Thalheim schweigt. Ich sitze neben ihm im Auto und bereue schon an der Ecke, dass ich eingestiegen bin. Will er noch jemals im Leben irgendwas sagen? Soll ich?! Oh Mann, warum habe ich kein schnippisches »Nein danke« herausgebracht? Wollte ich wirklich SO GERNE bei ihm sein? Für DAS HIER?!
Es dauert vier Querstraßen, bis er endlich den Mund aufmacht. Es fühlt sich an, als hätten wir inzwischen zweimal nach Lübeck und zurück fahren können. Thalheim sieht mich nicht an. »Es tut mir leid.«
Nach dieser unerwarteten Eröffnung sagt er wieder eine Weile gar nichts. Ich werde ihm nicht helfen! Eine Entschuldigung ist das Mindeste, was du verdient hast, Lena. Lass ihn noch wenigstens zweimal sagen, dass er seinen blöden Auftritt bereut, bevor du ihn erlöst! Dass ich noch vor einer Sekunde nicht nur nicht mit einer Entschuldigung, sondern sogar mit einer neuen Abfuhr gerechnet habe, vergesse ich spontan.
Ich habe mich in der Entfernung ein wenig verschätzt, Dr. Thalheim biegt bereits in meine Straße ein. Wie können wir schon da sein?! Nein! Wir müssen doch reden, er soll sich entschuldigen, mir sagen, wie albern er sich verhalten und wie sehr er mich vermisst hat! Stopp, stopp, kann jemand mit einem riesigen Nudelholz kommen und meine schäbige kleine Straße etwa 200 Kilometer länger walzen?!
Thalheim fährt nicht bis zu meinem Haus. Stattdessen bremst er am Anfang der Straße. Und jetzt? Was wollte er denn?! Mich wirklich nur nach Hause fahren? Einmal »Tut mir leid« sagen und das war’s?! Und was willst DU eigentlich, Lena?! Am besten, du steigst jetzt aus!
Ich habe schon die Hand am Türgriff, als er mich endlich ansieht. Und unter diesem Blick schafft mein Hirn es einfach nicht, den Befehl Tür öffnen zu meiner Hand durchzustellen.
»Es tut mir wirklich leid«, sagt seine warme, sanfte Stimme. »Es war unverzeihlich und ich kann mich nur entschuldigen. Ich hoffe, dass Sie mir das nicht nachtragen, Lena!«
In meinem Kopf herrscht ein tsunamiartiges Gedankenchaos. »Sie« und »Lena«. Distanz. Gleichzeitig entschuldigt er sich für seine Kühle beim Mittagessen und »nicht nachtragen« heißt ja wohl, dass es anders weitergehen soll. Wie denn?! Will er sagen, dass er beim nächsten Mal eine Begrüßung findet, die einer Wir-haben-uns-geküsst-Verbindung angemessen ist? Aber: Was wäre denn angemessen? Thalheim sieht mich an. Wartet er darauf, dass ich irgendwas sage? Sind irgendwo noch Worte verfügbar? Hilf ihm, Lena!
»Ich war schon … überrascht«, sage ich. »Enttäuscht« klingt zu sehr nach unglücklich verliebtem Teenager. »Überrascht« wirkt hoffentlich erwachsener, wie: Eigentlich können wir uns doch mal küssen und dann trotzdem Freunde sein. Okay, ich will nicht »Freunde sein«. Ich sehe ihn an und will »Verliebte sein«, sofort und für immer. Aber ich will ihn auch nicht verschrecken. Seine Entschuldigung hat wohl Überwindung genug gekostet. Kann ich ihm irgendwie begreiflich machen, dass ich ihn am liebsten einfach nur wieder küssen würde?
