Es regnet. Unsere legendäre Floßtour ist keine sechs Wochen her, doch der sonnige Nachmittag, an dem wir in Sommerkleidern über den See geschippert sind, scheint an diesem verregneten Herbstmorgen Lichtjahre zurückzuliegen. Das Laub vermatscht auf den Gehsteigen, wir schnipsen die ersten Kastanien vor uns her, Isa steckt eine als Glücksbringer ein. Vor der OP hat sie nicht so viel Angst, aber für die Vorbesprechung bei Dr. Thiersch kann sie jede Unterstützung brauchen. Wie gut, dass ich den Glückskuli habe. Nicht nur, weil er neben der Schicksalslenkung auch noch nützlich ist. Sondern weil es schrecklich wäre, im entscheidenden Moment feststellen zu müssen, dass der Talisman, bei dem man Zuflucht sucht, ganz armselig verschrumpelt und entzaubert ist. Ich fühle also nach dem Glückskuli. Alles gut, er ist da. Denn ich bin heute ebenfalls nervös. Unser Triff-ihn-unauffällig-Plan scheint im trüben 7-Uhr-Licht nicht mehr ganz so brillant.
Die Vormittagsrunde findet schon ohne Isa statt. Als wir anderen unsere Wagen losschieben, bekommt sie von Schwester Jana einen Tee und die Empfehlung, sich im Arztzimmer noch ein wenig zu sammeln. Unsere Kleine nimmt das Angebot stolz an. Ich wünsche ihr Glück … und beneide sie einen kurzen Moment. Genau so lange, bis ich mit meinem Wagen um die Ecke biege und mir das bekannte Absatzklickern entgegenstöckelt. Dr. Thiersch reißt die Tür zum Arztraum auf – ich kann nur hoffen, dass Isa sich nicht vor Schreck den Tee über den Kittel schüttet – und ruft mit Offiziersstimme hinein: »Assistenz zu mir! Tee wegstellen und ab in den OP!« Ich gehe eilig weiter und bin heimlich doch ein wenig erleichtert, dass es mich nicht als Erste trifft.
Ich beginne meine Runde bei Frau Schneider mit den Gallensteinen. Blutdruck, Temperatur und Puls sind in bester Ordnung; ich muss nur noch die Heparinspritze setzen und die Operationskleidung ausgeben, dann kann die Patientin in den Narkoseraum gebracht werden. Frau Schneider wirkt missmutig; die sonst so freundliche Begrüßung entfällt heute. Um ihr Mut zu machen, erwähne ich noch einmal, dass Isa eine vorbildliche PJlerin mit Bestnoten ist. Und dass zudem ja noch jede Menge erfahrene Ärzte dabei sind. Frau Schneider schüttelt den Kopf. »Es ist völlig okay, dass man sich vor einer OP ein bisschen fürchtet«, sage ich, ganz Profi.
Sie winkt ab. »Ich bin zäh – und ich habe mein Testament gemacht. Was mir fehlt, ist nur der Kaffee!« Ich muss grinsen und endlich schmunzelt Frau Schneider auch. »Dass die Schwester das Frühstück verbietet, leuchtet mir ja noch ein. Aber ohne Kaffee bin ich einfach kein Mensch!«
Na, damit kann ich umgehen. Ich erkläre ihr, dass die Nüchternheit notwendig ist, weil bei der Narkose Mageninhalt in die Lunge gelangen könnte – was zu einer Lungenentzündung oder sogar zu Ersticken führen kann. Und dann ziehe ich die OP-Kleidung aus ihrer Schutzhülle und sage: »Wenn Sie den Kaffee-Entzug bedauern, dann sicher nur, weil Sie DAS HIER noch nicht gesehen haben!« Ich lege den OP-Anzug auf ihr Bett: Ein Kittel, der hinten offen ist, eine Haube für die Haare und die obligatorischen Kompressionsstrümpfe.
