Image2

Ich möchte nach Hause fahren. Sofort. Natürlich kommt das nicht infrage. Aber das gemeinsame Mittagessen in der Cafeteria schaffe ich heute auf keinen Fall. Niemand hier hat eine Ahnung, worauf ich gehofft habe, welche idiotisch-teenagermäßigen Träume meinen Vormittag überspült haben. Aber ich bin trotzdem nicht in der Lage, mich jetzt hier zu Spaghetti und PJ-Plausch niederzulassen, während die Enttäuschung wie ein nasser grauer Sack meinen Magen ausfüllt. Also erfinde ich eine lahme Ausrede und verlasse die Cafeteria ohne Essen. Meine Freundinnen halten mich nicht auf; ich glaube, in diesem Moment sind sie endlich doch überzeugt, dass ich den Kuss nicht erfunden habe. »Sollen wir woanders hingehen?«, fragt Isa leise, doch ich schüttele schlaff den Kopf und schleiche zurück auf die Chirurgie.

Auf dem Gang zwischen den Stationen werden meine Schritte schwerer und schwerer, bis ich das Gefühl habe, es nicht mal mehr bis zum Aufzug zu schaffen. So ist das also. Er küsst mich – und dann ignoriert er mich. Und du Schaf hattest die Hollywood-Romanze schon fertig. Wie naiv, ich schäme mich vor mir selbst. Es hat ihm gar nichts bedeutet.

Die weißen Türen mit den Milchglasfenstern zu beiden Seiten des Ganges sind spöttische Gesichter. Eine der Türen gehört zu seinem Büro. Was tue ich, wenn sie offen steht? Oder gar, wenn er jetzt über den Flur kommt? Ich gehe schneller, nur weg hier! Der Gang ist leer, seine Bürotür geschlossen, ich haste daran vorbei und erreiche den Aufzug wie ein rettendes Schlauchboot. Die Türen schließen sich, ich bin der Gefahr entronnen – vorerst. Bis dieser Tag überstanden ist, werde ich die Chirurgie-Etage nicht mehr verlassen. Und heute Abend nehme ich die Treppe. Nur IHM nicht begegnen!

Die Ernüchterung kommt sofort. Wieso denkst du nur bis heute Abend, Lena?! Nach diesem Abend kommt ein neuer Tag. Und noch einer. 92 bis zum Ende der Tertials, 182 bis du St. Anna verlassen kannst. Wie sollst du die überstehen, ohne ihm über den Weg zu laufen?! Selbst wenn du niemals wieder die Cafeteria betrittst – es wird unmöglich sein, 182 Tage nicht auf ihn zu treffen. Okay, ohne die Wochenenden sind es 120, vielleicht 113, falls ich zu Weihnachten Urlaub nehmen darf. Aber 113 Arbeitstage sind fast 1000 Stunden. Vergiss es, Lena, diese Sache musst du anders angehen! Thalheims knappes Lächeln brennt immer noch höhnisch deutlich in meinem inneren Auge. (Nur »Thalheim« – kein Gedanke mehr an »Tobias«. Selbst das respektvolle »Dr.« spart sich die Gedankenstimme, verletzt auf schmerzvermeidenden, herablassenden Abstand bedacht.)

Ich bereue, dass ich nicht schnell genug auf cool schalten konnte und ihm eine ebenso kühl-freundliche Begrüßung hingeworfen habe. Stattdessen sah ich sicher aus wie eine Karnevalsprinzessin im Regen. Beim nächsten Mal – wenn sich die Begegnungen schon nicht vermeiden lassen – werde ich genauso lässig-distanziert sein. Nett. Unnahbar. Wie – Kuss? Das hat Ihnen doch hoffentlich nichts bedeutet?! (ICH küsse nämlich regelmäßig und ganz zwanglos alle meine Vorgesetzten beim Abschlussgespräch. »Vielen Dank für die angenehme, lehrreiche Zeit in Ihrer Abteilung und hier noch ein Kuss.« Auch Dr. Thiersch werde ich zum Abschied hingebungsvoll knutschen, was dachten SIE denn?!)

