16
Greving geht mit dem Bild des Toten durchs Dorf. Waltz könnte ihn kennen, denkt Mauser. Er fühlt sich innerlich leer. Zum ersten Mal seit einer Woche sind die Dinge wieder, was sie immer waren. Der Motorradhelm, den er aufsetzt. Die Handschuhe, die er anzieht. Den Zündschlüssel, den er ins Schloß steckt. Er schiebt die Maschine aus der Garage, stellt sie auf dem Seitständer ab und schließt die Garagentür. Der Tote in der Höhle ist jetzt ein Opfer. Endlich. Ein armer Mensch, der zu Tode gekommen ist und dessen Mörder nach fünfzig Jahren benannt werden soll. Auch wenn es sein Vater ist: Das berührt Mauser nicht mehr. Vielleicht war das alles ein bißchen zu viel in den letzten Tagen, denkt er. Aber er braucht diese Leere in sich für den Gang, den er jetzt zu tun hat. Er will noch einmal zu Hochstetter. Er muß herausfinden, was Hochstetter mit seinem Vater zu tun hat. Eine merkwürdige Geschichte um diese Pistole, mit der sein Vater Hochstetter bedroht haben soll.
Er fährt nach Hundersingen, findet das Haus gleich wieder. Es steht im Schatten des Talhangs, die Sonne leuchtet blaß hinter Schleiergewölk. Mauser stellt das Motorrad vor der Gartentür ab. Auf dem Weg zum Haus setzt er den Helm ab und zieht die Handschuhe aus. Er läutet.
Horcht.
Wieder die schleppenden Schritte, die er schon letztes Mal gehört hat.
Die Tür öffnet sich, und Hochstetter steht vor ihm, leicht gebückt, am Stock, blinzelt ihn mit trüben Augen an. Er wirkt nicht mehr so einschüchternd wie beim letzten Mal, irgendetwas ist anders. Ich bin anders, sagt sich Mauser.
»Grüß Gott, Herr Hochstetter.«
»Grüß Gott. Sie waren doch erst kürzlich hier, stimmt das? Sie sind, warten Sie, auf den Namen komm ich noch.«
»Mauser. Hermann Mauser. Wir haben –«
»Mauser! Aber sicher. Mauser. Kein Wunder, daß Sie noch mal herkommen. Ihr Mausers seid aufdringlich mit eurer Gerechtigkeit.«
»Ich wollte mich für mein Auftreten letztes Mal entschuldigen«, sagt Mauser in ruhigem Ton. Es fällt ihm leicht. Der Zorn ist verraucht, jetzt interessiert ihn nur noch, was das für ein Mann ist und was für eine Geschichte er zu erzählen hat.
»Auftreten?«
»Daß ich Sie mit der Pistol bedroht hab.« Mauser weiß, daß er ohne Entschuldigung gleich die Tür gewiesen bekäme. Er hat sich das vorher überlegt und beschlossen, es zu tun. Es tut ihm sogar wirklich leid. Mit der Pistole herumfuchteln, das ist nicht seine Art.
»Die Pistole. Ach was! Deswegen kommen Sie immer zu mir, Sie Held!« erwidert Hochstetter spöttisch.
»Sie sollen mir erzählen, was mit meinem Vater war. Als er Sie bedroht hat …«
Hochstetter lacht spöttisch. Unmerklich hat er sich aufgerichtet, er mustert Mauser von oben bis unten.
»Ihr Vater sollte herkommen und sich entschuldigen. Oder sind Sie an seiner Stelle gekommen?«
»Mein Vater ist schon seit über dreißig Jahren tot.«
Hochstetter winkt ab. »Das ist mir egal. Sich entschuldigen kommen – was für ein Witz!«
»Darf ich eintreten?« fragt Mauser freundlich. Er will den Alten zum Reden bringen, da muß er behutsam vorgehen.