Frau Schneider hält den Kittel hoch. »Du meine Güte!«
»Stimmt’s?«, grinse ich. »Nun wünschen Sie sich keinen Kaffee mehr, sondern nur noch, dass Sie schleunigst einschlafen und vergessen, dass Sie das da tragen müssen!«
Frau Schneider schüttelt den Kopf. »Nee, jetzt wünsche ich mir einen Kaffee mit Schuss!«
Mein nächster Patientenbesuch verläuft nicht so entspannt. Frau Jahn, die engagierte Leserin, soll morgen operiert werden. Heute aber hat sie definitiv ein Blutdruckproblem. Besorgt lese ich die Werte ab – und dann riskiere ich noch einmal die hochgezogenen Augenbrauen und frage nach, ob sie etwas belastet. Frau Jahn verneint, selbstverständlich, mit empörter Stimme. »Was glauben Sie, was ich hier tue?! Meinen Sie, ich absolviere nachts heimlich Marathonläufe?!«
Auf so was gehe ich natürlich nicht mehr ein, die Zeiten meiner automatisierten patzigen Antworten sind vorbei. »Ich weiß, Sie lesen nur ganz unschuldig und schreiben Notizen zu Charlotte-Link-Romanen«, entgegne ich – zugegeben, doch ein wenig vorlaut. »Aber das erklärt Ihre extremen Werte nicht!« Frau Jahns ungewöhnlich hoher Blutdruck könnte die OP gefährden; ich fürchte, der Termin wird aufgeschoben werden müssen, bis der Blutdruck stabil gesenkt ist. Gleichzeitig ist ihre Arthroskopie zwar keine überlebenswichtige Operation, trotzdem aber nichts, was man hinauszögern sollte. Ich beschließe, Dr. Gode hinzuzuziehen. Der Stationsarzt bestätigt meine Bedenken; er setzt die Dosis der senkenden Medikamente noch ein wenig herauf, ordnet absolute Ruhe an und bittet mich, Frau Jahn im Auge zu behalten – dann eilt er zurück zum Aufnahmebereich.
Das ist leicht gesagt! Angeblich gibt es bei Frau Jahn ja gar nichts zu beobachten! Ich beschließe, Stichproben zu machen und immer mal wieder überraschend einen Blick in Zimmer 4 zu werfen, um herauszufinden, ob die Patientin wirklich heimlich für einen Marathon trainiert. Vorerst muss ich aber weiter, für Herrn Kohler, die frischoperierte Bauchspeicheldrüse, steht die Nachsorgeuntersuchung an.
Herr Kohler hat zwar die lange OP und seinen Aufenthalt auf der Intensivstation gut überstanden, aber er ist noch sehr schwach und wird über eine Sonde ernährt. Ich nehme ihm Blut ab, bereite ihn auf die radiologische Untersuchung vor und rufe eine Schwester, die ihn in die Radiologie bringen soll. Als ich mit der Blutprobe sein Zimmer verlasse, wird eben Frau Schneider über den Flur in Richtung OP-Saal gefahren. Sie ist bereits sediert, ihre Augen sind ganz schmal. »Alles Gute«, flüstere ich, doch ich glaube, sie hört mich schon nicht mehr. Jetzt wird es also ernst für Isa – ich sende auch ihr ein telepathisches »Viel Glück«. Wann wird es endlich mein Patient sein, der über den Flur geschoben wird? Wann bin ICH diejenige, die barsch zum Händewaschen geschickt wird – und dann endlich die heiligen OP-Hallen betreten darf?!
Ich gebe Kohlers Blutprobe am Tresen ab und Schwester Jana lächelt mich zweideutig an. »Bist du vergeben, Mäuschen?« Ich erstarre. Woher weiß sie es?! Jemand hat uns verraten. Meine herrliche heimliche Affäre ist vorbei, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat!
Ich habe mich wohl unwillkürlich umgesehen, denn Jana schmunzelt. »Schau nicht so erwartungsvoll, er hat weder Blumen geschickt, noch ist er zu Besuch gekommen!« Erwartungsvoll?! »Ich wollte nur wissen, ob du jemanden hast … oder ob du vielleicht den Gang ins Labor übernehmen willst?« Sie lächelt geheimnisvoll.
Im selben Moment tritt Jenny zu uns an den Tresen und ich bewundere mal wieder ihr untrügliches Gespür. »Was gibt’s denn im Labor?«, fragt sie neugierig. »Ich bin eine außerordentlich erfahrene Laborbotin – UND solo.« Hm. Beides hatte ich anders in Erinnerung. Aber das ist eindeutig nicht der Moment, um ihr den charmanten Björn ins Gedächtnis zu rufen. Oder gar das Desaster, in dem ihre Laborbotengänge im letzten Tertial geendet haben.
Schwester Jana lächelt. »Du hast Glück, dass ich zu alt für eine leidenschaftliche Arbeitsplatzaffäre bin. Also … würdest du schnell die Proben nach unten bringen?«
Jenny grinst, schüttelt ihre Locken auf und schnappt sich den Probenträger. Ich sehe ihr nach. Manno! ICH bin eindeutig NICHT zu alt für eine leidenschaftliche Arbeitsplatzaffäre! Aber was interessieren mich die Laborjungs?! Zum Glück fällt Jenny das im selben Moment wohl auch wieder ein; sie dreht sich am Aufzug noch einmal um und ruft: »Lena, wenn du Zeit hast, schau doch bitte vor dem Essen noch mal auf der Inneren rein – die müssen vergessen haben, die Unterlagen von Frau Schwab hochzuschicken.« Damit ist sie verschwunden. Danke! Jetzt liegt es an mir, ob ich mich traue.
