8
Gemeinsam erklimmen sie ein steiles Sträßchen, das am Wald endet. Mauser macht mit Veronika den versprochenen Besuch auf dem jüdischen Friedhof. Mühlengasse, früher Judengasse. Sie kommen an der ehemaligen Synagoge vorbei. Mauser schaut hinüber. Ein Mahnmal haben sie da jetzt hingestellt.
»Da drüben«, sagt Veronika.
»Ich weiß.«
Veronika ist ein wenig außer Atem, als sie oben am Wald ankommen. Rechter Hand zweigt ein Weg ab, der unter den Obstbäumen entlangführt. Schlüsselblumen und Bauernbübchen blühen am Rain. Die Bäume haben die ersten Blütenknospen. Mauser geht neben Veronika her und hat nichts zu sagen. Was ihn bewegt und ihm nicht aus dem Kopf geht, kann er ihr nicht sagen. Niemandem kann er das. Sie hakt sich bei ihm unter, aber er schüttelt ihren Arm wieder ab.
»Ich kann das gerade nicht brauchen«, sagt er.
Veronika nickt und ist gekränkt.
Durch die Obstbäume schimmern die Dächer des Dorfes herauf. Gegenüber am Talhang liegt der andere Friedhof, der nichtjüdische. Dort sollte Mutz ihr Grab haben. Wie sein Vater und seine Mutter. Aber das haben sie nicht geschafft. Die Liste der Abtransportierten haben sie abschließen können, aber Mutz ist immer noch nur ein Name darauf. Ich sollte da oben ihr Grab einrichten, denkt Mauser. In Grafeneck steht auch eine Gedenkstätte, da sind die Namen ausgelegt in einem Buch, jeder kann sie nachlesen. Das kann ein Grab nicht ersetzen.
Sie nähern sich einem Buchenwäldchen am Talrand, der Hag ist umfriedet von Jägerzaun und Haselhecken. Sie treten durch eine Pforte ein.
»Der Gutort, wurde er immer genannt«, meint Veronika.
»Der Gutort?«
»Das hat mir Herr Waltz erzählt. Den Guten Ort von Buttenhausen haben ihn die israelitischen Mitbürger immer genannt.«
»Israelitische Mitbürger! Red nicht so geschwollen.«
»Ihre Friedhöfe werden nie aufgegeben«, erzählt Veronika und steigt die ersten Trittplatten hinauf. Sie führen hangaufwärts durch das Gras. Rechts und links ragen die Grabsteine aus dem Rasen wie unordentliche Saat, Kreuz- und Querreihen bis an den waldwärtigen Zaun, viele schräg gekippt, manche wie abgebrochene Zahnstümpfe.
»Aufgelassen heißt das«, sagt Mauser.
»Von mir aus. Deshalb findet man hier noch alte Grabsteine.«
»Hat dir das auch der Waltz erzählt?«
»Vierhundert sind es. Fast vierhundert. Der älteste aus dem Jahr 1802. Herr Waltz hat eine Belegungsliste …«
»Der sollte sich mal so viel Mühe machen mit den Opfern aus Grafeneck. Die haben keinen Friedhof.«
»Was ist denn los mit dir? In letzter Zeit geht dir das nicht mehr aus dem Kopf.«
Veronika mag den Friedhof. Das weiß Mauser. Dagegen läßt sich nichts machen. Wenn es nicht unbedingt ein Friedhof wäre, würde er Mauser auch gefallen. Launig spielt der Wind in den Birkenschnüren und im jungen Buchenlaub. Im Haselbusch zirpen Vögel. Ein Trecker ist unten im Dorf zu hören und das Kindergeschrei vom Bolzplatz neben der Lauter.
Er setzt sich auf eine Bank und läßt Veronika herumstreifen.
Eigentlich ist das kein Friedhof, denkt er. Das ist ein Märchenwinkel, versteckt am Hang. Ich habe keine andächtigen Gefühle, denkt er. Ich wünschte, Mutz hätte so einen Platz, wo ich hingehen und an sie denken könnte. An Mutters Grab bin ich immer am Geburtstag. Vaters Grab daneben. Das ist in Ordnung. Das paßt am Volkstrauertag und auch an Ostern. Dahin sollten wir mal einen Spaziergang machen. Aber Mutz.
