17
Waiblinger startet den Motor und fährt auf die Hauptstraße hinaus. Greving sitzt neben ihm, im Sitzen drückt ihn sein Pistolengurt. Schon eine merkwürdige Sache, denkt er, das mit den Waffen. Unsereiner läuft damit herum, als wär’s ein Dosenöffner, und nach fünfzig Jahren wird so eine ein Museumsstück, das man ausdeutet und analysiert und das einem eine Geschichte erzählt. Er holt den Untersuchungsbericht aus dem Aktenkoffer und liest ihn noch einmal durch. Die ballistische Untersuchung hat zweifelsfrei ergeben, daß das über der Höhle gefundene Projektil aus derselben Waffe stammt wie das Vergleichsprojektil, das sie aus Mausers P 04 abgefeuert haben. Die Pistole ist die Tatwaffe. Aber wer geschossen hat, ist damit noch nicht klar. Immerhin kennen wir jetzt wohl das Motiv, denkt Greving und bleibt mit dem Blick an den beiden Profilaufnahmen hängen. Zum Thema Rache kann uns Hochstetter etwas sagen. Da bin ich mir sicher. Der weiß was von damals.
Waiblinger hat ihm erzählt, was man so über Hochstetter weiß. Arzt in Zwiefalten, von dem Prozeß gegen ihn, und der Verdacht, unter dem er stand. Und er lebt noch, denkt Greving und beißt die Zähne zusammen. Bei allen anderen kommen wir zu spät, die sind tot und können nichts mehr sagen. Aber Hochstetter wird uns die Geschichte erzählen.
Er klappt den Bericht zu und verstaut ihn wieder in der Aktentasche. Nach Hundersingen ist es nicht weit, sie fahren über die Brücke, die die Lauter überspannt, der Kern des Ortes liegt am Talhang. Waiblinger sucht nach der Adresse und findet das Haus. Schon als sie heranfahren, ahnt Greving, daß das Haus leer ist. Das kann man Häusern ansehen, denkt er. Das da ist leer, wir sind wieder zu spät.
Sie läuten ein paarmal, gehen um das Haus herum in den Garten, schauen durch die Verandatür. Nichts rührt sich da drin. Nur ein Stock lehnt am Sofa.
»Wir kommen zu spät«, sagt Greving.
»Wieso?«
»Der ist weg.«
»Sie meinen … abgehauen?«
»Nein, dazu ist er zu alt. Ich denke, der ist in einem Krankenhaus.«
Sie fragen bei den Nachbarn nach und erfahren, daß Hochstetter mit dem Notarzt geholt worden ist, vorgestern schon. Wohin sie ihn gebracht haben, weiß keiner.
»Normalerweise wird so einer nach Münsingen transportiert«, meint Waiblinger. »Aber wenn’s besonders schlimm ist, werden die auch schon mal nach Reutlingen überführt.«
»Dann fahren wir zuerst nach Münsingen.«
Die Strecke führt sie an Marbach vorbei. Das schmiedeeiserne Tor des Gestüts steht offen, im Hof läuft ein Brunnen. Hinter den Stallungen zieht sich das Gelände eine Anhöhe hinauf, Pferdeweiden und Wetterbäume, einzelne Buchen und lichte Haine. Greving sieht eine Herde grasen, schweifwedelnd, ein fernes, regelmäßiges Winken wie von Märchengestalten herüber. Als wollten sie ihm etwas sagen. Gelassenheit und Freude drückt der Anblick aus. Am liebsten würde ich jetzt aussteigen und hinaufgehen, ans Gatter, und ihnen zusehen, denkt Greving. Waiblinger soll allein nach Münsingen fahren.
Sie biegen ab und fahren eine Straße durch den Wald hinauf auf die Hochfläche. Rechter Hand sieht Greving ein Schloß liegen.
»Ist das Grafeneck?« fragt er Waiblinger.
Der nickt nur.