»Nein. Sie kommen mir nicht mehr ins Haus.«
»Sie haben gesagt, mein Vater hat Sie mit der Pistol bedroht. Wann war das? Was ist geschehen?«
Hochstetter schüttelt nur den Kopf. Er spürt einen Stich im Herz. Er weiß, daß er sich schonen muß. Seit dem letzten Besuch von diesem aufdringlichen Kerl geht es ihm schlechter. Er spürt das Herz schlagen wie ein übergroßes Organ, seine ganze Brust dröhnt davon. Die Pistole, denkt er. Mauser. Und jetzt sieht er die Bilder wieder vor sich, die Bilder, die er so lange vergessen hat. Bis dieser Mensch hier wieder auftaucht. Bis sie diese Leiche in der Höhle gefunden haben. Das muß er sein, denkt Hochstetter.
Zu dritt haben sie uns aufgelauert. Eine Waffe im Dämmerlicht, in der Hand des einen, der eine Polizeiuniform trug. Mitgeschleppt. Gefesselt. In den Wald. Haben ihm den Anzug angezogen, ein Kreidekreuz darauf gemalt. Sogar eine Krawatte umgebunden. Ich habe zugesehen, denkt Hochstetter und faßt sich ans Herz. Dann mir die Waffe an die Schläfe gedrückt. Das kalte Metall, kalt von der Waldluft, den Kreis der Mündung, den spüre ich noch heute. Dann mir die Pistole in die Hand gedrückt, die zweite Pistole, woher kam die, wer hat sie gehabt, mir in die Hand gedrückt. Schieß! Knall ihn ab! Und der kniet zitternd im Laub und hat den Kopf gesenkt, die Hände auf den Rücken gefesselt, mit Handschellen. Eine Farce, das Ganze. Eine obszöne Inszenierung. Ein zynisches Ritual, der Mauser hat es sich ausgedacht, und ich habe die Pistole genommen, immer noch mit der Mündung an meiner Schläfe. Genommen, den Griff gespürt, den Finger auf den Abzug gelegt. Schieß!
Gezittert habe ich. Noch nie eine Waffe in der Hand gehabt.
Noch nie einen Menschen getötet.
Und abgedrückt.
Der Knall. Mitten in der Waldstille.
Die Waffe ruckt in der Hand wie ein Tier.
Aufgesetzter Schuß. Das Blut hat gespritzt.
Pulvergeruch.
Der Mann fällt um, ins Laub, wie ein Sack.
Er sieht die Bilder vor sich und hört dazu eine Trommel dröhnen, tief in seiner Brust, ein mächtiges Wummern und Donnern, das die Bilder überdeckt.
Man hat mir die Waffe aus der Hand genommen. Mich laufen lassen. Ich sollte nur der Täter sein. Ich bin der Täter.
Hochstetter schlägt die Tür zu. Stützt sich schwer auf seinen Stock. Schleppt sich ins Wohnzimmer, fällt auf das Sofa. Das Herz dröhnt und windet sich, er keucht, schnappt nach Luft. Herzanfall, denkt Hochstetter. Greift zum Telefon.
Draußen steht Mauser und weiß nicht, was er tun soll. Er weiß nichts von dem Herzanfall, hat nur in Hochstetters Gesicht gesehen, wie etwas darüberhuschte, ein Schatten, ein innerer Kampf. Eine Zeit lang steht er so und horcht, ob drinnen etwas zu hören ist.
Er hat nicht erfahren, was er wissen wollte. Zuckt die Achseln. Muß ich ein andermal wiederkommen. Ich krieg’s noch raus, denkt er. Dreht sich um und geht zurück zu seiner Maschine.
Nachdem er den Unterricht für morgen vorbereitet hat, geht Mauser in den »Pflug«. Dort sitzt er gern an einem Tisch in der Ecke, schaut zu, wer noch hier ist, wer hereinkommt, hört den Gesprächen zu, trinkt seinen Schoppen Wein. Diesmal sitzt an dem Tisch der Heinrich Waltz. Mauser setzt sich dazu. Die beiden schweigen, bis Mauser bestellt hat. Dann beugt sich Waltz vor und legt Mauser die Hand auf die Schulter.
»Hermann, wie geht’s?«
»Täusch ich mich, oder gucken mich die Leute hier dumm an?« fragt Mauser.