Es ist beschlossene Sache: Da ich ihm nicht aus dem Weg gehen kann, werde ich cool und überlegen sein und ihm zeigen, was es bedeutet, wenn es NICHTS BEDEUTET! Überhaupt bin ich hier, um eine ganz ausgezeichnete Ärztin zu werden und habe für verletzte Gefühle weder Zeit noch Hirn übrig. Die Aufzugtüren öffnen sich. Du wirst das schon schaffen, Lena! Die Cafeteria kannst du ja trotzdem für diese Woche umgehen. Nur bis dein neuer Gleichmut etwas gefestigt ist.

Ich trete aus dem Aufzug, entschlossen, alle Nicht-Ärztinnen-Gefühle und -Träume vollkommen abzuschalten. Wie um mir das zu erleichtern, schiebt eben die gemütliche Schwester einen Essenswagen um die Ecke und lächelt mich an: »Kannst du mal helfen, Mäuschen? Ich bin alleine und die Hälfte der Patienten hat noch kein Futter!« Natürlich kann ich. Gemeinsam teilen wir die restlichen Essen aus – was mir eine Extra-Vorstellung beschert, denn Schwester Jana versorgt mich nebenbei im Tratschton mit dem nötigsten Privatwissen über die Patienten. Ich erfahre, dass Frau Schneider mit den Gallensteinen früher Olympiateilnehmerin in der Schwimmstaffel war und der Patient mit dem Leistenbruch dreimal geschieden ist, aber von allen drei Frauen besucht wird – gleichzeitig. Die meisten Patienten begrüßen mich herzlich und scheinen sich über ein neues Gesicht zu freuen. Dass eine Ärztin ihnen das Essen austeilt, finden sie großartig. Zwei schließen gleich ihre ganze Krankengeschichte an. Ich nicke wissend zu den detailliert geschilderten Befindlichkeiten einer Blinddarmpatientin und beruhige einen alten Herrn bezüglich der Narkosemittel – nein, Lachgas ist nicht mehr üblich. Erst als der Essenswagen leer ist, denke ich wieder daran, warum ICH noch nichts gegessen habe. (Gelernt: Gegen das, was dich von der Arbeit ablenkt, hilft andere Arbeit.) Und als ich Schwester Jana gestehe, dass ich selbst noch nichts zu essen hatte, öffnet sie eine Schublade an ihrem Tresen und präsentiert mir eine Süßigkeitenauswahl, die Willy Wonka in seiner Schokoladenfabrik vor Neid erblassen ließe.

»Zu mir kannst du immer kommen«, lächelt sie. »Und Füttern ist meine leichteste Übung.« Sie rollt den Wagen weg und ich sitze an ihrem Tresen und kaue Nuss-Waffel-Riegel. Der Zucker breitet sich in meinem Magen über die erste Schicht meiner neuen professionellen Haltung, festigt die erste Lage Selbstbewusstsein und lässt die Enttäuschung noch weiter nach unten rutschen. Ich konzentriere mich voll auf die Karriere und verschwende keinen Gedanken mehr an Thalheim! Geschieht ihm nur recht, wenn du hier die stationsbeste PJlerin bist, sagt meine Gedankenstimme. Wenn du strahlst und beeindruckend patent bist. So gut, dass die verkniffene Karrieristin von Oberärztin anerkennend deinen Namen nennt. »Meine begabteste Anfängerin« wird sie sagen. Vor allen. In der Oberarzt-Besprechung! (So was gibt es ja wohl!) Dr. Thiersch wird dich begeistert loben und ER wird ganz wehmütig über die tragisch verpasste Gelegenheit sein. Dass ich nicht in St. Anna bin, um ihn zu beeindrucken und nicht all mein Engagement darauf abzielen sollte, ihn vor Reue leiden zu lassen, habe ich gerade doch wieder spontan vergessen.