Hier war das also, denkt Greving. Natürlich sieht man nichts mehr. Hier haben die Ofen gequalmt, daß es bis Marbach sichtbar war. Hier sind die grauen Busse mit Eugen Mattes hinaufgefahren. Muß ich mir einmal anschauen, bevor ich hier weggehe.
In Münsingen erfahren sie, daß Fritz Hochstetter vorgestern eingeliefert worden sei, aber sein Zustand sei kritisch, er liege noch auf der Intensivstation, eine Vernehmung komme nicht in Frage.
»Sagen Sie mir bitte Bescheid, sobald sich sein Zustand ändert«, sagt Greving, wie es Kommissare so machen, und reicht seine Karte hinüber. Auf die Rückseite schreibt er die Nummer vom »Pflug«. »Meine Handynummer steht auch darauf.«
»Sie haben recht gehabt«, sagt Waiblinger. »Wir sind zu spät.«
»So wie es aussieht, sogar ganz zu spät. Hätten wir den Namen nur ein paar Tage früher erfahren.«
Waiblinger nickt und biegt an der Kreuzung in Ortsmitte nach links.
»Und Sie? Haben Sie sich endlich aus dem Kopf geschlagen, daß Mauser etwas mit dem Toten zu tun hat?«
»Ha, hören Sie! Etwas hat der ja doch damit zu tun: Dem sein Vater hat ihn erschossen.«
»Hören Sie auf, Waiblinger. Die Tatwaffe hat Mausers Vater gehört, das ist aber auch alles.«
»Und warum hat er den Fund nicht gleich gemeldet, wie sich’s gehört?«
Und warum hat er die Kugel mit dem Metallsuchgerät gefunden? Warum hat er die Tatwaffe unterschlagen? Warum hat er die Arbeit der Polizei behindert? Warum wollte er die Geschichte selbst auflösen, auf eigene Faust? Das ist doch alles verständlich, denkt Greving. Ich will die Geschichte ja auch auflösen. Ich will ja auch derjenige sein, der am Schluß die Fäden in der Hand hält. Nein, das nehme ich ihm nicht übel. Und ich werde auch nichts gegen ihn unternehmen. So wies aussieht, lösen wir das Ganze sowieso nicht endgültig auf. Ein Rest bleibt, wie immer.
»Lassen Sie mich hier raus«, sagt Greving an der Einmündung in die Talstraße in Marbach. Der Ort besteht aus nicht mehr als dem Gestüt, Werkstätten und einem Gasthof.
»Wo wollen Sie denn hin?« fragt Waiblinger erstaunt.
»Ich will mir ein wenig die Pferde anschauen.«
»Und wie kommen Sie zurück nach Buttenhausen?«
»Hier wird doch ein Bus fahren, oder nicht?«
Er sieht dem Streifenwagen nach, wie er die Straße entlangfährt und hinter der nächsten Biegung des Tales verschwindet. Pferde haben ihn immer angezogen. Er mag den Geruch nach Stall, das Scharren der Hufe, die großen Tiere mit den mächtigen Köpfen, denen man sich vorsichtig nähern muß. Sie haben alle ihren eigenen Charakter. Wie Menschen. Manche haben ängstliche Augen, zucken zurück vor Fremden, manche sind neugierig und drängen sich ans Gatter, manche sind feinsinnig und werfen die Köpfe hoch, daß die Mähnen flattern. Man muß sie kennenlernen, wie Menschen.
Hier in Marbach werden Sportpferde gezüchtet, weiß Greving. Berühmt ist das Gestüt für seine Araber. Am schmiedeeisernen Tor das Wappen, ein M mit einer Hirschgeweihstange darüber. Durch das Tor tritt Greving in den Innenhof. Der Brunnen trägt eine Statue auf einer Säule, Stute mit Fohlen, das Wasser läuft beruhigend und melodisch. Zwei Mädchen putzen das Riemenzeug in der Scheune. Zu den Ställen geht es wie im Zoo ins Raubtierhaus, ein Backsteingang und Tiergeruch und die Boxen mit dem weißen Licht in den Fenstern. Schilder hängen am Gitter mit den Fütterungsanweisungen. Eine Extraration Mais, nur die halbe Portion Heu, bei manchen steht »Pilz« oder »Bürste 2«. Die Tiere kümmern sich wenig um den Besucher.
