Wieder ein Morgen, an dem ich erst kurz vor dem Arbeitsaufbruch zu Hause ankomme – mit latent schlechtem Gewissen. Noch vor einer Stunde hatte ich fest geplant, wenigstens zum Frühstück da zu sein. Meine Freundinnen aber sind allerliebst und behaupten, meine Abtrünnigkeit nicht übel zu nehmen. »Wir sind doch froh, dass wenigstens eine von uns glücklich verliebt ist«, sagt Isa – das ist jedoch nicht gerade der beste Weg, meine Gewissensbisse zu beruhigen.
Zum Glück widerspricht Jenny dieser pessimistischen Einschätzung; seit sie sich gestern Abend mit Paula ausgesprochen hat, ist sie wieder glänzender Laune. Sie bekräftigt, dass sie auch »angenehm zufrieden verliebt« sei, nur eben doppelt. »Ich schwöre euch«, erklärt sie mit der ureigenen Jenny-Logik, »wenn ich mich für einen entscheiden müsste, würden mir beide nur noch halb so gut gefallen!« Dass das ziemlich unfair ist, will sie nicht hören, so einfühlsam Isa ihr auch ins Gewissen redet. »Na weißt du, DU solltest die Vorteilhaftigkeit einer Doppelbeziehung doch gerade nachvollziehen können!«, lacht Jenny. »Wenn von MEINEN Freunden einer wegziehen will, habe ich immerhin noch den anderen.«
Meine Freundinnen wollen alles über den Abend bei Tobias wissen und ich tue nichts lieber, als ausführlich zu berichten. Die Geschichte vom unbenutzten Kamin können sie kaum glauben. »Er wird doch in den vier Jahren mal eine Frau mit heimgebracht haben«, sagt Jenny kopfschüttelnd. »Ist er echt SO unromantisch, dass er nicht mal zur Frauenbeeindruckung Feuer macht?« Ehrlich gesagt ziehe ich die Vorstellung vor, dass er sonst KEINE Frauen mitgebracht hat.
Die Morgenbesprechung ist zum ersten Mal locker und angenehm; Dr. Thiersch ist ungewohnt guter Stimmung, als sie die PJler um ihre OP-Berichte bittet. Sabrina glänzt mit ihrem Report von der Proktokolektomie, sie durfte nicht nur die Bauchdecke verschließen, sondern sogar die Öffnungen der Dünndarmschlinge mit der Haut vernähen. Sie gibt nicht wirklich an, dafür nimmt sie die Sache viel zu ernst. Aber sie hebt deutlich hervor, dass die Chirurgen ihr besonderes Vertrauen geschenkt haben und vergisst nicht, zu erwähnen, wie sehr sie das ehrt. Ich finde es gerade wegen der herausgestellten Bescheidenheit einfach ätzend. (Nichts ist doch schlimmer als Angeberei in Demut verpackt!) Wenn Dr. Thiersch Sabrinas Wichtigtuerei missfällt, zeigt sie es nicht. Aber statt ihren Schützling besonders zu loben, erteilt sie Isa das Wort. »Sie haben gestern hautnah erfahren, was es bedeutet, wenn während einer OP Komplikationen auftreten, und sich vorbildlich verhalten. Ich glaube, Ihre Schilderung könnte für Ihre Kollegen etwas wertvoller sein als der vierte Bericht von einer planmäßig gelaufenen Muster-OP.« Sabrina sackt in sich zusammen wie ein angestochener Jahrmarktsballon; das war subtil, aber eindeutig.
Zum Glück ist Isa viel zu nett und bescheiden, um die Situation auszunutzen, sie berichtet gewissenhaft, ohne ihre Unsicherheit zu unterschlagen. Zur Belohnung bekommt sie heute die erste der beiden vakanten OPs zugesprochen. Es fehlt nicht mehr viel und meine zurückhaltende Freundin wird zum neuen Liebling der Oberärztin. Sabrina wird in der Beliebtheitsliste offenbar zurückgestuft, denn die zweite OP geht an Ernie. Ich sehe, wie Sabrinas hoffnungsvolles Lächeln erstirbt, als Dr. Thiersch an ihr vorbei auf den Konkurrenten zeigt, und habe schon fast wieder Mitleid.