Als meine Freundinnen vom Essen kommen, sind sie voller Besorgnis und Anteilnahme. Während die sanfte Isa eher praktisch gedacht und mir ein Stückchen Apfelkuchen mitgebracht hat, schäumt die temperamentvolle Jenny mal wieder stellvertretend vor verletztem Stolz und schwört resolut, sie werde IHN nie wieder auch nur eines Blickes würdigen. Tatsächlich. Jetzt glauben sie mir. Zwar tut es gut, dass sie so mitfühlen, doch meiner frisch beschlossenen neuen Gefühlskälte ist es dienlicher, wenn wir nicht zu lange über Thalheim reden. Zum Glück erlöst mich der Sonnyboy-Stationsarzt; er lädt uns so strahlend zur Visite ein, als bitte er uns an eine Geburtstagskaffeetafel statt an die Betten frisch operierter oder noch OP-nervöser Patienten. Wir folgen ihm ins erste Zimmer, Jenny natürlich neben Dr. Gode – und: Irre ich mich oder hat Isa sich eben an der etwas molligen neuen PJ-Kollegin vorbeigedrängelt, um an Dr. Godes anderer Seite zu gehen?!

Eins ist sofort klar: Die Patienten lieben Dr. Gode. Seine sonnige Art führt offenbar keineswegs dazu, dass sie sich und ihre Leiden nicht ernst genommen fühlen; es ist eher, als biete ihnen jemand wenigstens ein Eis an, wenn sie schon hier liegen müssen. Dr. Gode ist ein Softeis mit Streuseln, nach seinen fröhlichen Bemerkungen scheinen sie alle überzeugt, schon auf dem Wege der Besserung oder wenigstens in den allerbesten Händen zu sein. Ich denke insgeheim, dass es mich zu Tode nerven würde, einem Arzt ausgeliefert zu sein, der mich mit »In einer Woche werden Sie wieder Rumba tanzen« aufheitern will. Bin ich heute einfach unaufgeschlossen und nörglerisch? Ich weiß nicht, woran es liegt, aber bei mir funktioniert Dr. Godes Art gar nicht. Ich sehe, dass meine Freundinnen absolut darauf anspringen, auch die anderen PJler wirken verzückt. Ich finde, ein bisschen würdevoller sollte ein Stationsarzt schon sein. Aber natürlich: Ob es den PATIENTEN hilft, sollte das Maß für angemessenes Arztverhalten sein – und nicht die kränkungsgefärbte Empfindlichkeit einer Oberarztkuss-geschädigten PJlerin.

Mehrere Patienten, die ich schon bei der spontanen Essensausgabe kennenlernen durfte, grüßen mich fröhlich … was mir skeptische Blicke der anderen PJler einbringt. Und nach dem zweiten »Ach, bringen Sie noch Nachtisch?« fühlt sich der Stationsarzt genötigt, mir für die Zukunft etwas mehr Zurückhaltung bei den Schwesternaufgaben zu empfehlen. Ich gebe zu, er tut es nicht unangenehm. »Wissen Sie«, lächelt er nur, »es mag ungerecht sein, aber die meisten Leute fürchten, wer zur Essensausgabe eingeteilt wird, könnte keine SO exzellente Chirurgin sein.« Er hat natürlich recht: Wenigstens zwei der Patienten haben meinen Einsatz falsch verstanden und sind nun überrascht, dass »die neue Schwester« mit den Ärzten mitlaufen darf. Trotzdem – dann bin ich eben ungerecht – Dr. Godes fröhliche Art ist mir irgendwie zu viel. Klar. Keine Frage, warum.

Im fünften Zimmer unseres Rundgangs treffen wir auf die erste Person, die ebenfalls nicht auf Dr. Godes allgemeine Sonnenscheinverbreitung steht. Als er die Tür öffnet und freundlich »Wie geht es uns denn?« fragt, dreht sich im Bett ein uns bekannter Kopf mit einem genervten Stöhnen zur Wand.