Greving schreitet den Gang ab und freut sich an den Geschöpfen mit den großen Augen und den winkenden Schweifen. Er streicht über die Nasenrücken oder tätschelt die Flanken. Als er wieder ins Freie tritt, ist er ruhig geworden. Er hat einen sonderbaren Frieden gefunden hier bei den Tieren. Sie werden gehegt, sinniert er. Zwar werden sie für eine Aufgabe gezüchtet und müssen an Arbeit gewöhnt werden, aber trotzdem geschieht alles mit einer umfassenden Schonung, wie in einem Tiergarten. Es kommt ihm vor wie ein Park, in dem er sich ergehen und verlieren kann. Im alten Futterhaus, einem mächtigen Holzkasten mit mehreren Stockwerken, schlüpfen die Vögel und tun sich am Korn gütlich. Der Weg führt zwischen Weidegattern entlang bergauf.
Auf einer Aussichtsbank setzt Greving sich nieder, der Blick geht übers Gestüt und übers Tal, er sieht Autos die Straße entlangfahren und Menschen stehen am Kiosk. Im Sommer gibt es hier sicher einen Badeplatz am Fluß und barfüßige Kinder mit Eistüten in der Hand. Das Gras riecht frisch, die Buchen und Eschen knospen schon, Schlüsselblumen sind weithin über die Weide verstreut.
Von hier aus ist er der Herde, die er aus dem Auto gesehen hat, näher. Er beobachtet sie. Der geraden Nase und dem Bau nach müssen es Araber sein. Junghengste, die noch in einer Herde gehalten werden, bevor sie auf die Hengstprüfungen im Herbst vorbereitet und angeritten werden, an den neuen Schwerpunkt mit Reiter gewöhnt. Sie kennen einander, haben Freundschaften untereinander, Leithengste offenbaren sich und gutmütige Folger, sie spielen miteinander und sind geborgen in der Gemeinschaft.
Manchmal wär ich gern einer von ihnen, denkt Greving.
Drei Hengste nähern sich dem Zaun und äugen neugierig herüber. Sie knabbern einander am Widerrist, eine Geste der Zuneigung. Greving rupft Hände voll Gras und tritt an den Zaun. Hält dem mutigsten das Futter hin. Er kommt näher und schnappt ihm das Gras aus den Händen. Die rauhen, feuchten Lippen. Die schwarzen Augen, in deren Winkeln Fliegen krabbeln. Greving tätschelt ihm die Wange. Der Geruch des Fells. Es fühlt sich samtig an, wie eine Bürste, wenn man gegen den Strich fährt. Greving setzt den Fuß auf die Eisenstange des Zauns und steigt hinauf, setzt sich auf die oberste Stange.
So sollten Menschen Menschen werden, denkt er versonnen. In einer Herde groß werden. Ihre Individualität herausbilden. Weites Gelände und sich in Hainen verstecken. Blick hinaus in die Welt, zu der sie noch nicht gehören, vielleicht nie ganz gehören werden. Gang der Jahreszeiten. Die unschuldigen Jahre, bevor ihnen einer auf den Rücken steigt und es kein freies Dahingaloppieren mehr gibt. Leistungsprüfung. Besamung der Stuten. Verkauf an Ställe und Züchter.
Statt dessen fängt das Unglück gerade in den Familien an, denkt Greving. Als freie Geschöpfe erschaffen, wenn das so einfach wäre! Freiheit unter der Obhut des Schöpfers. Das ist schon richtig. Nur haben wir nicht die richtige Weide, wie es scheint. So einen Park mit Hügeln und Hainen, die Hitze im Sommer, verdöst im Schatten der Wetterbäume, gefrorener Boden im Winter, wenn das Fell vor Wärme dampft. Unter wohlwollender Obhut, das wäre schön. Er schaut den dreien zu, wie sie davontraben und umeinandertollen.
