zimmer. Hier ist Ruhe, Besinnung. Er schläft, als ich hereinkomme und ich bleibe einfach an seinem Bett sitzen.
»Sind Sie traurig, Lena?«, fragt plötzlich eine schwache Stimme. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er aufgewacht ist. Doch ich nicke, was soll ich ihm vormachen. »Sie dürfen nicht so traurig sein«, sagt er leise, »Sie sind jung, Sie haben Freunde, einen Beruf, der Sie erfüllt, bald ist Weihnachten. Reicht es nicht, wenn sinnlose alte Männer traurig sind?«
Wir sehen uns an, ich weiß nichts zu sagen. »Es tut mir leid«, entgegne ich schließlich einfach nur. Und plötzlich lächelt er. »Sie könnten einen Spaziergang machen. Ein riesiges Eis essen. Einen albernen Film ansehen.« Ich zucke mit den Achseln, das ist alles lieb gemeint, aber ich habe das Gefühl, dass mich gerade gar nichts aufbauen kann. Er überlegt. »Gehen Sie gerne tanzen? Wenn ja, könnten Sie in irgendeinen Club fahren und sich einfach alles von der Seele tanzen. Wenn nicht, machen Sie doch einen Kurs. Tanzen macht eigentlich jeder Frau Spaß!« Ich lasse ihn reden … und erst als er sagt »Arbeit lenkt mich immer ab, vielleicht sollten Sie an Ihrer Promotion arbeiten, ich kann Ihnen ein paar Bücher empfehlen«, wird es mir bewusst: Er macht Pläne, er hat ein neues Projekt, seine Energie ist wieder da. Der Professor ist endlich wieder aufgewacht. Meine deprimierte Unlust, meine sprachlose Traurigkeit hat ihn geweckt. Zu planen, wie ich wieder lebensfroh werde, ist seine neue Aufgabe. Ich kann ihn entlassen, er kann ein neues Leben anfangen. Und ich vielleicht auch.
Ich gehe über den Flur, das Licht hat sich geändert. Schwester Jana stellt einen Weihnachtsstrauch auf ihren Tresen. »Ist alles okay?«, fragt sie und zum ersten Mal bin ich wieder gewillt, ihre Besorgnis als ehrlich zu deuten.
»Es tut mir leid, Mäuschen«, sagt sie, als ich bei ihr stehen bleibe, »ich wollte dir doch nicht schaden!« Hat sie aber. Oder doch nicht? »Es ist doch auch alles gut ausgegangen«, verteidigt sie sich, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Aber nicht deinetwegen!«, entgegne ich. Und was ist mit Jenny?
»Ich hab es gut gemeint«, sagt Jana ruhig. »Ich bin nun mal für euch alle zuständig.« Das ist sie nicht.
»Wir sind erwachsen, Jana«, widerspreche ich. »Wir sind fast Ärzte!«
»Ach?«, sie schiebt missbilligend den Weihnachtsstrauß zurecht. »Warum benehmt ihr euch dann nicht so?!«
Ich werde es nicht zugeben, aber sie hat ein ganz kleines bisschen recht. Ich beschließe, dass all meine Sorgen, der bescheuerte Liebeskummer, die Unsicherheit hier nichts zu suchen haben. Ich bin hier, um Ärztin zu werden. Nur darauf kommt es an. Was immer mich draußen niederdrückt und zweifeln lässt; hier hat es nichts zu suchen. Hier gehört eine erwachsene Fast-Ärztin hin, die weiß, was sie tut und sich nicht beirren lässt. Vor langer Zeit hat mir ein Oberarzt geraten, niemals die Ärztinnen-Lena von der Privat-Lena beeindrucken zu lassen. Danach werde ich mich jetzt richten. Endlich.
Noch ein Tag bis zur Weihnachtspause. Isa und ich haben heute Morgen bereits unsere Taschen mit in die Klinik geschleppt, man muss die freien Tage doch maximal ausnutzen. Nur noch diesen Arbeitstag überstehen.