Tatsächlich, das ist Paula Schwab, mir und meinen Freundinnen noch bestens bekannt aus unserem letzten Tertial. Paula, die auf der Inneren die operationsvorbereitende Chemotherapie überstanden hat, wurde ebenfalls heute in die Chirurgie überstellt. Bei ihr steht nun die Gastrektomie an, in der ihr Magen vollständig entfernt werden soll. Im letzten Tertial ist die mürrische Patientin uns allen ans Herz gewachsen – ganz besonders Jenny, die ihre Betreuung übernommen und sich schnell und überraschend eng mit ihr angefreundet hat. Dr. Gode kennt Paula Schwab offenbar noch nicht und nachdem sie ihm in bekannter Manier gezeigt hat, was sie von fröhlichen Ärzten hält, ist der Stations-Ken perplex.

»Haben Sie Schmerzen«, fragt er etwas vorsichtiger, »oder Angst?« Siehe da, er kann auch sensibel (oder was er dafür hält). Für Paula Schwab ist das nicht der richtige Tonfall, mit ihr redet man am besten sachlich-zynisch oder gar nicht. Und bevor Dr. Gode eine Optimismus-Stufe höher schalten kann, tritt Jenny an Paulas Bett. »Ich hoffe, Ihr drittletztes Mittagessen war weder Sülze noch Gummiadler?«

Paula verzieht das Gesicht. »Eintopf. Aber ich muss ja nur noch zweimal Kantinenfraß überstehen, dann habe ich schlechtes Essen ein für alle Mal hinter mir.«

Dr. Gode ist kurz sprachlos, die Mienen der anderen PJler sind ebenfalls erstarrt. »Fatalismus ist gar nicht nötig, Frau Schwab«, lächelt der schmucke Arzt, »Sie werden auch nach der OP ausgezeichnet essen. Man kann selbst einen Seeteufel pürieren.« Ich weiß nicht, ob sein Optimismus echt so unerschütterlich ist oder ob das sein Versuch ist, sich auf Paulas grob-zynische Ebene einzulassen. Bei ihr blitzt er jedenfalls ab.

»Gott sei Dank, dass du da bist!«, sagt sie zu Jenny, kein bisschen leise. »Ich finde, es reicht, dass man seinen Magen hierlassen soll. Man muss nicht auch noch seine Würde hinterherschmeißen, oder?«

Bei der Nach-Visite-Besprechung bitte ich Dr. Gode einiges ab, denn als er uns alle im Arztraum um sich versammelt hat, grinst er als Erstes Jenny an und sagt: »Eins zu null, meine Liebe! Die Patientin Schwab steht von nun an am besten unter Ihrer Obhut. Denn ich fürchte, wenn ich sie noch einmal anlächle, springt sie mit all ihren Infusionsschläuchen auf und stürzt sich vom Dach.« Immerhin. Er weiß also, dass seine Art nicht für alle das Richtige ist. Und Jenny grinst zurück, sieht ihm in die Augen und entgegnet: »Gerne. Und Sie können ja stattdessen MICH anlächeln!«

Dr. Gode bietet uns Übrigen noch keine Patienten an. Auch wenn er es, wie alles andere, in ein sanftes Lächeln verpackt: Er möchte uns erst kennenlernen. Damit wir alle einen Patienten auf unserer Wellenlänge bekommen. Und keinen umbringen. Jenny ist also die strahlende Ausnahme. Sie lächelt zufrieden und ich, die ich sie nun schon drei Monate kenne, weiß, dass sie ihren Erfolg tief im Inneren nicht ihrem besonderen Draht zu Paula zuschreibt, sondern der Tatsache, dass sie eindeutig die Hübscheste der PJlerinnen ist.