Veronika kommt zurück und setzt sich neben ihn. Sie spürt, daß er sich eingeigelt hat, und versucht, an ihn heranzukommen. Ein alter Igel ist er, denkt sie. Wenn er was hat, spricht er mit niemandem darüber. Frißt alles in sich hinein.
»Die Grabsteine sind chronologisch von unten nach oben geordnet«, erzählt sie. »Und von links nach rechts. Drüben, im rechten Teil, stehen die neueren. Die reichen schon in die Nazi-Zeit. Hast du dir die mal angeschaut?«
»Wozu?«
»Sie erzählen Geschichten«, sagt sie.
»Das hast du mir schon mal weismachen wollen.«
Mauser schaut sich um. Ja, in gewisser Weise gefallen ihm die Grabsteine. Sie sind anders als die christlichen, vielleicht bloß, weil sie älter sind. Aber sie sehen nicht aus wie Grabsteine, eher wie Denkmäler. Es gibt barocke Säulenreliefs und florale Ornamentik, es gibt deutsche und hebräische Inschriften, die orientalischen Zeichen nehmen sich merkwürdig aus hier am Hang über dem Lautertal. Sandsteinplatten, eingemeißelt die Worte vom Sinai. So müssen Moses Gesetzestafeln ausgesehen haben. Auf manchen Steinen ist nichts drauf, der Name schon verwittert, das Schicksal unbekannt. Unter dem abbröselnden Sand ist der Stein grau. Sprachlos, ein Totenmal ohne Andenken an den Menschen.
Gedenken kann er hier sowieso nicht. Er hat keinen von den Juden richtig gekannt. Als sie abgeholt wurden vom Auto, war er gerade mal vier Jahre alt. Er kennt sie sozusagen nur historisch. Bei Waltz ist das anders.
»Oben hab ich eine Grabplatte gefunden, die von der Stelle gerückt ist«, erzählt Veronika. »Das sieht aus, als hätte die Auferstehung schon stattgefunden.«
»Mach keine Witze über Sachen, an die du nicht glaubst.«
»Ich glaube doch daran«, sagt sie.
»Tust du nicht.«
»Die Menschen mosaischen Glaubens glauben daran«, sagt sie.
»Was hast du nur immer mit den Juden. Ist dir denn sonst nichts wichtig?«
»Aber deshalb wird kein Friedhof aufgegeben, verstehst du? Weil sie an die Auferstehung glauben. An die leibliche.«
Mauser nickt.
Die Namen auf den Grabsteinen umgeben ihn wie eine stumme Versammlung. Als wollten sie ihm etwas sagen, was sie ihm in all den Jahren nicht gesagt haben. Es sind fremde Namen. Kohens haben segnende Hände im Epitaph, sie stammen angeblich von den biblischen Priestern ab. Levis. Löwentals. Rosengarts. Ein Krug. Ein aufgeschlagenes Buch mit einem Messer darunter. Buchstaben geben mit ihrem Zahlenwert das Todesjahr nach dem jüdischen Kalender. Mauser weiß das. Er hat ja auch viel mit Waltz gesprochen. Er kennt ja die Aufzeichnungen, die Waltz gemacht hat. Seit über zwanzig Jahren kümmert er sich um den Friedhof. Im hinteren Teil stehen Holzlatten in die Erde gerammt. Dort gehen sie jetzt hin, zu zweit. Veronika wird stumm, wie jedes Mal, wenn sie hier ist. Ihr geht das Schicksal nahe, das sich in diesen Holzlatten darstellt. Kann man das? fragt sich Mauser. Stumm werden wegen ein paar Holzlatten? Können die einem ein Andenken geben? Man muß sich eine Menge dazu vorstellen, zu jeder Latte einen Menschen, eine Familie, ein qualvolles Sterben in den KZs. Und doch sind es bloß Holzlatten, wenn man sie genauer anschaut. Mit Kreide steht ein Name darauf geschrieben. Auf ihnen liegt ein Steinchen. Das sieht aus, als gehörte es so, als seien Andenken und Schicksal abgezählt, für jeden sein eigenes. Aber die Steinchen wurden von Besuchern daraufgelegt, das weiß Mauser. So ehren Juden das Andenken ihrer Toten und mehren es mit jedem Stein, der dazukommt. Haufen liegen auf den Grabsteinen, zwischen Schneckenhäusern und Nußschalen, umschleiert vom Gespinst zahlloser Albsommer. Nur hat es auf den Holzlatten nicht mehr Platz als für einen Stein.
