15
Wieder das Zimmerchen unterm Dach. Das Bett, der Schrank, die Dusche. Der kleine Tisch mit dem Stuhl davor. Greving kommt es vor, als sei er nie weg gewesen. Die Kreisstadt liegt weit entfernt, hinter den Bergen bei den Sieben Zwergen, oder nein: Dieses Dorf liegt dort. Ich bin zu Besuch hinter den Bergen, denkt Greving. Mal sehen, was mir die Sieben Zwerge zu sagen haben.
Die Tage in der Stadt haben gutgetan. Kaum ist er hier, lastet wieder die seltsame Bedrückung auf ihm, die dieser Leichenfund mit sich gebracht hat. Er hat das Gefühl, daß er hier nichts tun kann. Mit den Leuten reden und erfahren, daß sie nichts wissen und nichts wissen wollen. Überall trifft er auf die Ruinen der Vergangenheit, auf alte Geschichten, die ihm niemand erzählt, auf Mauerzähne aus wenigen Daten, die niemand leugnen kann, auf geheime Gänge und dunkle Kammern. Da gibt’s doch eine Ruine im Nachbardorf, sagt er sich und räumt den Schrank ein. Da sollte ich mal hingehen. Im Schutt wühlen. So komme ich mir vor.
Die Untersuchungen in der Stadt haben Ergebnisse gebracht. Er hat einiges mehr in der Hand als zuvor, er hat etwas, womit er von Tür zu Tür gehen kann. Einen vor fünfzig Jahren begangenen Mord aufzuklären, haben die Kollegen gesagt, da möchten sie nicht mit ihm tauschen. Noch nicht einmal die Tatwaffe, und wer der Tote war, wird man wohl nicht herausfinden. Aber die moderne Kriminaltechnik hat mehr Möglichkeiten, als man denkt. Aus dem Aktenkoffer holt er den Stapel mit Bildern, die er hat machen lassen. Er schaut sich das Bild noch einmal an.
Der Tote mit Fleisch im Gesicht.
Die Mumie zum Leben erweckt. Obwohl das Computerbild weit entfernt ist von einem lebendigen Portrait. Aber da ist ein Mund mit Lippen, die dünn sind und verletzlich, verschlossen wirken. Ein Kinn, das glatt rasiert ist. Eine Nase mit breiten Nasenflügeln. Augen, die einen beinahe anschauen. Und vor allem: ein großes Muttermal auf der rechten Wange, unter dem Auge. Ohne den Grad an Mumifizierung, den die Leiche aufwies, wäre eine solche Rekonstruktion nicht möglich gewesen. Ein Muttermal.
Damit werde ich von Tür zu Tür gehen, denkt Greving. Hier und in den umliegenden Dörfern. Irgendeiner wird ihn gekannt haben, und irgendeiner wird reden.
Der Mann sieht eigentlich nicht wie ein Behinderter aus. Aber wie sieht ein Behinderter aus?
Das mit dem Kreidekreuz haben wir auch herausbekommen, denkt Greving. Davon müssen die hier gewußt haben, denkt er und steckt die Ausdrucke in seine Manteltasche. Das kann mir keiner erzählen. Vielleicht sollte ich mir das Schloß einmal ansehen, Grafeneck, nur um zu wissen, womit man es zu tun hat.