Ich verabschiede meinen Professor in die Reha. Seit unserem Gespräch hat sich sein Zustand ständig gebessert. Als ich ihm Glück wünsche, hört er kaum zu, so beschäftigt ist er schon wieder mit meiner Zukunft. »Lassen Sie nur bald von sich hören, Lena«, sagt er und drückt meine Hand. »Ich verlass mich drauf!« Und ich erwidere den Händedruck und verspreche es.
Dr. Gode hat uns Kekse gekauft und als Dr. Thiersch zur Zwischenstandsbesprechung in den Arztraum lädt, lässt sie sich sogar dazu herab, selbst einen ganzen Keks zu essen. Natürlich erwähnt sie gleich darauf, dass sie im neuen Jahr viel mehr von uns erwartet – aber das neue Jahr wirkt so weit weg, dass wir alle bereitwillig dazu nicken.
Die Reihum-Weihnachtsverabschiedung tut richtig gut. Mir war gar nicht klar, dass ich mich so darauf gefreut habe, eine Woche keine Klinik, keine Kollegen zu sehen.
Ich verabschiede mich von Ruben, der mir einen entzückenden Weihnachtsengel aus Plüsch schenkt. »Seit drei Tagen warst du nicht hier«, sagt er vorwurfsvoll. »Ich denke mir, warum. Aber da noch jemand anders nicht mehr hier aufkreuzt, hoffe ich, dass du im nächsten Jahr dein Revier verteidigst und mich nicht mehr so schmählich im Stich lässt.« Ja, ich gebe es zu, ich habe mich drei Tage vor der Cafeteria und der befürchteten Thalheimbegegnung gedrückt. Auch heute bin ich erst zum Feierabend hier aufgeschlagen. Ruben lacht. »Was habe ich denn davon, wieder der einzige Mann in deinem Leben zu sein, wenn du dich nicht mehr bei mir sehen lässt?!« Und dann ist er so lieb, mein einfallsloses Weihnachtsgeschenk zu bewundern, als hätte er noch nie im Leben einen schöneren Trickfilmtier-Küchenkalender gesehen.
Nur eine Begegnung steht noch aus, bevor ich in die Ferien fahren kann. Ich gehe langsam über den Flur. Ich KANN nicht einfach so abfahren. Aber was soll ich sagen? Lieber doch vorbeigehen? Wenn ich seine Tür erreiche, bevor jemand aus dem Aufzug kommt, gehe ich hinein. Das ist nur fair, alle wollen nach Hause, sicher steht der Fahrstuhl gerade keine Minute still. Ich werde immer langsamer. Aber niemand kommt.
Vielleicht hat er geahnt, dass ich vor seiner Tür stehe. Er öffnet, bevor ich mich dazu entschließen kann, zu klopfen. Wir stehen uns gegenüber – und alles kommt zurück. Drei Tage sind einfach nicht genug Abstand. Ich kann nur hoffen, dass eine Woche besser hilft.
»Ich fahre jetzt«, sage ich. »Frohe Weihnachten.« Er nickt, sagt nichts. Doch dann geht er zu seinem Schreibtisch und holt ein Päckchen aus seiner Tasche. »Ich habe gehofft, dich noch zu sehen«, sagt er. Sonst nichts. Ich stehe da mit dem kleinen Paket in der Hand. Er sieht mich an. »Bis bald …« Er lächelt leicht.
»Bis bald«, sage auch ich. Und dann gehe ich, ganz schnell.
Tom kommt, um uns zum Bahnhof zu fahren. Er spricht wenig, wirkt unzufrieden. Doch es liegt wohl nicht nur daran, dass Isa für eine Woche zu ihren Eltern fährt. Die beiden sitzen vorn und reden leise und ich merke, dass auch Jenny neben mir auf der Rückbank die Ohren spitzt. »Nichts?«, fragt Isa leise. Tom schüttelt den Kopf. »Keine Berufserfahrung.« Jenny sieht mich an, zieht ein besorgtes Gesicht. Offenbar ist mal wieder ein Bewerbungsgespräch schiefgelaufen. Isa nimmt Toms Hand, Schweigen.