Waltz zuckt die Schultern. »Kann schon sein.«
»Hat der Waiblinger es rumerzählt?«
»Das mit der Pistol? Kann schon sein.«
Mauser nippt an seinem Schoppenglas. Dann holt er umständlich das Etui mit den Zigarren hervor. Holt sich den Aschenbecher heran. »Tut mir leid, ich war ziemlich durcheinander.«
»Das mußt du dem Eugen Mattes sagen, nicht mir.«
»Das werd ich auch. Übrigens, hat dir der Kommissar das Bild schon gezeigt?«
»Das Bild? Was für ein Bild?«
»Eine Rekonstruktion von der Leich. Die haben Möglichkeiten, das glaubt einer nicht. Sieht richtig lebendig aus.«
»Ja, stimmt, davon habe ich gehört.«
»Der Waiblinger läuft auch damit durchs Dorf. Irgendeiner wird ihn schon kennen, glaub ich.«
Waltz hat immer noch seine Hand auf Mausers Schulter liegen. »Du, sag mal, das mit deinem Vater, daß er der Mörder sein soll und so, glaubst du das immer noch?«
»Muß ich ja wohl.« Mauser gibt sich verschlossen. Darüber will er nicht mehr reden. Es ist immer noch angenehm leer in ihm. Er hat die Pistole abgegeben und damit die Vergangenheit. Wie er mit dem Wissen leben soll, weiß er nicht.
»Du, ich hätte da was, das ich dir gern zeigen würde. Über die Leich. Das hilft dir vielleicht.«
Mauser kneift Daumen und Zeigefinger in die Augenwinkel. Reibt sich die Stirn. »Bin vollkommen fertig«, sagt er leise. »Ich war bei Hochstetter, aber der sagt nichts. Der will das wohl mit ins Grab nehmen, die feige Sau.«
»Das kann ich mir denken.«
»Was hast denn zum Zeigen?«
»Einen Zeitungsausschnitt. Hier«, und kramt aus der Tasche einen Zettel heraus. Gilbes Zeitungspapier, zusammengefaltet. Waltz schiebt ihm den Zettel hin. »Schau dir das mal an.«
Mauser nimmt ihn und faltet ihn auseinander. Waltz schaut sich um, ob sie jemand dabei beobachtet. Der Wirt bedient an einem der Tische, ein Ehepaar ißt Schnitzel, drei spielen Karten. Mauser legt den Ausschnitt auf die Tischfläche und streicht ihn glatt.
Greving sieht schon von weitem, daß Eugen Mattes vor der Scheune Holz hackt. Der Fliederbusch an der Ecke ist noch kahl, eine Katze streicht um die Scheunentür. Von Haus zu Haus ist er gegangen, hat geläutet, sich in die Stuben führen oder an der Haustür abfertigen lassen, hat das Bild gezeigt. Kopfschütteln. Immer wieder. Ist auch kein Wunder, hat er sich gedacht. Die ganz Alten, die vor fünfzig Jahren schon gelebt haben und keine kleinen Kinder waren, die gibt es nicht mehr oft in Buttenhausen. Waiblinger ist nach Hundersingen gefahren und versucht es dort. Aber sie werden die Untersuchung bis nach Gundelfingen, bis nach Marbach ausdehnen müssen, in Ehestetten und Eglingen und vielleicht sogar in Münsingen nachfragen müssen. Das kostet Zeit. Lange will er hier nicht mehr bleiben. Vielleicht sollte ich mir Verstärkung holen, denkt Greving. Waiblinger und er allein brauchen zu lange.
Eugen Mattes schaut vom Hackklotz auf und grüßt.