Weder zu Jenny noch zu mir und meinem neuen Patienten sagt Dr. Thiersch ein einziges Wort. Jenny traut sich immerhin, bei der Absprache der Tagesaufgaben zu erwähnen, dass sie zwischendurch ihre Patientin auf der ITS besuchen möchte. Weil Paula noch viel schläft und zudem eine Menge Untersuchungen über sich ergehen lassen muss, wird Jenny ihren Besuch danach richten, wann Paula frei und wach ist; die ausgefallene Zeit arbeitet sie aber nach. Dr. Thiersch nickt nur. Ich wage es nicht, mein eigenes unangesprochenes Thema in die Runde zu werfen, sondern entscheide mich, Professor Dehmel einfach unkommentiert weiterzubetreuen. Wenn Dr. Thiersch findet, ein KHK-Patient sei zu hoch für mich, soll sie das doch selbst ansprechen! (Okay. Vielleicht hoffe ich doch ein wenig, dass ich so stillschweigend meinen Platz festige und schließlich wie selbstverständlich zu der Bypass-OP eingeteilt werde?)
Bevor an Professor Dehmels OP zu denken ist, sind noch jede Menge Befunde und Untersuchungen notwendig. Ich begleite den alten Herrn zum Röntgen und zur Ultraschalluntersuchung der hirnversorgenden Arterien. Er ist auch heute sehr höflich und trotz der anstrengenden Untersuchungen beherrscht charmant. Eine Unterhaltung über das Studium zu seiner und zu meiner Zeit führt dazu, dass er es sich zur Aufgabe macht, mir ein Promotionsthema auszusuchen. Er selbst ist Professor der Physik und hat von der Medizin und unserem Studienablauf gar nicht so viel Ahnung. Aber jedes Mal, wenn ich ihn von einer weiteren Untersuchung in Empfang nehme, hat er sich einen neuen Themenvorschlag überlegt. Die meisten haben mit Physik zu tun. Mal geht es um Strahlenschutztechniken, mal um Nuklearmedizin; als ich ihn von der Sonographie abhole, ist er sogar der Meinung, ich könnte ein ganz neues bildgebendes Verfahren entwickeln, das CT, MRT und Ultraschall alt aussehen lässt. Dass ich in Physik nie geglänzt und keinerlei Zukunftsabsichten in diesem Bereich habe, übergeht er. »Sie entdecken sicher bald Ihr Herz für die medizinische Physik. Ich fördere Sie doch!«, erklärt er entschieden. Ich erwähne nicht, dass beides nichts für mich ist – und deute seine Bemühungen einfach dahingehend, dass er mich gern hat und vielleicht irrigerweise meint, er müsse mir für die Betreuung etwas zurückgeben. Gestern hat er mit demselben Ehrgeiz das Thema »Telefonnummern für die Testamentsbeilage« verfolgt, heute nun sammelt er Promotionsthemen; ich schätze, er braucht einfach was zu tun. Wenn es ihn von der Angst vor der OP ablenkt, werde ich bestimmt nicht sagen, dass seine engagierte Themenausformulierung an mich verschwendet ist!
Am unangenehmsten für meinen Patienten ist die Herzkatheteruntersuchung, bei der die Schwere der Verengung beurteilt werden soll. Dies ist nicht ganz risikofrei, ich bin ziemlich aufgeregt, als ich mit dem Professor ins Katheterlabor hinunterfahre. Natürlich führe nicht ich die Untersuchung durch. Aber all die vorbereitenden Tests, die Komplikationen bei der Herzkatheteruntersuchung ausschließen sollen, unterlagen meiner Verantwortung. Zum ersten Mal. Ja, ich habe alles mit Dr. Gode abgesprochen, jeden Befund kontrollieren lassen. Die ganze Mittagspause habe ich damit verbracht, alles noch und noch mal durchzusehen. Ich HABE nichts vergessen. Trotzdem. Als ich die Bleischürze anlege, muss ich schwer durchatmen. Ich wäre um einiges entspannter, hätte man mir im Studium nicht zu jeder Untersuchung auch die Letalitätsrate beigebracht. Ich weiß, wie viel schiefgehen kann. Beruhige dich, Lena, eine Kontrastmittelallergie ist nicht bekannt, Dehmels Nieren sind in Ordnung und die Schilddrüse hast du auch untersuchen lassen! Kannst du jetzt bitte lockerlassen, du machst sonst noch deinen Patienten verrückt!