Bis kurz vor Kriegsende sind in Grafeneck Behinderte vergast und dann verbrannt worden. Der Leiter dieses Projekts hieß Dr. Jürgen Schumacher. Aus der Landesanstalt in Zwiefalten sind Behinderte abtransportiert und nach Grafeneck gebracht worden. In der Bevölkerung wurden die Behinderten aus ihrer Familie geholt. Menschenversuche haben stattgefunden, neue Kampfstoffe wurden erprobt, Nervengifte, wie lange ein Mensch in Eiswasser am Leben bleibt und solche Sachen. Da ist der erschossene Tote in der Höhle noch harmlos dagegen. Er hat keine Lust, so einen Fall zu lösen. Irgendeinen Nazi-Greuel aufzudecken, nach fünfzig Jahren, das ergibt keinen Sinn, denkt er. Nichts, was man davon nicht schon wüßte. Wahrscheinlich lebt der Täter gar nicht mehr, und die genauen Umstände lassen sich auch nicht rekonstruieren. Er könnte es als seine Arbeit tun, gewissenhaft und ohne innere Beteiligung, so hat er schon oft Fälle gelöst. Aber hier in diesem Dorf, auf der Albhochfläche, berührt ihn die Vergangenheit mehr als sonst. Er weiß nicht, weshalb. Er hat merkwürdigerweise gar kein Interesse daran, den Fall aufzuklären, jedenfalls nicht vollständig. Eigentlich könnten wir jetzt schon zufrieden sein, denkt Greving und geht hinaus, schließt seine Zimmertür ab. Wir haben einen unbekannten Toten, einen Nazi-Täter, ein Euthanasieprojekt, auch wenn viel daran noch Spekulation ist. Vielleicht erzählt uns irgendeiner, daß er irgendwann im Wald Schüsse gehört hat oder daß ein Behinderter spurlos verschwunden ist, vielleicht von braunen Uniformen, die im Dorf aufgetaucht sind und so weiter, und dann kennen wir die Stoßrichtung. Das reicht.
Greving ist ein Mensch ohne besonderen Ehrgeiz. Er tut seine Arbeit, weil sie getan werden muß und weil die Verbrechen, die Menschen begehen, aufgeklärt, entlarvt, ans Licht gebracht werden müssen. Von der Gerechtigkeit der Gerichte hält er nicht mehr als andere. Das ist auch nicht seine Sache. Die letzten Gespräche mit den Tätern sind der einzige Lichtblick. Er lernt die Abgründe kennen, die niederen Instinkte, die Angst und die Hilflosigkeit, die Menschen treibt, einander das Leben zu nehmen. Er bekommt die Wahrheit an einem Zipfel zu fassen und kann sie hervorzerren, Stück für Stück. Indizien sind nichts weiter als Fallstricke, mit denen man den Täter zum Straucheln bringen kann. Solche Gespräche führt er gern, da bin ich mit dem Herzen dabei, denkt er, als er die Treppe zur Wirtsstube hinuntergeht. Mit dem Herzen. Als ginge es um Liebe. Vielleicht geht es um Liebe, Liebe zu den Menschen, Barmherzigkeit mit den Schwachen, die ihr Leben zerstört haben durch eine unbedachte Tat, Mitleid mit den Opfern, die Grausamkeiten haben erleiden müssen, denen niemand zu Hilfe kam, die gestorben sind in Not und Elend. Liebe? Seltsamer Gedanke.
Beim Dorfpolizisten fängt er an.
Der sitzt in seiner Stube und tippt an einem Bericht.
»So, sind Sie wieder im Lande, Herr Kommissar?«
»Guten Tag, Herr Waiblinger. Haben Sie unsere Neuigkeiten schon gehört?«
»Neuigkeiten?«
»Wir haben die Bedeutung des Kreidekreuzes herausgefunden. Und das Gesicht des Toten rekonstruiert. Mit dem Computer. Feine Sachen, die die Kriminaltechnik da hat.«
»Aber Hinweise auf den Täter haben Sie noch keine?«
»Wenn der Tote ein Behinderter war, der mit dem Abtransport nach Grafeneck zu tun hatte, dann vielleicht schon.«
»Grafeneck? Was sagt man dazu? Und der Tote soll einer dieser Behinderten sein?«
»Zumindest haben wir das Kreidekreuz auf seinem Anzug. Es könnte natürlich auch anders gewesen sein und der Tote trägt aus ganz anderen Gründen den Anzug und das Kreidekreuz.«
»Natürlich, aus ganz anderen Gründen. Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht wurde ihm der Anzug unfreiwillig angezogen. Das gibt’s auch. Eine Art Ritual. Aber wenn der Tote ein Behinderter ist, dann spricht vieles dafür, daß der Täter aus dem Nazi-Umfeld stammt.«
»Soweit ich weiß, sind damals die Behinderten nicht erschossen worden«, sagt Waiblinger und löst sich widerstrebend von seinem Bericht. »Die wurden alle nach Grafeneck gebracht und vergast.«
»Das ist richtig. Trotzdem ist es eine Spur.«
»Ich habe da übrigens eine interessante Meldung bekommen betreffs Hermann Mauser«, sagt Waiblinger und deutet auf seinen Bericht.