»Überrascht …«, wiederholt er. Hab ich das gesagt?! So was Dummes, das klingt ja wirklich, als hättest du einen Kniefall in der Cafeteria erwartet! Zwei Ärzte, die ihre Souveränität in einer Klinik voll tratschender Schwestern wahren wollen, küssen selbstverständlich heimlich! Aber gesagt ist gesagt, ich nicke. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, sagt er. »Es wird natürlich nie wieder etwas Vergleichbares vorkommen und ich hoffe, wir können die Situation vergessen.« Hey, jetzt klingt es doch fast, als verspreche er, bei der nächsten Cafeteriabegegnung wirklich auf die Knie zu fallen. Ist ja gut, ich vergesse das blöde Mittagessen! Schau mich nur noch eine Sekunde so an! Dr. Thalheim räuspert sich. »Ich hoffe, wir gehen weiterhin professionell miteinander um!« Natürlich, ich nicke gebannt. Ich habe gar nichts gegen eine heimliche Romanze. Können wir uns jetzt küssen?!
Ich lehne mich noch ein wenig mehr in seine Richtung, kann den Blick nicht von seinen dunkelblauen Augen abwenden. »Wir werden uns ja ohnehin nicht mehr oft sehen.« Peng. Ich erstarre. Eiskalt. Es fühlt sich an, als sei gerade die Frontscheibe gesprungen, als säße ich plötzlich im eisigen Wind, mit Tausenden winziger scharfer Glassplitter überzogen.
Ganz langsam dringt in mein verblendetes Mädchenhirn durch, was er mir sagen wollte. Viel zu langsam.
Er hat sich nicht für seinen kühlen Auftritt in der Cafeteria entschuldigt. Sondern für den Kuss. »So was wird nie wieder vorkommen« heißt nicht »Ich werde mich in Zukunft zu dir bekennen«, sondern »Wir werden uns nie wieder küssen«. Mit »professionellem Umgang« meint er nicht »vor den anderen« sondern »Du und ich werden den Kuss vergessen. SIE und ich«.
Die Tür öffnen! Jetzt! Aussteigen, nach Hause gehen. Ins Bett legen, sterben.
Ich kann mich nicht bewegen. Er sieht mich an, immer noch. Still. STEIG AUS, Lena! Bevor ER dich bittet! Ich kann nicht. Ich kann nicht wegsehen. Er sieht auch nicht weg. »Es tut mir wirklich leid«, sagt er noch einmal. Weiß er nicht, dass Dinge, die so oft wiederholt werden, irgendwann gar nicht mehr glaubwürdig klingen? Irgendwie wirkt er traurig.
Das ist doch Quatsch. Ich öffne die Tür, endlich gehorcht der Körper, ich steige aus. Stehe auf der Straße. Das war’s. 200 Meter nach Hause, das schaffst du jetzt auch noch.
Als ich den ersten Schritt gemacht habe, klappt hinter mir die Autotür. »Dein Schal …«, sagt er. Ich bleibe stehen. Mein Schal. Ich hatte ihn in der Hand, als ich einstieg, jetzt habe ich ihn nicht mehr, also hat er wohl recht und tatsächlich meinen Schal. Wenn ich das irgendwann in einem anderen Universum Jenny erzähle, wird sie sich kaputtlachen. Und sicher nicht glauben, dass ich ihn nicht absichtlich liegen ließ. Oder ist es möglich, dass mein Unterbewusstsein da tatsächlich ein wenig nachgeholfen hat? Auf jeden Fall darf der Schal nicht bei ihm bleiben, ich trage ihn schrecklich gern und werde niemals an Thalheims Büro klopfen und ihn wieder einfordern können. Also bleibe ich stehen.
Eine Sekunde später ist er bei mir, den Schal in der Hand. Der ist wirklich schön, aber vielleicht opfere ich ihn doch, denn in diesem Moment geht mir durch den Kopf, dass ich ihn wohl nie wieder tragen kann.
Irgendwie hilflos strecke ich die Hand aus. Gib ihn mir und verschwinde, damit ich ins Bett gehen und sterben kann. Eingewickelt in den schönsten und grässlichsten Schal der Welt.
Thalheim tritt noch einen Schritt näher. Er gibt mir den Schal nicht. Er legt ihn mir um. Das Glassplittergefühl kommt zurück, jetzt aber ist es, als wären all die winzigen Scherben aus kribbeligem Zucker. Was wird das denn?!
Er sieht mich an. Wortlos. Aber ist in einem Schweigen schon mal so viel gesagt worden? Und dann küsst er mich.