Wenn sie sich da mal nicht täuscht … Doch, die Hübscheste ist sie natürlich. Aber Dr. Gode – auch wenn mir seine Art nicht liegt – scheint doch etwas feinere Auswahlkriterien zu haben. Während er uns den OP-Plan der nächsten Woche erklärt, mustere ich meine Mit-PJler. Zwei von ihnen kenne ich aus dem letzten Tertial: Erik-Nathanael und Bastian, von uns zu »Ernie und Bert« vereinfacht. Die beiden haben schon auf der Inneren mit uns Dienst geschoben, aber den Eindruck vermittelt, sie würden nicht nur nicht mit Frauen, sondern generell nur miteinander reden. Ich glaube, sie wohnen auch zusammen und verbringen ihre Freizeit zwischen Lehrbüchern und der Playstation. Sabrina, das etwas mollige Mädchen, ist bereits im dritten Tertial. Im dritten kann man sich die Station aussuchen und damit einen Grundstein für die spätere Spezialisierung legen. Sabrina also will wohl Chirurgin werden. Sie zeigt gleich mal, dass sie sich hier schon auskennt, indem sie für uns alle Kaffeetassen und Kekse aus dem Schrank kramt. Dr. Gode schenkt Kaffee aus, seine Patientenvorstellung bekommt so schnell den Charakter einer gemütlichen Plauderrunde. Bei Kaffee und Keksen erklärt er, wann welcher Patient »unters Messer« muss und was es dabei für uns Anfänger zu tun geben könnte. Als Erstes stehen die Gallen-OP der Ex-Olympionikin und die Bauchspeicheldrüse an. Ich bin nicht voll konzentriert, denn die angeschlagene Werbetasse vor mir erinnert mich an ein anderes Kaffeetrinken. An einen zerbeulten Thermosbecher, ein karges Büro, einen überladenen Schreibtisch. Dr. Thalheim, der mir seine eigene Nachtschicht-Tasse voll schwarzen Kaffee füllt, mir still gegenübersitzt und erreicht, dass ich mich ernst genommen und geborgen fühle. Der Morgen nach einer Nachtschicht, er war noch müde, das erste Mal ohne seine unantastbare Oberarzt-Contenance, seine Haare zerstrubbelt. Er hat seinen Kaffee mit mir geteilt und ich …

Weg! Raus aus meinen Gedanken!

Der Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch … lange bin ich neugierig drum herum geschlichen; erst an meinem letzten Tag auf der Inneren hat sich mir enthüllt, dass der Rahmen kein Foto, sondern einen Wahlspruch einfasst: Und hier ist der Mittelpunkt der Welt. Was soll das eigentlich? Am Freitag kam es mir noch wie der klügste und schönste Leitsatz vor; jetzt frage ich mich, ob Thalheim nicht einfach der Meinung ist, ER SELBST sei der Weltmittelpunkt. Das Zentrum MEINER Welt soll er jedenfalls nicht sein. Kann er jetzt mal endlich aus meinem Kopfkarussell aussteigen und davonwanken in eine nebulöse Vergessenheit?

Tack, tack, tack auf dem Flur, dann wird die Tür aufgerissen, die Thalheim-Seifenblase in meinem Kopf platzt mit einem Knall. Dr. Thiersch steht in der Tür, ein Blick um den Kaffeetisch, ein herablassendes Lächeln: »Soll ich schnell zum Bäcker springen und uns eine Schwarzwälder Kirsch holen?« Ernie, der weder den Umgang mit Frauen noch den mit Ironie gewohnt scheint, ist der Einzige, der erfreut nickt. Alle anderen haben verstanden, dass Dr. Thiersch die Gemütlichmachung von Arbeitsbesprechungen unpassend findet. Dr. Gode scheint zum Glück kein demütiger Untergebener zu sein, er lächelt auch Dr. Thiersch an und entgegnet: »Sollte Gemütlichkeit auf dieser Station eines Tages salonfähig werden, werde ich eigenhändig eine Schwarzwälder Kirschtorte BACKEN!« Aber er stellt die Kekse weg und Sabrina schiebt diensteifrig unsere Tassen zusammen.