Für Mutz sollte es auch so eine Holzlatte geben, denkt Mauser. Auch so ein Steinchen. Jedes Mal, wenn er hier heraufkäme, würde er eines ansammeln. Veronika versteht das mit dem Andenken falsch. Sie legt Blütenblätter von Rosen unter die Steinchen. Das ist so ihre Art von Andenken. Sentimentalität, denkt er. Frauen sind so. Sie ist keine Jüdin und meint, daß sie so die Toten ehren kann. Ihr sind nicht alle Toten gleich. Die einen sind ihr Opfer, die anderen Täter. Aber manchmal ist es nicht so leicht, Opfer und Täter auseinanderzuhalten. Wo wohl die Leich aus der Höhle beerdigt werden wird? Dazu müssen sie zuerst einmal herausfinden, wer sie ist. Die Toten zu ehren, das können nur Betroffene. Veronika macht sich zu einer Betroffenen, fällt Mauser auf. Überall macht sie sich betroffen. Überall will sie dabei sein. Ihr ist alles Leid gleich. Vielleicht ist das richtig so. Aber ich kann das nicht.
Es ist gut, was Waltz macht, denkt Mauser. Daß er die Geschichten ausgräbt, die Geschichten zu all den Namen, die sich hier finden. Daß er sie erzählt und bewahrt. Das ist gut. Mir genügt schon, denkt er, wenn ich die eine Geschichte heraus find, die Geschichte dieser einen Leich.
Während Veronika bei den Latten stehen bleibt, geht Mauser zurück durch den Friedhof. Beugt sich manchmal herab, um die Schriften zu entziffern. Eine Jungfrau Sara Adler starb mit zweiundzwanzig Jahren. Eine Tote nicht lesbaren Namens verblich 1881 in einer Heilanstalt. Einer aus Kiew starb im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett. Dann die vielen schwäbischen Namen, die sich die Juden im achtzehnten Jahrhundert unter dem Schutzbrief selber geben durften. Rieser, Hofheimer, Lindauer. Die biblischen Vornamen geben eine unfreiwillige Komik dazu, die das ganze Leben im Dorf, das Nebeneinander und Füreinander, ausdrückt. Das Leben der Juden in Buttenhausen: Moses Oetinger und Esther Seligmann Schwab.
Veronika holt ihn ein. Sie setzen sich auf die Bank am Eingang.
»Eine Geschichte solltest du dir anhören«, sagt sie. »Bloß zwei Namen, aber wenn man die Geschichte dazu kennt …«
»Erzähl schon.«
»Eine Sofie Levi und ihre Tochter Rosa schluckten am 27. Oktober 1940 Tabletten, um dem Auto zu entgehen.«
»Das Auto, ja.« Mauser nickt. »Das war für die Juden, was der Bus für Mutz war.«
»Die Mutter war sofort tot, Rosa starb erst einen Tag später. Sie hätte gerettet werden können, stell dir das vor. Der Arzt hat sich geweigert, sie zu retten. Wenn er sie gerettet hätte, wäre sie nach Auschwitz oder Theresienstadt gekommen und dort gestorben.«
»Hältst du das für Unrecht?«
»Was?«
»Daß der Arzt sie nicht gerettet hat?«
Veronika zuckt die Schultern. »Der Arzt meinte, er sei von seinem Eid her nur verpflichtet, nicht zu töten, aber nicht, Leben zu verlängern.«
»Vielleicht hätte sie ja das KZ überlebt«, meint Mauser. Recht oder Unrecht, wer will das entscheiden. Irgendwie hat Greving recht.