Schwester Jana dreht sich um und legt eine Akte auf den Tresen. »Ein ganz schöner Schussel, deine Freundin! Hier ist doch die Schwab-Akte!« Mann! Mann! Mann! Ist das vielleicht gerecht?! Aber ohne Vorwand traue ich mich nicht in sein Büro!
»Na dann ist ja alles okay …«, sage ich lahm. Das Schicksal hat mal wieder entschieden. Gegen mich. Wenn es mir nicht binnen einer Stunde eine andere Möglichkeit eröffnet, Thalheim unverfänglich unter vier Augen zu treffen – und zwar eine, die weder übermäßige Dreistigkeit verlangt, noch Großereignisse wie eine spontane Teleportation aller anderen Angestellten bemüht – werde ich diese halbgare Affäre ein für alle Mal hinter mir lassen. So!
Schwester Jana schlägt die Akte auf. »Ist doch alles da!«, wundert sie sich. »Oder fehlt irgendwas?« Ha, Schicksal – das soll es sein?! Na gut. Ich lasse mir diese Chance natürlich nicht entgehen.
»Ich weiß nicht«, sage ich in gänzlich uninteressiertem Ton und beuge mich über die Akte. Dann tippe ich entschlossen auf die letzte Seite. »Oh doch, Schwester. Hier fehlt das letzte EKG.« Ich sehe sie bedauernd an. »Das brauchen wir aber für die OP-Vorbereitung. Wahrscheinlich war es noch nicht einsortiert, als die Akte hochgeschickt wurde und liegt noch im Arztraum der Inneren.« Und dann, ich bin sehr stolz auf den gelungenen Eindruck von Desinteresse, verspreche ich zwischen Tür und Angel, auf dem Weg zum Mittagessen schnell unten nachzufragen. Mata Hari ist ein Chormädchen gegen mich! Ein katholisches!
Auf dem Flur der Inneren ist es überraschend still, so kurz vor dem Mittagessen. Ich komme – wie immer, wenn man nichts zu verbergen hat – ungesehen bis zu Thalheims Büro und hätte mir den Vorwand also sparen können. Okay … als ich vor seiner Tür stehe, bin ich doch froh, dass ich die Sache mit Paula Schwabs Akte erwähnen kann. Denn plötzlich, als ich die Türklinke schon in der Hand habe, verlässt mich mit einem Mal und schlagartig der Mut. Wie konnte ich mir noch gestern an selber Stelle diesen Unwiderstehliche-Attraktivitäts-Blödsinn einreden? Plötzlich fühlt sich unsere herrliche Vertrautheit beim gestrigen Krankenbesuch gar nicht mehr nach »liebevolles, tief verbundenes Ärztepaar« an, sondern einfach nur nach »2 Mediziner«! (Und ehrlich, Lena: Wäre das nicht eine realistischere Zukunftsaussicht für eure »Beziehung«? Gemeinsame Patientenbesuche? Und keine Knutscherei?) Fest steht: Ich brauche den blöden Akten-Vorwand ganz für mich allein, denn ich muss mir mit aller Kraft selbst einreden, ich sei nur auf der Suche nach verbummelten Unterlagen, damit meine Finger überhaupt dem Befehl Klinke drücken gehorchen. Halt, stopp! Kommando zurück! Man klopft ja wohl an, hinter dieser Tür sitzt immerhin ein Oberarzt. Der vielleicht Besuch hat. Oh Mann, was mache ich, wenn da gerade der Chefarzt bei ihm sitzt? (Die Akte, Lena, stell dich doch nicht so an!) Meine Finger sind offenbar der Meinung, dass man bei einem Oberarzt, den man inzwischen schon mehr als einmal hingebungsvoll geküsst hat, nicht mehr anklopfen muss. Oder sie sind zu langsam, um die abrupt geänderte Anordnung zu verarbeiten. Jedenfalls haben sie die Tür schon geöffnet, bevor ich weiß, wie ich mich bemerkbar machen soll. Ich stehe im Türrahmen – und da ist er. Sitzt an seinem Schreibtisch, schaut auf, wirkt unwillig. Hilfe!