Eine Schwester spritzt dem Professor ein Beruhigungsmittel, ich trete noch einmal zu ihm, bevor die Schleuse für den Katheter eingeführt wird. »Keine Sorge«, sage ich – unter dem Vorwand, nur IHN zu beruhigen –, »es wird alles gut gehen.« Wie sieht die Punktionsstelle aus? Es kann Nachblutungen geben. Gefäßanomalien. Ein Aneurysma … Mann, Lena, lass das!
»Wissen Sie was?«, fragt der Professor nachdenklich. »Wenn ich das hier so sehe, denke ich, Sie sollten doch im Strahlenschutz forschen …« Er lächelt und schließt die Augen, das Beruhigungsmittel wirkt.
»Mal sehen«, antworte ich leise. Und bin endlich auch ganz ruhig.
Die Ärztin lässt mich die Koronarangiographie am Röntgenbildschirm mit ansehen und beurteilen. Die Gefäßverengung ist gut zu lokalisieren, die Ärztin nickt mir zu. »Wann operieren Sie denn den alten Herrn?« Am Montag. Wenn alles gut geht. Sie lächelt. »Na dann legen Sie ihm eine schöne Umleitung, dann wird er bestimmt hundert.« Ich lächle zurück. Danke! An dich, dass du meine kurzfristige Panik gar nicht bemerkt hast und glaubst, ICH könnte so eine OP durchführen. Und an mich selbst, dass ich mittlerweile offenbar meine Unsicherheit so weit im Griff habe, dass ich schon mal den Patienten UND eine erfahrene Kardiologin darüber hinwegtäuschen kann. Dann ist es vielleicht wirklich nur noch ein kleiner Schritt, bis ich auch mich selbst nicht mehr so gemein nervös mache.
Zum Feierabend bin ich ziemlich erschöpft. Doch gerade als ich zum Dienstende-Aufatmen Luft hole, tickt ein typisches Absatzklackern über den Gang, Oberärztinnenabsätze. Eine winzige Kopfbewegung. »In mein Büro!«
Okay, Lena, jetzt gilt es. Du weißt, worum es gehen wird. Du hast dir nichts vorzuwerfen, SIE hat dir nichts mehr vorzuwerfen. Du hast dir den Patienten nicht geschnappt, sie hat ihn dir gegeben. Und auch wenn es dich gestern noch entsetzt hat – letztlich ist es genau das, was du möchtest: die OP des Professors.
»Wir machen also am Montag den Bypass«, sagt Dr. Thiersch und überfliegt Dehmels Akte. »Alles so weit vorbereitet?« Ich nicke. Weil sie nicht aufschaut, räuspere ich mich und bejahe noch einmal laut und deutlich. Sie steht nicht auf langes Palaver, das weiß ich inzwischen. Sollte ich trotzdem noch mal aufzählen, welche Stationen mein Professor und ich im Einzelnen durchlaufen haben? Nur wegen der Kompetenzwirkung? Ich liefere eine Zusammenfassung, endlich sieht sie auf. »Gut gemacht.« Punktsieg, Lena! Dein erstes Lob von der Eisprinzessin! Es kommt mir vor, als hätte noch nie im Leben jemand irgendeine meiner Taten anerkannt, so gut fühlt sich ihre Bestätigung an. Ich wette, ich strahle heller als ihre Designer-Neon-Schreibtischlampe.
Dr. Thiersch sieht in die Akte, runzelt die Stirn. Was hat sie? Glückskuli, steh mir bei! Habe ich Blödsinn geschrieben? Es sind ziemlich viele Seiten mit Bemerkungen in meiner Schrift. Zu viele? Wirkt das unsicher? Der Blick, der mich gleich darauf trifft, ist nicht wirklich böse. Aber bitterernst. »Das ist eine hoch komplizierte OP, Frau Weissenbach. Keine Anfängerstunde.« Ich nicke eilig, das ist mir klar. »Lass sie warnen, das muss sie doch«, sagt die Stimme in meinem Kopf. »Sie kann ja nicht einfach sagen: Hier, hurra, ein Bypass und viel Spaß!« Ich merke, dass ich bereit bin, mir die OP jede Menge Ermahnungen kosten zu lassen. Meinetwegen kann sie auch eine fünfzehnseitige schriftliche Anerkennung ihrer Risikoaufklärung verlangen, ich würde es tun. Ich will diese OP.