Jemand, der auf uns aufpaßt.
Leider paßt niemand auf uns auf. Wir zwingen einander zu Leid, Schmerz, Verlust, töten einander, beenden einander das Leben, überlegt Greving, das wir nicht geschaffen und über das wir keine Verfügung haben. Wir haben kein Recht, einander hinzurichten. Richten kann nur der, der alles weiß. Der jede kleinste Regung kennt, jede Entschuldbarkeit, jede Bodenlosigkeit des Willens in einem bösen Moment. Nur der, der den Abgrund kennt, kann richten.
Die Tiere da kennen das alles nicht. Sie leben zwischen Geburt und Tod und sind eingefügt in die Sterblichkeit. Sie kennen nicht die Herkunft der Sterblichkeit. Wir ahnen sie. Wir ahnen den Abgrund. Wir sollten es besser wissen, aber weil es unser Abgrund ist, wissen wir es nicht.
Es hat gutgetan hierherzukommen, denkt Greving und atmet tief ein. Es tut gut, hier zu sitzen, die Beine baumeln zu lassen, einen Grashalm im Mund. Der Fall ist ihm längst zuwider. Aber die Landschaft, die Weite und Stille, das mähliche Treiben der Pferde – das hat die Anspannung gelöst. Vielleicht sollte ich in meinem Leben etwas ändern, denkt er.
Näher ans Wesentliche kommen.
Aus der Obhut heraus leben.
Aber wie geht das?
Es ist nur so eine Sehnsucht, wie man sie manchmal hat. In schwachen Momenten, wenn die Gedanken wegsacken in eine Tiefe und man nichts mehr in der Hand hat, wenn man erkennt, daß man nie etwas in der Hand gehabt hat. Das Leben ist größer als wir. Daß es uns gibt, ist größer als wir. Das verstehen wir nicht, denkt er und lächelt. Jemand hat uns gewollt, jemand hat gewollt, daß es all dies hier gibt. Und das rührt uns an, in Augenblicken wie diesen. Wir sehnen uns danach: nach einem aufgehobenen Leben.
Langsam steigt er vom Zaun und wirft den Grashalm weg. Statt dessen muß man sich mit vergasten Behinderten und einem hingerichteten Nazi herumschlagen, denkt er.
Das ist meine Arbeit. Das ist meine Aufgabe, und ich habe sie mir selber ausgesucht. Vielleicht ist es gut, was ich tue. Vielleicht hat es einen Sinn. Man kann aus seinem Leben nicht einfach aussteigen, an einem Aprilnachmittag draußen auf den Weiden, so wie man von einem Zaun heruntersteigt. Ein paar Schritte im Gras, zurück auf den Weg, und alles ist anders geworden.
Ein neues Leben.
Aber selbst ein neues Leben wird wieder ein altes. Es ändert sich nicht wirklich etwas. Die Welt ist, wie sie ist. Es geschehen immer die gleichen Dinge. Man kann sie anders ansehen, sie anders empfinden und immer wieder Teile von ihr ignorieren. Man kann so tun, als gäbe es den Abgrund nicht. Das ändert letztlich nichts.
Wie soll man in der Welt leben?
Greving steigt den Weg wieder hinab, schlendert noch einmal über den Innenhof, tritt aus dem Tor und lenkt seine Schritte die Talstraße entlang auf das Gasthaus zu. Genießen, was man hat, denkt er. Seine Arbeit tun, das, was einem vor die Hände kommt. Essen und Trinken und für das dankbar sein, was man hat. Wissen, daß der Schöpfer einen kennt und weiß, woran man geglaubt hat zu Lebzeiten.
Greving betritt den Gasthof und setzt sich an einen Tisch am Fenster. Von hier aus kann er die Weiden sehen und die Herde, die noch dort grast. Er bestellt und sitzt ruhig und zufrieden da, schaut aus dem Fenster. Zündet sich eine Zigarette an und läßt den Rauch zur Decke steigen. Morgen rede ich noch einmal mit Mauser, sagt er sich und freut sich auf das Essen.