Plötzlich wird sein Gesicht weich, er lächelt fast. »Lena«, sagt er. »Was machst du hier?«
Meine Knie sind aus Pappe. Kein Verlass mehr auf meine Beine. Ich stehe hilflos und warte. Je länger er mich ansieht und nichts tut, umso weiter schreitet die Verpappung fort. Sie breitet sich über meine Arme aus, erreicht den Kopf. Ich fühle mich platt, zwei-Zentimeter-schmal, eine Aufstellfigur mit billigem Vierfarbdruck. Um mich hier wegzuräumen, wird mich jemand zusammenfalten müssen. Warum sieht er mich so an? Platt an den Falzen zusammengelegt, wird der Hausmeister mich unter den Arm klemmen müssen, um die Papp-Lena zu entsorgen.
Sag doch was! Schon knistert es in den Gelenken, gleich geben die vorgefalzten Knicke nach. Ich bringe kein Wort raus, das wäre ja auch zu viel verlangt von einem starren Karton-Aufsteller.
Thalheim steht auf, endlich. Sag DU doch was, Lena! Nein, konzentrier dich lieber darauf, dass du dich nicht genau jetzt einfach zusammenfaltest!
Und dann ist er bei mir, gerade noch rechtzeitig, bevor meine Pappbeine versagen. Er schließt die Tür hinter mir, nimmt mich in den Arm. Und jetzt fühlt sich die Papp-Lena an, als hätte sie jemand über Nacht im Regen stehen lassen, weich und hoffnungslos kipplig. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich an seinen Hals zu hängen.
Es vergehen bestimmt fünf Minuten, bevor wir wieder sprechen. Ich fühle mich immer noch nicht wie auf festem Boden, aber inzwischen ist es ein wunderbares Schwebe-Gefühl. (Wie passiert das nur immer?! Das muss ein Reflex sein. Veränderungen im Körperhaushalt, Neurotransmitter und Neurohormone. Du kannst gar nichts dafür, das hast du doch in der Neurobiologie-Vorlesung gehört, Lena! Du kannst deine Blutprobe auf die Serotonin-Werte überprüfen, wenn du einen Beweis brauchst. Nur die Neurotrophine sind verantwortlich dafür, dass du dich so unvernünftig verhältst! Und, tja, Herr Oberarzt, IHRE ja wohl auch?!)
Als der Kuss vorbei ist, höre ich Schritte auf dem Gang, Stimmen. In einer anderen Welt gehen Leute zum Mittagessen. Er sieht mir in die Augen, ich kann nicht wegschauen.
»Wo, denken sie, bist du?«, fragt er leise. Ich stottere den Quatsch von Paulas angeblich fehlenden Papieren herunter, was interessiert mich, was die anderen denken?! Thalheim schüttelt den Kopf, lächelt aber. »Das hat euch doch sicher niemand abgekauft!«
»Es hat ja keiner gefragt …«, antworte ich.
Er hält immer noch meine Schultern fest. »Ich suche dir ein EKG raus«, flüstert er. Und ich hoffe, dass das erst in einer Million Jahre geschieht. Meinetwegen können wir auch hier stehen bleiben und uns küssen, bis es Mitternacht ist oder alle anderen wirklich teleportiert wurden. Sie sind mir völlig egal.
Ihm leider nicht. Als nach einer viel zu kurzen Minute wieder jemand auf dem Gang vor seiner Bürotür vorbeiläuft, lässt er mich los. Draußen hört man eine ganze Gruppe schwatzender Schwestern, sie kichern und ihre Pantoffeln klackern. Thalheim tritt zurück, sein Gesicht wird wieder fast dienstlich. Das Getrappel auf dem Flur hört gar nicht auf. Mann, ist da draußen Osterspaziergang? Thalheim sieht mich an, wirkt irgendwie traurig.
Ich weiß – schuld sind die trappelnden Kichererbsen vor seiner Tür. Warum können wir nicht in einem Kloster arbeiten? In einem Schweigeorden? (Moment, Lena, in einem Kloster wäre es zu dieser Situation möglicherweise gar nicht gekommen.) Ich wünschte, ich könnte etwas antworten, das seine Sorge zunichtemacht. Es geht sehr wohl! Es geht wunderbar! Weil ich WILL, dass es geht. Es ist ungerecht, es ist abscheulich, dass wir uns nicht küssen sollen, nur weil da draußen zehn hungrige Schwestern vorbeipilgern. Auch wenn sie sich anhören wie eine japanische Fotogruppe. Ich sage nichts, denn seine Miene ist eindeutig. Er findet es falsch und unmöglich. Was tun wir denn jetzt?