Aber ich habe mich getäuscht. Es geht ihr nicht darum, mir klarzumachen, dass das etwas ganz Besonderes ist und ihr wohlwollendes Gönnen verlangt. Es folgt etwas anderes. »Dass Sie als Anfängerin ohne jede Profilierung eine solche OP bekommen sollen, ist allgemein auf Unmut und Unverständnis gestoßen«, sagt Dr. Thiersch und klingt fast bedauernd. BEI WEM? Wer hat das gesagt? Ich bin sprachlos. Dr. Thiersch erklärt nicht, von wem die Rede ist. »Sie sehen sicher ein«, sagt sie stattdessen, »dass Sie nicht erfahren genug sind und das leichtsinnig und unberechtigt wäre.«
Als ich wieder auf dem Flur stehe, sind zwei Dinge glasklar: Ich werde bei Professor Dehmels OP nicht assistieren. Und irgendjemand von meinen Kollegen war sich nicht zu schade, bei der Oberärztin gegen mich vorzusprechen. Ich weiß nicht, was mich mehr kränkt. Ich fühle mich leer, enttäuscht, völlig erledigt. Ich verlasse die Klinik eilig, angetrieben von der Vorstellung, jetzt noch einen der Kollegen auf dem Gang zu treffen und argwöhnen zu müssen, ich würde diese Niederlage ihm verdanken. Ich springe eilig in den Fahrstuhl. Nur weg hier.
Da ist noch was: Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe genickt, vor Enttäuschung wortlos, und bin gegangen. Aus dem Büro geschlichen wie ein Schaf.
»Diese gemeine Kuh«, tobt Jenny; es ist wenigstens ein kleiner Trost, dass sie bei so was immer noch wütender wird als ich selbst. »Rufschädigend ist das! Sie hemmt unsere Entwicklung mit ihrer Eitelkeit! Ihre Lieblinge sammeln ihre Mappen voll und wir dürfen den ganzen Tag nur Wagen rumschieben!«
Es ist gut, dass sie so aufdreht, fast hätte Dr. Thierschs Absage wieder den kleinen Zweifelsfeigling in mir geweckt. Dass ich ja wirklich noch Anfängerin bin, wischt Jenny mit einer energischen Handbewegung beiseite. So wie meine Freundin es darstellt, könnte ich ein Gott am Skalpell sein und würde trotzdem keine Chance bekommen, solange ich kein Mann werde oder wenigstens doppelt so viel wiege wie die Oberärztin.
Isa ist ein wenig vorsichtiger, klar, sie hat heute ihre vierte OP bestreiten dürfen und ist auf dem besten Weg, die Vorzeigeassistentin zu werden. Natürlich findet sie es auch schrecklich unfair, dass ich die Bypass-OP nicht bekomme – mehr beschäftigt sie allerdings die Frage, wer bei Dr. Thiersch gegen mich gesprochen hat.
»Vielleicht müssen wir auch so werden?«, fragt sie furchtsam. »Vielleicht sollten wir uns auch einen verbündeten Arzt suchen, der uns OPs zuschiebt und die anderen beiseitedrängt?« Sie sieht uns ratlos an. Wir sind sprachlos, der Vorschlag passt absolut nicht zu der sanften Isa. »Leider weiß ich überhaupt nicht, wie man so was macht …«, setzt sie gleich hinterher – und das hört sich glücklicherweise wieder mehr nach Isa an.
»Das haben wir doch wohl nicht nötig«, empört sich Jenny. »Wir überzeugen durch ganz andere Werte. Aber den Kopf waschen sollte man der Eisprinzessin trotzdem – und den verlogenen Kollegen erst recht!« Das kann ich nicht, ich fühle mich einfach nur ausgebremst.
»Wenn ich das nächste Mal eingeteilt werde«, schlägt Isa vor, »könnte ich ablehnen und stattdessen dich vorschlagen.« Aber das weise ich ebenso entschieden zurück. Ich werde doch nicht meiner treuen Freundin die schwer verdienten OPs abnehmen!
Jennys Verarbeitungsidee ist typisch; sie hält eine Shoppingtour mit anschließendem Barbesuch für die beste Ablenkungsstrategie. Aber mir steht der Sinn nach etwas anderem. Anlehnen. Getröstet werden. Von jemandem, der vielleicht nicht nur aus freundschaftlicher Loyalität findet, dass ich eine gute Ärztin bin, die eine OP verdient hat und meistern könnte …
Isa und Jenny haben Verständnis, nicht nur weil ich so geknickt bin – und ich gelobe hoch und heilig, das Wochenende mit ihnen zu verbringen, bevor ich mich auf den Weg zu dem grünen Wagen mache, der für mich in den vergangenen Wochen zu einem Synonym für Geborgenheit geworden ist.