Greving tritt näher und beugt sich über das eingespannte Blatt.
»Er hat den Eugen Mattes mit Waffengewalt bedroht.«
»Aha. Und?«
»Na, woher hat der eine Schußwaffe? Er hat zwar eine Legitimation, von wegen seiner Mitgliedschaft im Schützenverein, aber deswegen hat man noch lang keine Waffe im Haus.«
»Das habe ich schon gewußt«, erwidert Greving.
»Der Mauser steht doch in irgendeiner Verbindung mit der toten Person, Herr Kommissar. Der ist verdächtig, wenn Sie mich fragen.«
»Weshalb hat er denn den Mann bedroht?«
»Na ja, der hat keine Anzeige erstattet. Er hat es mir bloß erzählt …«
»Und Sie schreiben einen Bericht darüber?«
»Ich dachte halt, es ist wichtig …«
Greving holt eines der Bilder aus der Manteltasche und hält es Waiblinger hin.
»Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
Waiblinger ist verärgert. Daß sein Bericht über Mauser nicht ernst genommen wird und der Kommissar aus dem Unterland so einfach darüber hinweggeht, will er sich nicht gefallen lassen. Er nimmt das Bild in die Hand und hält es ins Licht.
»Ist das die tote Person?«
»Beachten Sie das Muttermal unterm Auge. Das ist auffällig.«
»Also, nein, den kenne ich nicht.« Er gibt das Bild wieder zurück, legt die Hände neben die Schreibmaschine und weiß nicht, wie er weitermachen soll.
»Den Bericht«, fragt er, »soll ich den zu Ende schreiben, oder …?«
»Machen Sie das, wenn Sie wollen«, sagt der Kommissar und steckt das Bild wieder ein. »Und wenn Sie damit fertig sind, nehmen Sie sich einige der Ausdrucke und fragen die Leute im Dorf. Haben Sie eine Idee, bei wem ich anfangen sollte?«
»Also, wenn einer die Nazis von damals kennt, dann ist es der Heinrich Waltz.«
»Den habe ich schon kennengelernt.«
Greving läßt einen Stapel Ausdrucke auf dem Tresen liegen und verläßt die Polizeistube. Draußen auf der Straße weht ihm ein böiger Wind entgegen. Das Wetter hat sich nicht gebessert, der Himmel ist stark bewölkt, Schauer gehen nieder.
Daß Mauser jemanden mit seiner Pistole bedroht hat, will Greving nicht in den Kopf. Wie kommt der Mann dazu? fragt er sich. Den treibt etwas um. Der hat ein Geheimnis und will es loswerden. Vielleicht sollte ich als erstes mit ihm sprechen.
Die Osterferien sind vorüber, Mauser muß vormittags in der Schule sein und unterrichten. Greving überlegt, ob er in die Schule fahren soll, verschiebt den Besuch dann aber auf nachmittags.
Gerade geht er die Hauptstraße entlang, als ein Motorrad heranfährt und vor ihm anhält. Der Fahrer klappt das Helmvisier hoch und grüßt ihn mit erhobener Hand.
»Grüß Gott, Herr Kommissar!«
»Sind Sie das, Herr Mauser?«
»Ich komm gerade von der Schule. War heut noch nicht viel los, nach den Ferien. Sie sind wieder bei uns?«
»Ja. Seit heute.«
»Und? Wissen Sie was Neues?«
Greving nickt.
»Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen? Bei mir?
Ich fahr schnell voraus und mach einen. Filterkaffee. Ist’s recht?«
»Vielen Dank.« Greving lächelt und blickt dem Motorrad hinterher. Der alte Mann auf seinem Moped, denkt er. Wie kommt der dazu, jemanden mit seiner Pistole zu bedrohen? Mit der alten Pistole seines Vaters. Und wie aufgeschlossen er heute ist. Der will was loswerden. Da komme ich gerade richtig.
