Die Liebe ist einfach nicht normal. Oder ich bin nicht normal. (Nett, dass du an dem Wort »Liebe« überhaupt nicht zweifelst, Lena!) Im einen Moment bin ich schon entschlossen zu gehen. Ich warte auf keinen Fall die halbe Nacht auf einen Oberarzt, der offenbar oben noch seine Computertastatur mit dem Zahnstocher reinigt, nur um Zeit zu schinden. Im nächsten Moment gestehe ich mir ein, dass ich sehr wohl bis zum Morgengrauen warten würde. Obwohl mir kalt ist. Aber solange ich hier bleibe, besteht immerhin noch die Chance, dass wir uns sehen – und wenn es zum Sonnenaufgang ist.
Ich bemühe sogar das gute alte Orakel: Wenn jetzt drei Männer nacheinander rauskommen, heißt das, es gibt genug Männer auf der Welt und ich soll gehen. Aber als drei Männer nacheinander die Klinik verlassen, beschummle ich mich selbst und zähle einen eigentlich noch ganz rüstigen Opi einfach nicht als Mann. Und dann, ganz plötzlich, legt mir jemand die Hand auf die Schulter, eine weiche Stimme sagt: »Bitte verzeih mir« und alles ist vergessen.
Zehn Sekunden später sitze ich in seinem Wagen, umgeben von dem Geruch nach Leder und seinem Aftershave. Er fährt schweigend vom Parkplatz, sieht nur kurz zu mir herüber und lächelt – und mir ist nicht mehr kalt. »Der Chef«, sagt er. »Es ist mir noch nie so schwergefallen, ihm zuzuhören. Ich dachte die ganze Zeit nur daran, dass du wahrscheinlich in dieser Sekunde aufgibst und gehst.«
Wow. Das haut mich fast um. Tut mir leid, da bin ich Mädchen. Ich habe noch nie etwas so liebevoll Vertrauliches von ihm gehört.
Leider hat Dr. Thalheim wohl auch gemerkt, dass das jetzt erstaunlich gefühlvoll klang. Er räuspert sich und sagt erst mal eine Weile nichts mehr. Mann, er weiß doch inzwischen, wie erschreckend kurz der Weg zu meiner Wohnung ist! Wie viel Zeit will er sich denn lassen? Mich beschleicht das Gefühl, dass er einfach nicht weiß, wie er anfangen soll – und das ist ja immer ein schlechtes Zeichen. Soll ich also? (Ich könnte ja mal sagen, dass das alles nur an den Neurohormonen liegt. Und man dagegen leider gar nichts tun kann …)
»Lena, das geht nicht«, sagt er in diesem Moment, ohne mich anzusehen. Mir bleibt die aufmunternde Hormonbemerkung im Hals stecken.
Danke, Herr Oberarzt. Diese kalte Dusche hatte ich ja heute erst einmal. Und ich hatte mich fast davon erholt. Schlagartig friere ich wieder. Warum hat er mich nicht für alle Zeiten im Regen auf dem Parkplatz stehen lassen? Er hat sich nicht mal eine neue, etwas freundlichere Formulierung ausgedacht. Und in spätestens einer Minute erreichen wir meine Straße – und sind keinen Schritt weitergekommen. Nur einen großen Satz näher an eine Erkältung und ein fieses Gefühlstief. Dann steige ich jetzt aus, gehe den Rest des Weges zu Fuß, so langsam ich kann, und hole mir wenigstens eine richtige Grippe. Gerade als ich ihm das mitteilen will, fährt er rechts ran.
»Ich kann das nicht«, sagt er leise. Ich will aussteigen. Sobald du draußen im Regen stehst, darfst du anfangen zu heulen, Lena. Nur jetzt noch nicht. Er sieht mich an. Bitte noch nicht weinen, Lena!
»Ich bin nicht der Typ für so was. Es würde gegen all meine moralischen Prinzipien verstoßen.« Seine Stimme klingt ruhig. »Etwas zwischen uns könnte immer nur heimlich sein. Und das will ich nicht.« Ach so, das will er nicht? Das konnte ich ja nicht ahnen. Na dann Entschuldigung. Oh Mann, zerr doch deinen Eiskratzer aus dem Handschuhfach und ramm ihn mir ins Herz!