Ich lehne an Tobias’ Auto, heute ist mir ganz egal, wer mich sieht. Wenn er doch nur bald käme … der Rest interessiert mich nicht. Leider kommt erst mal jemand anderes. Schwester Jana trottet über den Parkplatz, ihr Gesicht leuchtet verwundert auf. »Was machst du denn hier, Mäuschen?« Ich zucke die Schultern. Haltung, Lena! Du hast dein Geheimnis so lange und mit so viel Mühe gehütet – du wirst es doch jetzt nicht aus purer Erschöpfung preisgeben! Ich erzähle ihr eine laue Geschichte. Sie ist überrascht, dass ich auf meine Freundinnen warte; sind wir nicht zur selben Zeit gegangen? Ich bin zu müde. Auch meine Erklärung, wer warum noch mal hineingegangen sei, gerät etwas lahm. Leider geht Jana nicht, stattdessen schildert sie ausführlich ihre Wochenendpläne, um mir die Wartezeit zu verkürzen. Oh Mann, echt nett, aber könntest du jetzt gehen? Sie tut mir den Gefallen nicht.
Eben überhöre ich ihre Schilderung des wochenendlichen Großeinkaufs, als sich eine Gestalt in einer dunklen Jacke nähert. Meine Aufmerksamkeit ist schlagartig wieder da. Tobias.
»Guten Abend die Damen«, sagt er nett, »kann ich behilflich sein?«
Ich erweitere die blöde Geschichte von meinen verwirrten Freundinnen, die irgendwo hineingehen und nicht mehr herauskommen – nur für Schwester Jana. Dabei möchte ich mich doch einfach nur in seine Arme werfen und in aller Ausführlichkeit die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen (und meiner Oberärztin im Besonderen) bejammern. Tobias sieht an mir vorbei, mustert die Schwester und sagt dann etwas schroff: »Sie werden sich schon finden. Guten Abend.« Er steigt ein.
»Fräulein Weissenbach«, er fährt das Fenster nur wenige Zentimeter herunter, »Ihre Freundinnen sind wahrscheinlich schon an der S-Bahn. Es ist ziemlich idiotisch, hier unsinnig lang in der Kälte herumzustehen und sich eine Grippe zu holen. Sie haben eine Verantwortung Ihren Patienten gegenüber.« Damit lässt er das Fenster wieder hoch und fährt davon.
»So ein gefühlloser Klotz«, echauffiert sich Schwester Jana. »Er hätte doch fragen können, ob er uns mitnehmen soll!« Sie schnaubt empört. Ich aber muss mich ganz schön zusammenreißen, ihrer Entrüstung beizupflichten. So schnell es unauffällig geht, verabschiede ich mich von der Schwester und eile zur S-Bahn-Station. Und dort wartet mit laufendem Motor der grüne Wagen.
Tobias fängt mich auf. Ich sitze noch keine fünf Minuten im Auto, als ich bereits meine ganze OP-Absage-Enttäuschung vor ihm ausgebreitet habe. Er versteht meine Wut, meine Selbstzweifel aber blockt er ab. »Verlass dich drauf, Lena«, sagt er, »wenn du nicht gut wärst, würde dich niemand als Bedrohung empfinden. Es ist widerlich, dass solcher Neid und Konkurrenzkampf unter den Ärzten herrscht. Aber unsere Vorstellung von Ärzten, die Hand in Hand zum Wohl des Patienten arbeiten, ist nicht unbedingt alltagstauglich.«
»DU bist nicht so«, wehre ich mich. »Und ich will auch nicht so sein.«
Er lächelt mir zu. »Dann lass dich nicht beeinflussen. Versuch stattdessen, besser und besser zu werden, bis sie nicht mehr an dir vorbeikönnen. Und dann, wenn du selbst die Entscheidungen triffst, denk hieran zurück und mach es anders.« Natürlich, das klingt einfach, logisch, richtig. Wenn es doch nicht so schwer wäre! Tobias grinst plötzlich. »Wollte sich nicht jemand für die Chirurgie ein dickeres Fell zulegen?«
Ich lehne mich an ihn. »Kann ich das am Montag machen?«
Er nickt. »Du bist gut, Lena. Sei einfach, wie du bist.«
Es blubbert in meinem Bauch, in meinem Kopf. Ich bin gut. Es ist nicht nur, dass er das sagt. Sondern, dass er es so sagt, dass ich es ihm einfach glauben kann.