Als Greving unten an der Haustür läutet, ist der Kaffee schon fertig. Mauser holt den Hefezopf aus einer Plastiktüte und schneidet den Laib in Scheiben. Ein Brotkorb, die Butterschale dazu, dann holt er zwei Tassen aus dem Küchenbord.
»Kommen Sie rauf, es ist offen!« ruft er die Treppe hinunter.
Er hört die leichten, bedächtigen Schritte des Kommissars auf den Stufen. Sie knarren nicht. Ein Leisetreter, denkt Mauser.
»Ich hab Hefezopf«, sagt er, als der Kommissar in der Küchentür steht. »Möchten Sie einen Butter dazu?«
»Vielen Dank.« Greving setzt sich an den Stubentisch und lehnt sich behaglich zurück. Mauser bringt den Kaffee in einer Porzellankanne.
»Schön, daß wir mal so bequem beieinandersitzen«, sagt Greving. »Die Schule hat wieder begonnen?«
»Ja, die Ferien sind vorbei.«
»Und? Wie geht’s Ihnen damit?«
»Ist mir ein bißchen schwergefallen, wenn ich ehrlich sein soll. Wissen Sie, die Tage über Ostern waren so … ich weiß nicht … als wären die Ferien nie zu Ende.«
»Woher kommt das?«
»Seit ich diese Leich in der Höhle gefunden hab. Ich weiß auch nicht, wieso.«
Greving nickt. Mauser schaut ihn an und fragt sich, ob er zu viel erzählt hat. Tatsache aber ist, daß er erzählen will.
Sie plaudern ein Weilchen über die Schule. Der Kaffee ist stark, Greving trinkt ihn sehr süß. Der Hefezopf ist frisch und weich, mit Butter bestrichen paßt er gut zum Kaffee. Mauser tunkt ihn in die Tasse und zutzelt daran.
»Was haben Sie mir Neues?« fragt Mauser mit vollem Mund.
Mir? denkt Greving. Ist es schon so, daß die Polizei einem alten Grundschullehrer Informationen überbringt? Er holt Luft. »Wir haben das Alter des Anzugs bestimmen können. Die chemische Analyse bestätigt den ersten Hinweis durch die Herstellermarke, auf die Sie uns aufmerksam gemacht haben.«
»Ich?«
»Der Anzug ist fünfzig Jahre alt, genauer wissen wir es nicht. Das sagt aber leider nichts über das Alter der Leiche aus. Die Autopsie hat hier auch keinen Aufschluß gebracht. Bei mumifizierten Leichen ist es schwierig. Es ist eine Art Fettwachsleiche, und mit der Radiokarbonmethode läßt sich das Alter auch nur grob bestimmen. Die Leiche kann also zehn, sie kann aber auch fünfzig Jahre alt sein. Das ist der Bereich, in dem wir uns bewegen.«
»Fünfzig Jahre alt. Soweit waren wir ja schon.«
Greving stößt sich an dem »Wir«, lächelt aber und fährt fort.
»Über den Lehmverschluß der Höhle haben wir nichts in Erfahrung gebracht. Aber da wir das Alter der Leiche annähernd kennen, ist das auch nicht notwendig. Wir müssen auf der Suche nach der Identität des Opfers eben einen Zeitraum von vierzig Jahren abdecken.«
Mauser nickt und schlürft seinen Kaffee, in dem jetzt Krümel schwimmen. Die sind also genau so schlau wie ich, denkt er. Während ich versucht hab, den Täter ausfindig zu machen, haben sie sich um das Opfer gekümmert.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagt Greving plötzlich und holt aus der Tasche des Mantels, den er über die Stuhllehne gehängt hat, eines der Bilder. »Eine Rekonstruktion des Gesichts der Leiche.«
Mauser schaut sich das Bild genau an. Dann schüttelt er den Kopf.
»Den kenn ich nicht. Und das ist eine Rekonstruktion, sagen Sie? Wie geht das?«
»Heutzutage geht alles«, erwidert Greving. »Die Bedeutung des Kreidekreuzes haben wir auch herausgefunden. Seither wissen wir, daß das Opfer einer der Behinderten sein könnte, die in Grafeneck ermordet wurden.«
Mauser läßt sich nichts anmerken. Es war klar, daß sie das herausfinden. Waltz kann jetzt zufrieden damit sein, daß er nichts erzählt hat.