»Grüß Gott, Herr Kommissar.«
»Guten Tag, Herr Mattes. Darf ich Sie einen Augenblick stören?«
»Je älter der Bock, desto härter ’s Horn. Sind Sie immer noch wegen der Leich unterwegs? Ich mache bloß grad ein paar Spächele für den Ofen, wissen Sie.«
»Wir haben ein paar Dinge herausgefunden, aber wirklich weiter sind wir noch nicht.«
»Sie, Herr Kommissar«, sagt Mattes und winkt ihn her, senkt die Stimme, hat das Beil schlagbereit in der Hand. Als wollte er mir den Kopf abhauen, denkt Greving. Wie einem Huhn. Gackernd renne ich dann herum, ohne Kopf. »Hat denn der Mauser was damit zu tun?«
»Herr Mauser? Wieso sollte er?«
»Weil der hat mich mit einer Pistol bedroht, lauter dummes Zeug gefaselt. Den treibt was um, sage ich Ihnen!«
Greving nickt. »Das hat mir Waiblinger schon erzählt. Sie haben keine Anzeige erstattet?«
»Das nicht«, sagt Mattes und läßt das Beil sinken. Nachdenklich schweigt er einen Augenblick lang. »Wissen Sie, ich habe zwar ein bißchen Angst gehabt, was weiß ich, was dem einfallen kann, aber schließlich war der schon immer ein komischer Kauz. Ein Eigenbrötler. Daß gerade der die Leich findet …«
»Und wie kommen Sie darauf, daß er etwas mit dem Mord zu tun hat?«
»Na, ich mein halt. Der Waiblinger –«
»Der Herr Waiblinger sollte sich mehr um seine Aufgaben kümmern und weniger Gerüchte in die Welt setzen. Zum Beispiel die Leute nach diesem Bild befragen.« Und er zieht es aus der Tasche, hält es Mattes hin, beobachtet ihn genau. Es zuckt in Mattes’ Gesicht, er wendet sich ab, schaut noch einmal hin und zuckt die Schultern. Bückt sich nach einer Holzrolle und will weiterhacken.
»Den hab ich noch nie gesehen«, sagt er abweisend.
»Herr Mattes, das glaube ich Ihnen nicht.«
Spurlos verschwunden liest Mauser die Überschrift. Runzelt die Stirn. Er hat keinen Nerv, sich irgendwelche Zeitungsberichte durchzulesen. Erst als er das Foto entdeckt, schaut er genauer hin. Das Foto kommt ihm bekannt vor. Er schaut sich das Gesicht an, es steckt in einem Uniformkragen. Der Mann trägt eine Uniformmütze und hat unterm Auge ein Muttermal. Jetzt erkennt Mauser das Gesicht.
»Das ist er«, sagt er verdutzt.
»Gell?« sagt Waltz und beugt sich mit ihm über den Ausschnitt.
»Wer ist das?«
»Lies.«
Mauser überfliegt den Artikel. Er versteht nicht viel. Nur das eine: Der Leiter der Anstalt Grafeneck ist an einem zwölften November neunzehnhundertvierundvierzig spurlos verschwunden. Dr. Jürgen Schumacher. Der Leiter von Grafeneck. Mauser nickt vor sich hin.
Der ist die Leich. Das Muttermal ist unverkennbar.
»Woher hast das?« fragt er Waltz und mustert ihn mißtrauisch.
»Aus meinem Archiv. Ich habe es gefunden und habe mir gedacht, das mußt du sehen.«
»Woher weißt denn du, wie der Tote ausgesehen hat? Wenn der Kommissar noch gar nicht bei dir war?«
»Ist doch egal. Weißt denn, was das bedeutet?«
Mauser nickt und lächelt. So was.
»Der Tote war gar kein Behinderter. Das war einer von den Schuldigen.«
»Der Oberschuldige, wenn du’s genau wissen willst.«
Mauser faltet den Ausschnitt wieder zusammen und schiebt ihn Waltz zu. Der nimmt ihn und steckt ihn ein.
»So was«, sagt Mauser und schüttelt den Kopf.
»Da bist du platt.«
»Woher weißt das? Du weißt auch mehr, als du zugibst.«
»Na und? Freust dich nicht? Dein Vater –«
»– war trotzdem ein Mörder.«
»Ein Nazi-Mörder. Das kann man doch verstehen, oder nicht?«
»Verstehen. Ja, das kann ich jetzt.«
»Der war damals fuchsteufelswild, dein Vater. Ganz kalt war der vor Wut. Jeder hat gewußt, was die in Grafeneck machen, und keiner hat nix unternehmen können...«
»Woher weißt das von meinem Vater? Bist dabei gewesen?«
Waltz schüttelt den Kopf. Mauser merkt, daß Waltz vieles zu erzählen hätte, aber nicht kann. Laß ihn, denkt Mauser. Wenn er mir’s erzählen will, dann tut er’s schon.