»Ich muss noch ein bisschen arbeiten«, sagt Tobias nach dem Essen. »Stört es dich?«
Ich schüttle den Kopf. Es tut so gut, hier zu sein. Es ist genauso schön, einfach an seinem Kamin zu sitzen und zuzusehen, wie er konzentriert ein paar verspätete Berichte schreibt. So normal. Als ob ich hierhergehöre. Ich schnappe mir ein paar überfällige PJ-Protokolle und mache mich ebenfalls an die Arbeit. Eine Weile sitzen wir schweigend über unseren Papieren, er am Schreibtisch, ich auf der Couch, mit einer dünnen Wolldecke zugedeckt. Zwischendurch muss ich immer wieder aufsehen, hinaus auf die verschneiten Bäume, hinüber zu Tobias. Ich weiß nicht, warum ich zu Hause mit den Protokollen nie so gut vorankomme. Es tut mir leid, mein heiß geliebter Glückskugelschreiber, du bist offenbar nicht ganz allein dafür verantwortlich, wie schnell mir die Arbeit von der Hand geht. Hier fühlt es sich richtig an. Wir sind zwei Ärzte, die nach Feierabend den unvermeidlichen Papierkram erledigen. Zwischen zwei Berichten sieht er auf. »Schön, dass du da bist«, sagt er, einfach so, dann schreibt er weiter. Ich könnte platzen vor Glück. Er hat es auch gemerkt!
Am Morgen habe ich den Klinik-Ärger vergessen und bin zappelig wie ein Kind am Geburtstag. Ein endloses freies Wochenende liegt vor mir, unzählbare Möglichkeiten. Ich möchte mit meinen Freundinnen durch die Stadt bummeln, endlich mal wieder zu dritt sein. Ich möchte lesen und in der Badewanne liegen. Und hier sein, ausgedehnt frühstücken, abends am Feuer sitzen.
»Entschuldige«, sagt Tobias, »da ist ein Essen, zu dem ich hinmuss.«
Erst ist die naive Lena am Zug, die im Kopf schon die komplette Garderobe – meine eigene und auch Jennys – auf etwas Oberarzt-Essen-Taugliches durchforstet. »Wann?«, fragt sie voller Vorfreude. Tobias bleibt stumm, sein Blick ist eindeutig, mitleidig. Ach so, »ich« hat er gesagt – und gemeint. Nicht »wir«. Und er schwenkt auch jetzt nicht um und fragt, ob ich Lust habe oder bedauert wenigstens, dass er ohne Begleitung eingeladen ist. Er tut nicht einmal, als wäre es eine schreckliche Verpflichtung, die er ohne mich kaum überstehen wird. Nein, es ist völlig klar, dass er allein geht. Ich fühle mich schrecklich verstoßen. Wie affig, Lena, wie theatralisch, du hast dich doch im Leben noch auf kein Ärzteessen gewünscht. Aber darum geht es nicht. Ich will, dass er mich bei sich haben möchte, ist denn das zu viel verlangt?!
Im Coolbleiben war ich noch nie gut, Tobias merkt sofort, dass ich gekränkt bin. Doch auch dazu sagt er nichts, er nimmt es hin wie die Albernheit eines verwöhnten Kindes – mit dem Erfolg, dass ich noch misslauniger werde. »Komm schon«, sagt er nur, »wir sehen uns am Montag.« Als ob es bloß darum ginge!
Als ich mich verabschiede, ist noch nicht wieder alles gut. Ich gebe mir wirklich Mühe, eine ganz unbeeindruckte, lässige Frau zu sein. Eine, die nicht wegen eines allein verbrachten Abends beleidigt ist. Eine, die wiederzusehen man sich freut. Eine, die man ohnehin schrecklich vermisst, sodass man den freien Abend bereut. Es gelingt mir nicht ganz. Aber er sagt nichts.
An diesem Morgen tut es mir leid, dass ich erst so spät nach Hause komme.