»Sie wissen ja«, sagt Mauser leise, »daß meine Schwester auch zu denen gehört hat, die Sie in Grafeneck vergast haben.«
»Nein, das wußte ich nicht. Das tut mir leid.«
»Wahrscheinlich hat sie dann auch so ein Kreuz auf dem Rücken gehabt.«
Mauser sitzt am Stubentisch mit dem Lederanzug am Leib. Schon ein eigener Mensch, denkt Greving. Steckt tief in der Vergangenheit. Ich sollte ihn nach seinem Vater fragen.
»Herr Mauser, ich habe gehört, daß Sie eine Pistole besitzen«, beginnt er vorsichtig.
»Wer sagt das?«
»Von Ihrem Vater. Ist das richtig?«
Mauser überläuft es kalt. Er weiß, wenn die Pistole ans Tageslicht kommt, wenn sie wieder zum Leben erwacht und gesehen wird, dann kommt alles heraus. Dann läßt sich nichts mehr halten. Es ist diese verdammte Waffe. Ich hätte sie wegwerfen sollen, denkt er.
»Die ist im Keller. Ab und zu nehm ich sie heraus und mach sie sauber, bau sie auseinander und wieder zusammen.«
»Warum haben Sie Mattes damit bedroht?«
»Mattes?«
»Das paßt doch gar nicht zu Ihnen.«
»Was paßt schon zu einem Menschen und was nicht? Woher wissen Sie das überhaupt?«
»Mattes muß es Waiblinger erzählt haben, und der hält es für notwendig, den Vorgang aktenkundig zu machen.«
»Aktenkundig. Das glaub ich!« Mauser richtet sich auf und holt Luft. »Diese Pistol, wissen Sie«, fängt Mauser an. »Einer nimmt sie in die Hand, und plötzlich tut einer etwas, woran einer im Traum nicht gedacht hat. So eine Pistol ist ein komisches Ding.«
»Kann es sein, daß die Waffe etwas mit dem Toten in der Höhle zu tun hat?«
Mauser lacht. Er weiß selbst nicht, was er so komisch findet. Aber daß der Kommissar an seinem Kaffeetisch sitzt und die Waffe sich selbst entlarvt und jetzt mit einem kleinen Wörtchen alles zutage tritt, das findet er zum Lachen. Er trinkt seine Tasse leer und fordert den Kommissar auf, mit ihm in den Keller zu gehen.
Dort holt er sie aus dem Versteck. Jetzt, wie sie da liegt im Öltuch und schußbereit, und unter dem Blick des Kommissars, der schon viele Waffen gesehen haben muß, Waffen als Tötungswerkzeuge, Waffen als Mordinstrumente, jetzt ist Mauser klar, daß er sie nicht für sich behalten kann. Jetzt ist sie nicht mehr das kaiserzeitliche Andenken, das er jahrzehntelang gepflegt hat. Sie ist eine Waffe.
»Eine alte P 04«, sagt Mauser und bietet sie dem Kommissar an, er solle sie in die Hand nehmen.
Greving zögert unwillkürlich. Waffen werden immer mit einem Tuch oder Handschuhen angefaßt. Bis ihm einfällt, daß außer Mausers Fingerabdrücken dort keine mehr zu finden sein werden. Trotzdem nimmt er die Waffe nicht. Es ist kein Schaustück, was Mauser da aus den Tiefen seines Andenkenkellers zutage gefördert hat.
Es ist ein Corpus delicti.
»Sie haben das Projektil gefunden, nicht wahr?« fragt Greving nebenher und beschaut sich die Pistole genau, ohne sie anzurühren. »Und sie haben die Kugeln miteinander verglichen.«.