»Daß sie Grafeneck dichtmachen wollen, das haben wir dann erfahren. Einfach abhauen, die ganzen Unterlagen vernichten, und weg. Da hat sich dein Vater gesagt: Die sollen nicht so davonkommen.«
»Und dann ist er hergegangen und hat den Schumacher erschossen?«
»Hingerichtet haben sie den.«
Mauser pfeift leise durch die Zähne.
»Das hätt ich ihm nicht zugetraut.«
»Denk dran, was sie mit Mutz gemacht haben. Und deine Mutter, die sich erhängt hat …«
»Das brauchst mir nicht zu sagen. Hab gedacht, daß er es hingenommen hat. Daß er mit dem Unrecht gelebt hat. Statt dessen hat er selber … den Grat überschritten …«
Waltz klopft ihm auf die Schulter und beugt sich vertraulich her. »Ob er’s war, weiß man ja nicht. Die waren zu dritt. Und wenn schon – er ist tot. Keiner kann mehr was von ihm wollen.«
Mauser hat plötzlich Tränen in den Augen. Der Albtraum ist vorüber: Er muß seinen Vater nicht mehr für einen Nazi und einen Behindertenmörder halten. Statt dessen sieht er ihn vor sich, in seiner Uniform, mit der Koppel um den Bauch, wütend und hilflos und bereit, sein Ideal zu verraten. Ratlos, weil sich Recht und Unrecht nicht mehr scheiden lassen. Allein, Mutter ist tot, niemand da, der ihm raten kann. Aber er war immer allein damit, immer mußte er selber den richtigen Weg finden. Und dann rückt das Kriegsende näher, und in Grafeneck ziehen sie den Schwanz ein und wollen sich davonmachen. Ein letztes Mal qualmt es, die Öfen brennen von den Unterlagen, Autos fahren vor und verladen das Mobiliar, das bleibt nicht verborgen.
»Zu dritt waren sie, sagst?« fragt Mauser und läßt seinen Tränen freien Lauf. Seine Lippe zittert, er schluckt. So hat ihn Waltz noch nie erlebt.
»Soviel ich weiß«, sagt Waltz. Er schaut sich noch einmal in der Stube um. Das ist eigentlich nicht der richtige Ort für so ein Gespräch. Ständig ist er am Überlegen, wie viel er Mauser erzählen soll. Irgendwann muß das Ganze heraus, das ist sicher, aber es muß der richtige Moment dafür sein.
Greving setzt sich neben Mattes auf die Bank, die neben der Haustür steht. Mattes hat seinen Hut abgenommen, ein braunes Cordding, das er in den Händen knautscht. Greving wartet geduldig.
»Wissen Sie«, beginnt Mattes, »ich habe das damals gemacht und mir nicht viel dabei gedacht. Wie sie dahergekommen sind und wir die Busfenster weiß anmalen mußten, da habe ich noch nichts geahnt. Ich weiß selber nicht …«
Mattes dreht und biegt sein Hütchen in den Händen, schaut auf seine groben Schuhe, an denen Erde klebt. Klaubt mit einer Hand Steinchen aus den Sohlen. Schaut dann auf und blickt über die Straße hinweg auf das Nachbarhaus.
»Eigentlich sollte ich Ihnen das lieber drinnen erzählen«, fährt er fort. »Aber meine Frau weiß nichts davon. Glaube ich jedenfalls. Sie hat’s damals nicht erfahren.«
»Erzählen Sie es ruhig hier draußen.«
»Wissen Sie, der Mauser hat schon recht gehabt. Ich bin schuld. Es ist eine Schuld, mit der man immer gelebt hat.«
»Dann hat sie Mauser deswegen mit der Waffe bedroht?«
Mattes nickt. »Er wollte, daß ich’s endlich zugebe.