Thalheim geht zum Schreibtisch, das Gesicht verschlossen. Er drückt einen Knopf am Computer, der Drucker spuckt ein Papier aus. Ich stehe immer noch regungslos mitten in seinem Büro. Er nimmt das Papier, drückt es mir in die Hand. Abschlussbericht der Patientin Schwab, intern, Verlegung. Was interessiert mich die Patientin Schwab?! »Nimm das mit hoch.« Und jetzt? Okay, ich habe mit der Küsserei angefangen. Aber er hat doch wohl mitgemacht! Ich wende mich zur Tür, meine Beine sind betonschwer, ich bin ein Zinnsoldat in Lebensgröße. Meine Schritte sind langsam, steif. Ich will nicht gehen. Nicht so.
An der Tür hält er mich zurück, berührt meinen Arm. »Lass uns nachher reden, Lena«, sagt er. »In Ruhe.«
Auf dem Gang herrscht wieder Stille, die Essenspilger sind vorbeigezogen. Für einen Moment denke ich erbittert, dass das einfach typisch ist. Wenn ich heimlich küssen will, toben sie ohrenbetäubend vor seiner Bürotür herum – und jetzt, da ich hier mit dem blöden Alibi-Zettel stehe, lässt sich keine Schwesternnase blicken. Eine Viertelsekunde später geht mir auf, dass das mein Glück ist. Denn mir steht wahrscheinlich in riesigen Druckbuchstaben ins Gesicht geschrieben, was gerade in Thalheims Büro passiert ist – so deutlich, dass der kleine blöde Patientenbogen nicht die geringste Chance hat, seine unschuldige Version unserer Begegnung glaubhaft zu machen.
Sicherheitshalber gehe ich nicht in die Cafeteria, die Pause ist sowieso gleich um. Die verbleibenden zehn Minuten brauche ich wohl mindestens, um mich und meine Mimik wieder in den Griff zu kriegen. Hab ich Angst vor dem Gespräch heute Abend? Oder freue ich mich ganz kurzsichtig einfach darauf, ihn zu sehen? Um sieben macht er Feierabend, wir treffen uns auf dem Parkplatz. Nicht im Krankenhaus, natürlich nicht. Es könnte ja wieder eine Horde Klinikpersonal vorbeimarschieren. Er hat nicht gesagt, dass ich auf dem Parkplatz stehen und unauffällig auf ihn warten soll. Nur, dass er mich gerne nach Hause bringen würde, damit wir in Ruhe reden können. Ich muss an unsere letzte gemeinsame Heimfahrt denken. Haben wir uns jetzt zu SO WAS verabredet?
Ich nehme die Treppe nach oben, um einen Moment für mich zu sein. Doch – Irrtum – das Treppenhaus ist schon vergeben. Vom unteren Absatz höre ich ein vertrautes Lachen, über das Geländer ist ein mir bestens bekannter Lockenkopf zu sehen. Jenny. »Ruf doch mal an«, sagt sie. »Vielleicht bin ich ja zu Hause.«
Eine sehr nette Männerstimme versichert, er werde es auf jeden Fall versuchen. Heute Abend um acht. »Dann hast du noch genug Zeit zum Umziehen, bevor ich dich um halb neun abhole.« Na der hat es ja eilig. Leider kann ich den Mann nicht sehen, wenn ich mich nicht lebensgefährlich weit über das Geländer hängen will. Jenny verabschiedet sich mit der Warnung, er möge sich nicht ZU sicher sein, dass sie nicht einfach nur sein Motorrad kennenlernen möchte; der Fremde kontert, sein Motorrad habe keine Geheimnisse vor ihm und er teile gern. Jenny lacht, dann stolziert sie nach oben. Ich warte auf sie und werfe doch noch einen Blick über das Geländer. Aber mehr als einen dunklen Kopf und einen tätowierten Arm gibt es von Jennys Neubekanntschaft leider nicht zu sehen. Dafür biegt jetzt meine strahlende Freundin um die Treppenkurve.
»Super, dass du hier bist«, grinst sie überrascht und beugt sich bedenklich weit über das Geländer. »Schau mal, was ich gefunden hab!«
Ich gebe zu, dass ich es schon versucht habe, es aber außer einem Tattoo nichts zu sehen gab. Jenny winkt ab. »Macht nichts, du kriegst ihn ja heute Abend in voller Schönheit zu sehen.« Sie ist doch immer wieder erstaunlich.
»Wegen des Motorrads?«, frage ich spöttisch, doch Jenny ist weder beleidigt noch findet sie es ungehörig, dass ich gelauscht habe.
»Ein Motorrad ist doch nicht zu verachten«, lacht sie.