»So gut ich das halt kann. Ihre Untersuchung wird sicher besser sein.«
»Wo haben Sie die Kugel gefunden?«
Jetzt erzählt Mauser ihm alles, plaudert drauflos, was er erlebt hat in den letzten Tagen. Es tut gut, das Geheimnis zu lüften. An Behinderung der Justiz oder Unterschlagung von Beweismitteln hat er nicht im Traum gedacht, sagt er. Er hat überhaupt nicht mehr richtig gedacht in der letzten Zeit. Greving nickt nur.
»Was hat Ihre Untersuchung denn ergeben?«
Mauser lacht. Warum nur sieht alles so lächerlich aus, nun, da ihn jemand danach fragt? Unterm Mikroskop Bleistiftstriche verglichen. »Die Kugel stammt aus der Waffe meines Vaters. Also muß er der Täter sein.«
Greving verzieht den Mund.
»Das ist nicht gesagt, Herr Mauser. Genauso gut könnte jemand anders mit der Waffe geschossen haben. Vielleicht ist sie Ihrem Vater aus der Hand gerissen worden, oder kurzzeitig gestohlen. Wir suchen ja den Täter im Nazi-Umkreis, und zu dem hat Ihr Vater nicht gehört.«
»Das hab ich mir auch gesagt. Aber – woher will einer wissen, was in einem Menschen vorgeht?« Mauser schneidet eine Grimasse, als habe er Schmerzen.
Greving schaut ihn an.
Behutsam legt er Mauser die Hand auf die Schulter.
»Sie haben einiges mitgemacht in den vergangenen Tagen, nicht?«
Mauser nickt nur.
»Sie hätten uns den Fund der Kugel gleich melden sollen. Dann hätten Sie sich womöglich viel erspart.«
»Nehmen Sie sie mit«, sagt Mauser und drängt Greving die Waffe auf. »Ich will sie nicht mehr.« Er holt aus einer Schublade das Plastiktütchen mit der gefundenen Kugel und gibt sie hinterher.
Greving ist froh, daß sie endlich einen Anhaltspunkt haben. Die Geschichte geht um ein paar Ecken, denkt er. Die ist nicht gerade und schlüssig, da steckt etwas Krummes dahinter. Aber das finden wir vielleicht noch heraus. Greving ist auch froh, daß Mauser sein Geheimnis gelüftet hat. Damit ist der dunkle Zusammenhang zwischen ihm und der Höhlenleiche gelöst. Hoffe ich zumindest, denkt Greving. Vielleicht ist da doch noch etwas Lichtscheues, eine Bedrängnis, körperlich zu spüren an diesem Mann. Er schleppt soviel mit sich herum. Soviel Altes. Das ist nicht gut.
»Sie haben die Leiche ziemlich genau untersucht, als Sie sie gefunden haben, nicht wahr?«
Jetzt sieht ihn Mauser erstaunt an. Mit großen Augen wie ein Kind. Was ist das nur für ein Bursche?
»Sie haben eine Probe von der Erde unter den Fingernägeln der Leiche mitgenommen. Und dann haben Sie herausgefunden, daß die Erde zu der Gegend über der Höhle gehört, nicht wahr?«
Mauser grinst nur. Ihm fällt nichts anderes ein.
»Haben Sie gedacht, wir merken das nicht? Wir haben sehr rasch festgestellt, daß sich jemand an dem Leichnam zu schaffen gemacht hat. Und das konnten ja nur Sie gewesen sein. Sie haben den Fund auch nicht gleich gemeldet, Sie sind –«
»Sie haben recht, Herr Kommissar«, sagt Mauser und hebt die Hände.
Sie blicken einander an.
»Was soll ich nur mit Ihnen machen?« sagt Greving ratlos. »Sie haben sich massiv in die Arbeit der Polizei eingemischt. Waiblinger würde Sie dafür ins Gefängnis stecken wollen.«
»Ach, der Waiblinger!«
»Haben Sie mir jetzt alles gesagt, oder halten Sie mit noch etwas hinter dem Berg?«
»Erbarmen«, sagt Mauser nur. »Das ist es, was wir brauchen. Das wissen Sie ja, Herr Kommissar.«
Greving runzelt die Stirn und nickt dann.
»Wir werden Ihnen Bescheid geben, sobald das Ergebnis der ballistischen Untersuchung da ist.«