Image22

Jenny hat eindeutig einen Vogel. Anders lässt sich nicht erklären, was ich an diesem Abend in unserer Wohnung vorfinde. Die Wildweihnachtsdeko wirkt richtig blass angesichts der lebenden Wichtel und Engel in unseren Zimmern. Jenny kommt an mir vorbeigetanzt, sie trägt ein blinkendes Rentiergeweih. »Wir haben unsere Adventsparty vorverlegt«, informiert sie mich strahlend. »Im Dezember hat doch immer keiner Zeit!« Stimmt – nur noch wenige Wochen bis Weihnachten. Mal sehen, ob ich dann noch ein einziges Weihnachtslied, -gebäck oder -accessoire ertragen kann, wenn dieser Zirkus so weitergeht. Es riecht nach Keksen, tatsächlich, in der Küche wird gebacken. Getrunken wird aber auch reichlich dazu, die Mädels, die die Kekse verzieren, lachen sich über ihre teils anzüglichen Kreationen schier kaputt. Isa wirkt ebenfalls überfordert von all dem Weihnachtspop, aber dass Tom da ist, steigert ihre Laune und Geduld enorm.

Leider hat Tom den Weihnachtselch mitgebracht, halb-lebensgroß verstopft er unseren Flur. Es dauert nicht lange, bis die ersten Gäste darauf reiten und sich von anderen Gästen auf dem Elch durch die Zimmer schieben lassen. »Ich verstehe, dass du ihn nicht in deiner Wohnung haben willst«, schreie ich Tom über die Musik hinweg zu. »Aber hättest du ihn nicht auf dem Weg nach München an der Autobahn aussetzen können?«

Isa lacht. Tom nicht. Hab ich was Falsches gesagt? Er wird doch nicht an dem blöden Elch hängen?!

Irritiert gehe ich weiter, um herauszufinden, was aus meinem Zimmer so seltsam riecht. Aha, jemand macht Feuerzangenbowle. In der großen Nierenschale, die ich von meinen Lübecker Freundinnen zum Wegzug geschenkt bekam. Ich gehe wieder hinaus. Manchmal schaut man besser gar nicht zu genau hin.

Eine halbe Stunde später bin ich zufällig allein mit Tom in der Küche. Alle anderen spielen in Jennys Zimmer etwas, das »Was hat der Nikolaus im Socken?« heißt und bei dem ausufernd gekreischt wird. Ich nutze die Gelegenheit, mich für die Verunglimpfung des Elches zu entschuldigen – und wie ich vermutet habe, war nicht meine despektierliche Bemerkung der Grund für seine seltsame Reaktion. »Es ist was anderes«, sagt Tom irgendwie traurig. »Ich zieh nicht nach München.«

Ich bin sprachlos. Ohne jede Regung erzählt er, dass er beschlossen hat, den Job abzusagen. Er wird sich um eine Stelle in Berlin bewerben. Wie Tausende von anderen Absolventen. Für Isa.

Ich kann es nicht fassen – und mich zwischen Skepsis und romantischer Rührung gar nicht entscheiden. Wird er denn hier etwas finden? War das nicht ein Traumjob? Tom zuckt die Achseln. »Aber nicht mein Leben«, sagt er ruhig, »ohne Isa.« Und jetzt bin ich doch einfach nur ergriffen. Wie wird Isa sich freuen! Sie betritt im selben Moment die Küche, auf der Suche nach Tom, ahnungslos. Ich lasse die beiden allein.

Es dauert nur fünf Minuten, dann hängt eine überglückliche Isa freudestrahlend an meinem Hals. Erst an diesem ungewohnten Gefühlsausbruch merke ich, wie schwer sie die Trennungsaussicht wirklich belastet hat. »Er bleibt«, jubelt sie, »er bleibt! Jetzt können wir endlich wieder ganz normal und glücklich sein!« Sie stürzt Tom in die Arme und küsst ihn vor aller Augen.

»Dann sind wir ja endlich wieder alle zusammen«, sagt Jenny und tätschelt den Elch. »Lass uns die Daumen drücken, dass er das nicht morgen bereut.«

Aber ich bin nicht gewillt, mir Isas Stimmung trüben zu lassen; wann haben wir sie zum letzten Mal so glücklich gesehen? »Jetzt unke nicht«, weise ich Jenny zurecht. Und dann schiebe ich sie auf dem Elch bis ins Bad.