Dr. Thiersch setzt sich nicht; sie bleibt stehen und mustert ihre neuen Anfänger zum ersten Mal eingehend. Ihr Blick hat etwas Durchdringendes. Erinnert sie sich, dass sie mich heute Morgen gerügt hat? Ihr Blick bleibt an mir hängen. »Na, inzwischen wach?« Okay. Sie erinnert sich. Ich senke die Augen, was soll man da antworten. Könnte sie jetzt bitte dem Nächsten vors Schienbein treten?! »Wer ist Isa?«, inquiriert Dr. Thiersch scharf. Oh, ich nehme den Wunsch zurück – ich hätte lieber noch 15 bis 17 bissige Bemerkungen auf mich genommen, wenn damit verhindert würde, dass die böse Fee über meine zarte Freundin herfällt. Isa zeigt zaghaft auf, Dr. Thiersch nickt. »Ich hörte, Sie sind ein stilles Wasser. Die Kollegen auf der Inneren haben Sie sehr gelobt.« Isa lächelt verschämt. Aha, die taffe Oberärztin hat sich schlaugemacht. Was sie wohl über MICH gehört hat? Und über Jenny, den Autoritätsschreck der Inneren? »Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich in Ihrer ersten OP schlagen«, fährt Dr. Thiersch fort, »und habe Sie deshalb gleich mal für die Galle eingeplant.« Isas Lächeln schläft ein, Herausforderungen und Extrawürste sind absolut nicht ihr Ding. Aber sie nickt natürlich. Ich fange Sabrinas Blick auf: Ist sie beleidigt, weil sie als Erfahrenere damit gerechnet hat, zuerst dranzukommen? Dr. Thiersch nickt ihr zu. »Kein Neid, Frau Schulte, Sie bekommen die Bauchspeicheldrüse.« Sabrina ist beruhigt und Dr. Thiersch hat gezeigt, dass sie doch sensibel für Befindlichkeiten ist – auch wenn sie es sich nicht nehmen lässt, sie als albern darzustellen. Dann geht sie und Dr. Gode grinst Isa an. »Glückwunsch. Eigentlich lässt sie zuerst alle Herren operieren.«

Als wir die Station verlassen, ist Isa zappelig. »Bitte sagt mir, dass ich sie nicht enttäuschen werde!«

Wir sprechen ihr Mut zu. Isa wird sich die verbleibenden 40 Stunden in ihren Lehrbüchern vergraben und jeden Handgriff theoretisch perfekt vorbereiten, das wissen wir ohnehin. »Außerdem steht dir ja Dr. Dandy zur Seite«, grinst Jenny. »Der putzt einen sicher nicht gleich runter, wenn man mal eben ein Skalpell im Patienten vergisst.«

»Sag so was nie wieder!«, ruft Isa entsetzt, doch dann lächelt sie. »Aber das passiert wohl nicht mal mir.«

Meine Freundinnen sind also ganz zufrieden, als wir aus der Klinik in den Feierabend schlendern. Okay, unsere neue Oberärztin ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber Isa und Jenny sind überzeugt, dass der fesche Dr. Gode noch weit größere Unannehmlichkeiten aufwiegen würde. Jenny hat bereits eine Patientin zugewiesen bekommen; noch dazu eine, die sie schon kennt, gerne hat und um die sie sich sowieso bewerben wollte. Und Isa zehrt immer noch von dem Lob aus zweiter Hand, das ihr gezeigt hat, dass ihre schwierige Startphase auf der Inneren allgemein in Vergessenheit geraten ist oder gar durch ihren Fleiß überlagert wurde. Nur ich verlasse das Krankenhaus mit einem flauen Enttäuschungsgefühl. Die verliebten Hoffnungen, mit denen ich heute Morgen herkam, sind mir inzwischen selbst peinlich.