»Und der schmucke Björn?«, frage ich. »Bist du nicht heute mit IHM verabredet?«
Jenny sieht mich schulmeisterlich an. »Ein breitschultriger Abenteurer mit Motorrad, Lena! Da muss man Kompromisse machen!« Sie sieht auf die Uhr und findet, dass wir nicht den Fehler machen sollten, zu zeitig zurück zur Arbeit zu kommen. Stattdessen nutzt sie den Pausenrest für eine heimliche Zigarette – und sie will endlich wissen, wie »unser Plan« funktioniert hat. Ich lächle unschuldig und zeige den Patienten-Ausdruck in meiner Hand. »Alles gut, ich hab Paulas Unterlagen.« Jenny ist sprachlos. Und dann bricht alles aus mir heraus. Ich erzähle von den Küssen – und dem seltsamen Ende wegen Schwesterngetrappels.
»Herrlich aufregend«, jubelt Jenny. »Und? Habt ihr euch endlich verabredet?«
Was soll man sagen? Wir sind verabredet. Wir sehen uns nachher. Das klingt toll. Aber ich ahne, was er mir sagen will. Dass es nicht noch mal passieren soll.
Jenny tröstet mich mit ihrem typischen Optimismus, sie behauptet, dass er mir einfach nicht widerstehen kann, sonst hätte mich der sonst so beherrschte Doktor doch nicht schon wieder geküsst. Ihrer Meinung nach wäre das Schlimmste, was mir passieren kann, dass es auf eine heimliche Affäre hinausläuft. Und das findet Jenny fabelhaft romantisch. Ich beschließe, mich vorerst ihrer positiven Denkweise anzuschließen – zumindest, bis mich jemand vom Gegenteil überzeugt.
Zurück auf der Chirurgie erwartet uns eine sehr neugierige Schwester Jana. »Und?«, grinst sie Jenny an. »Zu viel versprochen?« Jenny bestätigt, dass der neue Laborassistent genau nach ihrem Geschmack ist. Schwester Jana findet das großartig. Aufgeregt kneift sie Jenny in die Seite. »Erzähl mir alles!«
Doch Jenny schüttelt den Kopf. »Na hör mal«, lacht sie, »hast du nicht gesagt, du bist zu alt für eine Arbeitsplatzaffäre? Außerdem müssen wir jetzt hopp, hopp zur Visite!«
Ich werfe einen Blick in Richtung OP-Säle. Ist Isa immer noch dort drin? Jana nickt mit bedenklicher Miene. In meinem Kopf blättern die Lehrbuchseiten auf. Eine laparoskopische Gallenoperation dauert doch nicht länger als eineinhalb Stunden. Gut, die sind noch nicht ganz um, trotzdem mache ich mir Sorgen. Hoffentlich gab es keine Komplikationen, hoffentlich erlebt Isa nicht ausgerechnet in ihrer ersten OP einen Unglücksfall! Es tut mir leid, dass ich ihr nicht beistehen kann. Moment, Lena, jetzt mal doch nicht gleich den Teufel an die Wand! Vielleicht ist sie schon beim Händewaschen und kommt in einer Minute strahlend aus dem OP. Leider darf ich das nicht abwarten, denn erst einmal kommt Dr. Gode beschwingt aus der Mittagspause und winkt uns fröhlich zur Visite heran.
Die ersten Minuten der Visite laufen ausgezeichnet. Ich darf Herrn Kohlers Blutwerte und sein MRT auswerten und werde von Dr. Gode fast überschwänglich gelobt. Paula Schwab hat sagenhaft schlechte Laune und bezeichnet Dr. Gode, der nach ihrem Befinden fragt, ungeniert als Schwachkopf. Explizit sagt sie: »Was denken Sie, wie es mir geht, Sie Schwachkopf?! Gehen Sie einfach ein paar Seeteufel pürieren!« Doch Dr. Gode nimmt es mit Humor und lässt Jenny die Visite allein durchführen, bei der sich Paula für ihre Verhältnisse mustergültig benimmt.
Unsere Gruppe ist eben auf dem Weg zu Frau Jahn, als eine eilige kleine Schwester über den Flur ruft: »Neuer PJler in OP 1!« Was meint sie? Was bedeutet das? OP 1 ist Frau Schneider – da IST schon eine PJlerin! Was ist passiert?! »Neuer PJler« klingt nach Wegwerfartikel. Plastikpipette, Alkoholtupfer, Mundspatel – das dürft ihr alles nach einmaliger Benutzung locker über die Schulter in den medizinischen Abfall schnipsen. Aber nicht meine Isa!