Und er hat recht. Einmal muß es raus. Ich sag’s Ihnen jetzt, weil Sie sind ja von der Polizei. Ich habe die grauen Busse gefahren, ich habe gewußt, früher als alle anderen, was in Grafeneck vor sich geht. Ich habe zugesehen, wie die Behinderten verfrachtet worden sind. Ich bin dabei gewesen, wie die sie von daheim abgeholt haben. Wie die sie oben …«
Mattes räuspert sich und senkt den Kopf.
Greving nickt. »Die Schuld frißt an einem. Das kann ich gut verstehen.«
»Ich habe mich mitschuldig gemacht. Deshalb wollte ich von der ganzen Zeit nichts mehr wissen. Fünfzig Jahre ist es gut gegangen. Und jetzt wird so eine Leich in einer Höhle gefunden, und alles kommt raus.«
»Sie kennen den Toten.«
»Erst jetzt, wo Sie mir das Bild zeigen, Herr Kommissar. Erst jetzt.«
»Können Sie mir den Namen nennen?«
Mattes räuspert sich noch einmal, er kann kaum sprechen. »Das ist der Leiter. Schumacher hat er geheißen. Dr. Jürgen Schumacher. Der Leiter von Grafeneck.«
Greving zieht die Augenbrauen hoch. Damit hat er nicht gerechnet. Das ist also das Krumme an dieser Geschichte. Die Ecke, um die es geht. Jetzt ist er daran, um diese Ecke zu schauen und den Weg zu sehen, der zur Auflösung führt.
»Und weshalb trägt die Leiche dann ein Kreidekreuz auf dem Rücken? Das war doch den Behinderten vorbehalten?«
Mattes zuckt die Schultern. »Das weiß ich nicht. Vielleicht ein Racheakt. Vielleicht hat ihm einer ein Kreuz aufgemalt und wollte, daß es ihm genauso geht wie den Behinderten, die er vergast hat.«
»Wer könnte das getan haben?«
»Herr Kommissar, das weiß ich wirklich nicht.«
Greving nickt. Die ballistische Untersuchung wird zeigen, ob sie die Tatwaffe bereits gefunden haben. Mehr wird nicht herauszubekommen sein. Wer damals vor fünfzig Jahren, ja, fünfzig Jahre sind es nun tatsächlich, wer damals aus Haß oder Wut eine Hinrichtung inszeniert hat, das werden sie nicht mehr klären können. Wer daran beteiligt war und heute noch lebt, wird den Mund halten. Das ist klar.
»Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein?« fragt er Mattes und legt ihm die Hand auf die Schulter. Man hat so wenig Gesten, denkt er, um an dem anderen Anteil zu nehmen.
»Hochstetter«, sagt Mattes erleichtert. Jetzt ist es heraus, und jetzt kann er sich wieder daran erinnern. All die Namen und Orte von damals, den Abgasgeruch der Busse, die Morgenkälte, den Steig durch den Wald hinauf zum Schloß. »Hochstetter ist manchmal mitgefahren, von Zwiefalten her. Ich weiß nicht, ob er mit Schumacher zusammengetroffen ist. Möglich wär’s schon. Obwohl er’s im Prozeß abgestritten hat. Hochstetter war ja Arzt. Da haben wir uns nichts dabei gedacht. Daß der seine eigenen Patienten ausgeliefert hat, hätten wir nie geglaubt. Nachweisen haben sie ihm nichts können.«
»Hochstetter, sagten Sie? Wo wohnt der?«
»In Hundersingen, soviel ich weiß. Wenn er noch lebt.
Der müßte auch schon an die neunzig sein. Dr. Fritz Hochstetter.«
»Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen. Werden Sie Ihrer Frau davon erzählen?«
»Ich weiß nicht. Nur eins weiß ich: Der Mauser hat recht gehabt. Deshalb habe ich ihn auch nicht angezeigt.«
Mauser holt sein großes Taschentuch hervor und wischt sich die Augen. Schneuzt hinein. Er weiß gar nicht, was er denken soll. Die Geschichte hat sich aufgelöst. Sein Vater hat vermutlich einen Menschen erschossen, aber einen seiner Todfeinde. Einen Unrechtsvertreter. Einen, der es mehr als verdient hat. Der Kommissar würde ihn trotzdem verhaften, wenn er noch lebte. Mord verjährt nicht, und auch die Hinrichtung eines Jürgen Schumacher ist ein Verbrechen.