»Zu Fuß mußten sie den Sarg ins Trauerhaus tragen, weil sie keinen Wagen benutzen durften. Und die Trauerrede wurde von einem grölenden Pöbel übertönt, den die Nazis eigens angeheuert hatten. Stell dir das vor!«
»Vorstellen muß man es sich«, sagt Mauser und nickt wieder.
»Du nickst immer nur«, meint Veronika und nimmt seine Hand. »Ich möchte einmal wissen, woran du immer herumdenkst. Mit dir stimmt doch was nicht.«
»Mich regt es halt manchmal auf, wie sehr du dich um die Juden kümmerst. Und was mit meiner Familie ist, ist dir egal. Es hat keine Nazis in Buttenhausen gegeben. Oder fast keine. Die kamen alle von außerhalb.«
»Ich weiß. Dein Vater hat sich gegen sie gestellt.«
»Mein Vater«, fährt Mauser plötzlich auf. »Was weißt denn du davon? Er war kein Held. Wie er da den SA-Führer mit seiner P 04 in Schach gehalten hat, das war doch keine Heldentat. Er hat einfach getan, was er für richtig gehalten hat. Vielleicht hätte er auch jemanden erschossen, wenn er das für richtig gehalten hätte.«
»Jemand erschossen? In Ausübung seines Amtes, meinst du?«
»Was weiß ich! Vielleicht einen Juden, wenn er das für richtig gehalten hätte. Irgendeinen Grund würde er schon gehabt haben.«
»Einen Juden? Dein Vater?«
»Mein Vater hat nicht die Juden deshalb beschützt, weil es Juden waren. Er hat es nur für Unrecht gehalten, was man mit ihnen gemacht hat. Das ist was anderes.«
»Für dich war dein Vater immer ein Vorbild«, sagt Veronika behutsam.
»Vorbild! Was weiß ich denn von der Vergangenheit. Da war ich noch zu klein, um das alles zu verstehen. Was weiß ich denn, was in ihm vorgegangen ist nach Mutters Tod? Nichts weiß ich.«
»Komm, gehen wir heim. Ich hab einen Kuchen gebacken.«
Mauser schüttelt den Kopf. Heimgehen, das kann er nicht. Er muß sich die Kugel unterm Mikroskop genauer ansehen. Das Rillenprofil aufzeichnen. Dann hätte er ein Vergleichsmuster und könnte herausfinden, ob die Pistole seines Vaters tatsächlich die Tatwaffe ist.
»Kann nicht. Hab was zu erledigen.«
»Aber jetzt sind Ferien.«
»Nicht für mich.«
Sie schüttelt verständnislos den Kopf. Aber sie weiß, daß er mit etwas Eigenem beschäftigt ist. Sie wird nicht an ihn herankommen und wird vielleicht nie erfahren, was ihn so umgetrieben hat.
»Du weißt, ich hab dich lieb«, sagt sie.
Sie stehen auf und verlassen den Friedhof. Auf dem Rückweg halten sie sich an der Hand. Mauser würde gerne mitgehen zum Kaffee. Er spürt, daß da etwas von ihm Besitz ergriffen hat, ihm eine Last aufgeladen worden ist, und bevor er diese Last nicht abgearbeitet hat, wird er keine Ruhe finden. Was wohl der Kommissar gerade macht? Läßt das Gelände oberhalb der Höhle absuchen. Geht im Dorf herum und befragt die Leute. Ermittelt. Was haben die bei der Spurensicherung gefunden? Irgend etwas auf dem Rücken des Toten. Ich sollte mit ihm reden, denkt Mauser. Vorsichtig. Ich muß wissen, was die wissen. Wenn die P 04 wirklich die Tatwaffe ist, dann soll keiner herausfinden, daß mein Vater etwas damit zu tun hat. Die Kugel kriegen sie nie zu Gesicht. Die behalt ich für mich.