Dr. Gode macht eine schnelle Handbewegung. »Wer möchte einspringen?!«
Ich starre Jenny an, wir zögern beide. Was kann passiert sein, dass Isa ausfällt? Hat sie versagt? Sich danebenbenommen? Und wo IST sie?
Ernie zeigt auf, Dr. Gode winkt, Ernie eilt davon. Klar, das ist seine Chance, in den OP zu dürfen. Trotzdem kommt mir seine beflissene Eifrigkeit wie Verrat vor. Zum Glück ist Dr. Gode kein Unmensch, er bemerkt unsere Besorgnis. »Keine Angst«, lächelt er, »sie ist sicher nur umgekippt.« Na danke!
Es dauert eine halbe Stunde, bis wir zu Isa dürfen – wir können ja schlecht die Visite verlassen! Frau Jahns Werte sind jetzt etwas besser, trotzdem entscheidet Dr. Gode, dass sie morgen früh noch nicht operiert werden soll. Frau Jahn widerspricht resolut. Es kommt überhaupt nicht infrage, dass sie auch nur einen Tag länger als besprochen hierbleibt. In anderen Fällen wird eine Meniskus-OP ambulant durchgeführt! Sie ist seit Montag hier und wird am Freitag wieder gehen, komme, was wolle! Fünf Tage sind mehr als genug. Dr. Gode bleibt gelassen und erklärt, in Frau Jahns Alter und mit ihrer Diagnose sei ein längerer Aufenthalt vollkommen normal – und bei der Bestimmung des OP-Termins habe sie keinerlei Mitspracherecht. »Sehen Sie es mal so«, lächelt er ruhig, »je mehr Sie sich jetzt aufregen, desto höher steigt ihr Blutdruck und umso länger dauert es.« Frau Jahn schluckt das, ihr bleibt ja nichts anderes übrig.
Unser letzter Patient ist ein kräftiger Mittvierziger. Herr Reichelt hat nach einem Sturz im letzten Jahr immer noch Schmerzen im Lendenwirbelbereich, in letzter Zeit sogar Lähmungserscheinungen in den Beinen. Nun ist festgestellt worden, dass der Wirbelkanal stark eingeengt ist, mehrere Nervenbahnen sind eingeklemmt. Schon morgen soll er operiert werden. Dr. Gode lächelt in die Runde: Das wird für einen von uns ein Jackpot – er preist die OP einer Lendenwirbelsäule an wie einen Jahrmarktsbesuch. (»Was Sie da zu sehen kriegen!«) Doch nach Isas seltsamem Ausfall sind wir alle etwas vorsichtig. Niemand möchte unbedingt eine 4-Stunden-OP als Einstiegsaufgabe; nur Sabrina, die sich natürlich erfahren geben muss, äußert begeistert Interesse.
Auf dem Gang vertraut Dr. Gode mir zwischen Tür und Angel die Nachsorge von Herrn Kohler und Frau Schneider an. Hups habe ich zwei Patienten bekommen, ohne es richtig mitzukriegen! Ich freu mich dann nachher, im Moment gilt meine erstrangige Sorge Isa und der Frage, was bei Frau Schneiders OP schiefgegangen sein kann.
Die Tür zum Arztraum steht offen, drinnen sitzt Isa blass auf der Liege und sieht uns an wie ein nasses Kätzchen. Dr. Gode grinst. »Grämen Sie sich nicht! Beim nächsten Mal halten Sie durch.« Isa nickt, er geht und eine Sekunde später sitzen wir bei unserer unglücklichen Freundin auf der Liege und versuchen, die drohenden Beschämungs-Tränen aufzuhalten.
»Ich bin in Ohnmacht gefallen«, sagt sie leise. »Der Chirurg hatte zu schlechte Sicht, er hat die laparoskopische OP abgebrochen und als offene Operation weitergeführt. Also dauerte es fast doppelt so lange wie veranschlagt. Ihr könnt euch das nicht vorstellen! Es ist schrecklich heiß unter dem Kittel und der Mundschutz saß so fest … dann die Aufregung … Mein Kreislauf hat einfach schlappgemacht.« Wir sind voller Mitleid. Wie peinlich! Das war für die eisige Dr. Thiersch sicherlich ein Fest.
»Hat sie dich sehr gepiesackt?«, fragt Jenny, doch Isa schüttelt den Kopf und erzählt, dass keiner der Chirurgen übermäßig erstaunt gewesen sei.