Offenbar hat wieder jemand meine Gedanken laut ausgesprochen, denn er sieht mich an und lächelt traurig. »So meine ich es nicht, Lena. Es geht nicht um mich. Ich fände es deinetwegen falsch.« Quatsch! Um MICH sollte man sich sorgen, wenn er mich jetzt hier abserviert. Hatte ich nicht erwähnt, dass ich dann eine Woche im Regen stehen bleiben werde?
Er nimmt meine Hand. »Es wäre nicht fair dir gegenüber. Verstehst du nicht, Lena? Wir müssen vernünftig sein.«
Ich will nicht vernünftig sein. Ich will, dass du meine Hand hältst und mir sagst, dass wir alles hinkriegen, dass du es auch willst, dass wir einfach nicht anders können. So ist eben die Liebe. Die Heimlichkeit ist mir doch schnurzpiepegal. Ich würde meinen Namen ändern und eine rote Perücke tragen, wenn das möglich macht, dass ich dich jeden Tag treffen darf.
Aber er nimmt seine Hand von meiner und wendet sich ab. Ich steige aus. Länger kann ich die Tränen wirklich nicht mehr zurückhalten. Ganz langsam gehe ich die Straße hinunter, der Regen ist mein treuer Begleiter. Warum fährt er nicht weg? Nur noch zwei Schritte, dann habe ich die Haustür erreicht. Aufschließen, die Treppe hinaufgehen, die nassen Sachen loswerden, heiß baden, sterben.
Ich scheitere schon am ersten Punkt. Ich kann meinen Schlüssel nicht finden. Ich krame in meiner Tasche. Wer hat sie derart mit nutzlosem Klimbim vollgestopft? Ich finde Streichhölzer, Handcreme, eine verzweifelt gesuchte DVD. Keinen Schlüssel. Thalheims Auto steht immer noch da. Denkt er jetzt, ich zögere die Sache hier hinaus, um ihn zum Aussteigen zu bewegen? Ich schau am besten gar nicht mehr hin. Taschentücher, Fahrpläne, Sonnenbrille. Glückskuli. (Na toll! TU doch was!) Portemonnaie, Handy, Labello. Kein Schlüssel. Ich strecke genervt die Hand nach der Klingel aus. Und kippe dabei den Inhalt meiner geöffneten Handtasche auf die Straße. Klar. Das ist es, was Lena passiert, wenn sie einen großen traurigen Abgang versucht.
Ich knie auf dem nassen Gehsteig und sammle meinen Krimskrams ein. Und jetzt heule ich doch. In einer Pfütze liegt mein Namensschild. Ich denke kurz darüber nach, hier sitzen zu bleiben und einfach zuzusehen, wie sich mein Name auflöst. Meine Knie sind nass, mein Schal schwer vom Regenwasser, vielleicht löse ich mich auch gleich auf.
Da liegt mein Schlüssel auf dem Kellergitter, blinkt unschuldig. Eine Hand legt sich darauf. Reicht mir den Schlüsselbund. Thalheim. Seine Hände ziehen mich von der Straße hoch.
Er sieht mich an. Er wirkt traurig, irgendwie hilflos und allein. Ich kann nicht anders, ich halte seine Hand fest. Es regnet. Ich bin nicht der Typ für kitschige Abschiede. Ich WILL keinen Abschied! Und wenn in einer Minute alles noch viel schlimmer wird und seine moralischen Prinzipien ihm gleich ins Genick springen … ich kann seine Hand nicht loslassen … und er macht keine Anstalten wegzugehen. Und deshalb lasse ich mich einfach fallen.
Er nimmt mich in die Arme. Ist warm, groß, drückt mich an sich. Ich vergrabe meinen Kopf an seiner Schulter und möchte für immer hierbleiben. Wir sagen nichts, stehen einfach da, er hält mich fest. Jetzt bitte für immer die Zeit anhalten.
Leider hat mein Welt-Stopp-Knopf noch nie funktioniert. Irgendwann wird seine Umarmung lockerer, er sieht mir in die Augen. »Verstehst du, dass es nicht geht? Das hier ist alles, was wir je haben könnten. Dass ich dich ab und zu nach Hause fahre.« Ich sehe ihn an. Und antworte leise, dass mir das absolut reicht.
Ich bin einfach nicht normal.