»Warst dabei, Heinrich, ha?« Er faltet das Taschentuch zusammen und steckt es wieder ein.
»Hab ich dir doch gesagt: nein.«
»Woher weißt dann alles? Erzähl mir nichts.«
»Der Gottfried Staudinger ist auch dabei gewesen. Kennst du den noch? Der ist vor zwanzig Jahren gestorben oder so.«
»Und jetzt weißt bloß noch du was davon, was?«
»Und der Hochstetter.«
»Der Hochstetter? Ach was?«
»Der war mit dem Schumacher gemeinsam unterwegs. Im Auto. Die waren doch alle am Abhauen. Eine Reifenpanne, das hatten die damals und sind in den ›Pflug‹ gekommen, um zu telefonieren. Da haben die drei sie gesehen. Dein Vater hat gleich gewußt, wer die waren. Angepöbelt haben sie die, und dein Vater hat die Pistol aus der Jackentasche gezogen. Es war nicht seine Dienstpistole. Draußen im Flur. Das hat niemand mitbekommen. In den Wald, da haben sie die dann hingebracht.«
»Den Hochstetter auch?«
»Den auch.«
»Das war’s also, was er mir verschwiegen hat. Das war’s, wo ihn mein Vater mit der Pistol bedroht hat. Aber sag: Da hätt man ja Augenzeugen dafür gehabt, daß der Hochstetter doch mit dem Schumacher zusammengekommen ist. Wieso haben die nicht im Prozeß gegen Hochstetter ausgesagt?«
»Denk doch nach! Dann hätten sie’s ja zugeben müssen, daß sie was mit dem Verschwinden vom Schumacher zu tun haben. Das ist schön geheim geblieben.«
»Lauter Geschichten«, sagt Mauser nachdenklich. »Hängen alle miteinander zusammen. Wenn nur einer das Maul aufgemacht hätt.«
»Was dann passiert ist, das weiß man nicht. Einer von den dreien, der ist weggegangen, wie der Schumacher am Boden gekniet ist, und dein Vater hat beide in Schach gehalten. Der Staudinger, der ist dann dageblieben. Einen Schuß hat man dann gehört.«
»Du weiß also nicht, wer geschossen hat?«
Waltz schüttelt den Kopf, lächelt Mauser aufmunternd zu.
»Dein Vater hat da mal so was gesagt, wie sie dem Schumacher den Anzug angezogen haben. Das Kreidekreuz hinten draufgemalt. Ein Lump soll den andern richten oder so. Man weiß nicht, wer’s am Schluß war.«
»Weißt, was sie mit der Leich gemacht haben?« Nun, da sie mitten in der Geschichte sind, erwacht so etwas wie Neugier in Mauser. Es läßt sich alles erzählen, herzählen wie eine Reihe von Fakten, alles stimmt zueinander und fügt sich, das Dunkle und Fremde ist verschwunden. »Wie sie sie in die Höhle gebracht haben?«
Waltz zuckt die Schultern. »Davon weiß ich nix. Wie du die Leich in der Höhle gefunden hast, da habe ich mir gleich was gedacht. Die liegt ja direkt darunter. Und wie es dann um die Nazi-Zeit ging, ist mir aufgegangen: Das kann nur der Schumacher sein.«
»Und du hast mir’s gesagt, damit ich weiß, was mein Vater wirklich gemacht hat, oder nicht?«
Waltz nickt. »Du hast vor den Leuten mit der Pistol herumgefuchtelt …«
»Was wirst dem Kommissar sagen, wenn der mit dem Bild kommt?«
»Nix. Ich weiß von nix.«
»Wenn du nicht dabei warst, kannst’s ihm doch ruhig sagen.«
»Ja, wenn.«
»Vielleicht tut der Hochstetter doch noch ’s Maul auf«, sagt Mauser und trinkt seinen Schoppen leer.