»Als ich zu mir kam, war schon ein Ersatz unterwegs. Sie haben mich nur weggewunken.«
Das klingt doch eigentlich nicht so schlimm, ein Donnerwetter wird es sicher nicht geben. Für seinen Kreislauf kann ja wohl kein Mensch was! Aber Isa stellt sich natürlich eine andere Frage: Wird sie es beim nächsten Mal durchstehen? Wird sie überhaupt noch mal gefragt? Ganz ehrlich, ich wäre ebenso unsicher an ihrer Stelle. Darf so was passieren? Zum Glück kommt in diesem Moment Schwester Jana, um nach Isa zu sehen.
»Es ist doch nicht schlimm, wenn mal der Kreislauf versagt, oder?«, frage ich – extra positiv formuliert.
Schwester Jana lächelt. »Was glaubt ihr, warum wir hier drin eine Liege haben?!« Die erfahrene Schwester hat schon jede Menge PJler umfallen sehen, angeblich sogar gestandene Ärzte. Sie behauptet, Isa müsse keine Angst haben, nicht mehr zur OP gebeten zu werden, sondern könne sich im Gegenteil darauf einrichten, eher öfter eingeteilt zu werden als ihre Kollegen. Für Isa ist das kein Trost, sie fürchtet sofort neue Versagensdesaster. Jenny und ich sind allerdings beruhigt. Nur falls uns so was auch mal passiert. Und Schwester Janas Versicherung, dass Isa zwar die Erste war, aber garantiert nicht die Einzige bleiben wird, hebt auch die Stimmung unseres Häschens wieder an.
Beim Heimgehen hat Jenny es eilig; klar, sie will sicher schon voll in Schale geworfen sein, wenn ihre neue Eroberung »zufällig« anruft. Isa ist entsetzt, als sie erfährt, dass Jenny Björn absagt, um mit dem Laborboten auszugehen. Per SMS! Jenny grinst. »Ist doch auch ein guter Test. Wenn Björn was an mir liegt, ruft er sicher morgen wieder an. Und dann habe ich Motorrad-Felix vielleicht schon satt?« Es wäre gelogen, zu behaupten, dass Jennys unverschämte Art mich nicht beeindruckt. Aber manchmal habe ich doch Mitleid mit ihren Verehrern.
Ich selbst haste heute nicht mit meinen Freundinnen durch den Regen, ich werde vor dem Klinikeingang auf einen menschenscheuen Oberarzt warten. Isa bietet an, mir Gesellschaft zu leisten, lässt sich aber schnell überzeugen, dass das zwar nett wäre, aber irgendwie unpassend. So bleibe ich allein unter dem Klinikvordach stehen und sehe meinen Mädels nach, die eilig durch die Pfützen in der Dämmerung verschwinden.
Gleich wird es dunkel. Einzeln verlassen Menschen das Krankenhaus, die meisten haben den Blick schon in die Ferne gerichtet, aber manche nicken mir zu und wünschen einen schönen Feierabend. Aus Gründen der Geheimhaltung und Absichtsverschleierung hebe ich schließlich mein Handy ans Ohr, als führe ich ein einsilbiges Gespräch. Ich komme mir blöd vor; ich bin einfach nicht der Typ, der sinnlos das Freizeichen oder den heimischen Anrufbeantworter bespricht, um ein Telefonat vorzutäuschen. Wer mir zuhört, muss eine höchst unerquickliche Unterhaltung vermuten, denn ich sage gar nichts. Es käme mir einfach ZU albern vor. Zum Glück bleibt keiner länger stehen, na klar, alle wollen nach Hause. Nur ich nicht. Und Thalheim offenbar auch nicht. Wartet er oben darauf, dass ich endlich aufgebe, damit er sein Büro verlassen kann? SOLLTE ich das Zeichen verstehen und aufgeben? Oder ist er vielleicht sogar längst weg, hat sich davongestohlen und einen Seitenausgang genommen? Jetzt mal keine Paranoia, Lena, sein Auto steht doch noch da. SO unangenehm, dass er endlose S-Bahn-Fahrten auf sich nimmt, nur um dir nicht zu begegnen, bist du vielleicht doch nicht? Er hat diese Unterhaltung ja schließlich vorgeschlagen! Wenn es nach mir ginge, könnten wir uns einfach weiterhin alle zwei Tage treffen und einfach nur küssen. Oder alle zwei Stunden.
Es wird dunkel. In einer Pfütze am Fuß der kleinen Treppe liegt ein Weinkorken. Ich beobachte ihn, bis die Pfütze so tief ist, dass er schwimmt. Und stelle mir vor, dass es jetzt weiterregnet, bis auch ich den Bodenhalt verliere und auf einer Pfütze treibe. Ich könnte mich als toter Mann bis nach Hause treiben lassen. Tote Lena. Über das grüne Auto schwimmt sie einfach so hinweg.
Thalheim kommt nicht. Und es regnet immer weiter.