Der erste Dezember ist ein klarer Morgen. Wir fahren zur Arbeit durch einen rosafarbenen Frühnebel. Die Silhouette des Doms wirkt fast orientalisch, die Gebäude verschwimmen im Nebel. Einzig scharf umrissen sind die Dachfirst-Figuren auf der Museumsinsel. Ein Pferd springt in die rosa Leere. Mittlerweile wird es auch außerhalb unserer Wohnung Weihnachten, überall entlang der S-Bahn-Strecke werden Weihnachtsmärkte aufgebaut, ringsum ragen die Skelette der Riesenräder und Schiffsschaukeln in den nebligen Himmel. Ich frage mich, wer die alle besuchen soll; ist Berlin wirklich so groß oder ist das die typische Selbstüberschätzung? Über die Feiertage bekommen wir frei, Isa und ich wollen heimfahren. Nicht mehr lange, dann werde ich bei Mama und Papa unter dem Tannenbaum sitzen. (Ob Mama enttäuscht ist, wenn ich sie bitte, dieses Jahr keine Weihnachtsdeko aufzubauen?) Welch ein Unterschied zum letzten Jahr … Wissen sie, dass sie eine ganz andere Tochter zurückbekommen? Eine Berlinerin, eine Oberarztfreundin? Eine erwachsene Ärztin?

Die Arbeit vertreibt unsere Heimreisegedanken; der Chefarzt hat sich zur Visite eingefunden. Ich darf Professor Dehmel vorstellen, der gestern von der Intensivstation zurück zu uns verlegt wurde. Die Drainagen sind entfernt worden, Dehmels Herz arbeitet normal. Die Heilung des Brustbeins wird sicher noch sechs Wochen brauchen, so lange bleibt der Professor aber nicht bei uns. Noch vor Weihnachten wird er in eine Rehaklinik verlegt. Bei der Chefarztvisite sagt Dehmel gar nichts, obwohl Dr. Dr. Kreuz ihn mit Namen anspricht und seinen besonderen Tonfall anschlägt, der für Habilitierte reserviert ist (im Weltbild des Chefarztes irgendwie eine andere Liga Menschen). Professor Dehmel nickt nur desinteressiert. Schon gestern ist mir aufgefallen, dass er sich verändert hat. Erst ist die Vertraulichkeit verschwunden, dann die Scherze, zuletzt die Höflichkeit. Ich weiß, er hat Schmerzen und kommt nur langsam wieder zu Kräften. Wir tun alles, um ihm das zu erleichtern, dennoch ist es eine schwere Belastung für den Körper. Aber, das mag plump klingen, trotzdem: Freut er sich nicht, dass alles überstanden ist? Am Leben zu sein?

Ich muss mir mehr Zeit für ihn nehmen, ihm vielleicht noch einmal erklären, dass die so langsame Heilung ganz normal ist. Ihn irgendwie ablenken. Ich schließe die Visite ab, der Chef ist zufrieden, Dr. Gode zwinkert mir zu. Keiner der anderen scheint zu merken, dass der Professor sich verändert hat.

Bei Paula Schwab bietet sich der Runde ein ganz anderes Bild. Ich habe noch nie erlebt, dass sie mit jemand anderem als Jenny mehr als drei Worte wechselt. Doch heute spricht sie; nicht nur mit dem Chefarzt, selbst mit Dr. Gode. Nein, nicht freundlich, nicht weniger geringschätzig als vorher.

»Wo ist mein verdammter pürierter Seeteufel?«, fragt sie unseren Sonnyboy. Kurz wechseln wir konsternierte Blicke, doch Jenny grinst ihre Patientin an und sagt zum Chefarzt: »Sie können es wahrscheinlich nicht schätzen, aber dass die Patientin wieder Freude an Grobheiten hat – und die Kraft dafür –, ist einer unserer größten Therapieerfolge.« Der Chef stirnrunzelt missbilligend, aber es ist wahr: Paula wird niemals eine höfliche, sanftmütige, ausgeglichene Frau. Wie schön, dass die schwere OP, die Schmerzen und die Angst sie nicht gebrochen haben!

Als ich das nach der Visite bei einem Belohnungskaffee erwähne, grinst Jenny. »Wir müssen Paula unbedingt bitten, das nächste Mal den Chefarzt zu beleidigen!« Ja, meine Freundin hat eindeutig einen Vogel.