Auf dem Bahnsteig verabschieden wir uns, ich umarme meine Freunde, auf einmal ganz gerührt. Isas Zug fährt in 15 Minuten. Jenny bleibt in Berlin, ich wünsche ihr herrliche Feiertage. Sie lacht: »Meine beiden Jungs werden es mir schon schön machen!« Unverbesserlich!
Ich habe Jenny kurz meine Tasche übergeben, um mich von Isa zu verabschieden, das Päckchen von Tobias liegt obenauf. »Stopp, stopp, stopp«, schreit Jenny, als ich ihr die Tasche wieder abnehme. »Das wolltest du uns doch nicht vorenthalten!«
Eigentlich wollte ich das Päckchen im Zug aufmachen, allein. Aber selbst Isa zieht neugierig-bittend an meiner Jacke und weil ich auch keine Hemmungen hatte, den beiden dauernd mit meinem Tobias-Gefühlschaos auf die Nerven zu gehen, fühle ich mich schäbig, wenn ich sie jetzt nicht einbeziehe. Ich öffne das Papier und ein altes Buch kommt zum Vorschein. »Illustrierte Medizinische Heilkunde«, ein Medizinbuch aus den Zwanzigerjahren. Ich drehe es in den Händen. Hm.
»Du bist ja wohl davon nicht beeindruckt«, schnaubt Jenny. »Ein absolut einfallsloser Klassiker! Meine Geschenke sind viel besser!« Bevor ich mir eine Meinung zu Tobias’ Weihnachtsgeschenk bilden kann, hat sie schon ihre Tasche ausgepackt und Isa und mir große bunte Päckchen überreicht. »Aber erst zu Hause aufmachen!«, warnt sie. Dann geht es an die allerletzte Rundum-Umarmung und ich schaffe es gerade noch, in den Zug zu springen, bevor die Türen geschlossen werden.
Puterrot stehe ich hinter der Zugtür. Tom und Isa sind schon an der Treppe, Isas Zug fährt auch bald. Nur Jenny steht noch auf dem Bahnsteig und winkt. Wie wird es sein, jetzt in die leere Wohnung zurückzugehen? Auf einmal überkommt mich ein seltsames Gefühl. Hoffentlich macht sie keine Dummheiten!
Im Zug sehe ich mir das Medizinbuch von Tobias genauer an. Altmodische, hochtrabende Bezeichnungen für Krankheiten, über die wir heute fast alles besser wissen. Dazwischen seltsame Zeichnungen; die Skizzen vom menschlichen Gehirn sind geradezu komisch absurd. Auf der letzten Seite etwas Handgeschriebenes. Es sieht aus wie eine Stichpunktliste. Tobias’ Handschrift.
»Ich war verheiratet, es war eine schöne Zeit, aber trotzdem ein Fehler. Scheidung mit Extras. Ich hätte gern einen Hund, ich hatte als Kind einen, jetzt habe ich keine Zeit mehr dafür. Ich hatte eine Großmutter, die unbedingt Ärztin werden wollte, es aber nie geschafft hat. Das Buch stammt aus ihrem Nachlass. Ich habe immer furchtbar gerne die Bilder angesehen, seit ich zehn war.«
Ich lese den knappen Text immer wieder. Bis Hamburg. Und denke an Tobias, der in seiner Bürotür stand und mir nachsah, als ich ging. Und von dem ich in den letzten fünf Minuten mehr erfahren habe als in den vergangenen zwei Monaten.
Was tut er jetzt? Kann ich ihn schon anrufen? Wann kann ich ihn wiedersehen? Ich hasse Abschiede.