»Was war denn nun eigentlich in der Mittagspause?«, fragt Jenny in diesem Moment. »Hat er versucht, sich zu entschuldigen?« Ich starre sie an. Glaubt sie wirklich, ich bin Thalheim nachgegangen und habe ihn zur Rede gestellt?! »Aber du hast ihm doch wenigstens GEZEIGT, dass er ein Idiot ist und seinen blöden Auftritt noch schrecklich bereuen wird?!«

»Fehlanzeige«, entgegne ich. »Ich bin ihm nicht nachgelaufen, sondern einfach nur weggerannt. Ich hab ihn nicht noch mal gesehen und WILL ihn auch nie wieder sehen.«

Isa blickt mich mitleidsvoll an. »Dann schau nicht da rüber!«

Vor dem Krankenhaus parkt ein blitzender VW. Thalheim trägt trotz des Herbsteinbruchs immer noch die dunkelgrüne Sportjacke, die so gut zu seinen dunklen Haaren passt. Er steht neben seinem Auto und scheint zu warten. Auf mich? Meine Knie geben nach, ich bleibe stehen. Ich kann mich keinen Schritt weiter vorwärtsbewegen. Dr. Thalheim zieht seine Jacke aus und legt sie ins Auto, langsam. Ein Vorwand, um sich noch einen Moment hier aufzuhalten? Er könnte die blöde Jacke auch drinnen ausziehen. Oder gar nicht – bei der Kälte! Vollkommen klar, dass er sich etwas zu tun macht. Noch hat er uns wohl nicht gesehen. Aber wenn er sich umdreht … Was soll ich denn tun?! Ich kann unmöglich an ihm vorbeigehen!

»Wenn wir da sind, lachst du einfach!«, rät Jenny energisch. Klar. Sie würde strahlend an ihm vorbeiziehen und so tun, als sei er vergessen und sie wunschlos glücklich. Ich kann das nicht. Aber um nach Hause zu kommen, muss ich an dem Oberarzt-VW vorbei!

»Geh doch hin und rede mit ihm«, sagt Isa. Ich schüttle den Kopf. Noch einen Blick riskieren: Thalheim schaut nicht her, vielleicht hat er uns immer noch nicht gesehen. Jetzt steigt er doch ein. Habe ich mal wieder alles überinterpretiert und er hat ÜBERHAUPT NICHT auf mich gewartet?! Doch, er wartet ganz eindeutig – zumindest, falls er nicht in seinem Auto wohnt.

»Hups!«, sagt Jenny plötzlich, »mein Schal!« Sie macht auf dem Absatz kehrt und eilt überraschend zurück ins warme Krankenhaus.

»Oh«, macht Isa, etwas weniger überzeugend – und dann hastet sie Jenny hektisch hinterher. Verräterinnen! Ich könnte schwören, dass Jenny ihren Schal vor einer Sekunde noch umhatte! Mit mir nicht! Ich werde auf keinen Fall zu Thalheim gehen und mir eine neue Abfuhr abholen! Hier warten will ich aber auch nicht, denn wenn sich Jenny in den Kopf gesetzt hat, dass ich alleine auf Dr. Thalheim treffen soll, wird sie eher im Krankenhaus übernachten, als dass sie wieder herauskommt, bevor ich den gefürchteten VW erreicht habe! Also stiefele ich los, gehe tapfer geradeaus.

Der Krankenhausvorplatz ist leer. Noch zwei Schritte bis zum Auto, in dem er immer noch sitzt, ohne den Motor zu starten. Jetzt bin ich bei ihm. Und ich kann nicht anders: Ich MUSS hinsehen.

Sein Blick erwischt mich in voller Breitseite, gleich breche ich hier auf dem Vorplatz zusammen. Seine Stimme ist warm, ruhig. »Darf ich Sie nach Hause fahren?«