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»Veronika, der Lenz ist da!« sagt er unten an der Haustür. Sie schaut aus dem Küchenfenster und schimpft.
»Du mit deinen blöden Sprüchen! Warte, ich mach dir auf!«
Er steigt die steile Treppe hinauf. In der Küche riecht es nach orientalischen Gewürzen. Er schnüffelt. Veronika hebt die teigverklebten Hände, als er sie kurz umarmt und ihr einen Kuß gibt.
»Schön, daß du da bist.«
Draußen ist es noch hell. Die Tage werden länger. Das Haus liegt am Hang eines Seitentals, an der Straße, die hinauf nach Haidenegg führt; vom Küchenfenster aus kann er auf die Hauptstraße schauen, auf die Giebel des Rathauses, auf den gegenüberliegenden Talhang, wo der Judenfriedhof liegt. Von der Lauter dringt Kinderlachen herauf. Eine Katze streift an der Hecke entlang, eine Amsel zetert.
Er seufzt.
»Was hast du denn?« fragt Veronika und formt aus dem ausgewellten Teig kleine Taschen auf einem Backblech. Er schaut ihr zu, beobachtet ihre breiten Hände mit den kurzen, dicken Fingern. Der Ring an der Linken, der unter buttrigem Geschmier hervorblitzt. Wie ihre Hände Teigvierecke abstechen, den Fleischteig daraufballen, sacht die Ecken darüberfalten, mit der Gabel die Ränder festdrücken.
»Sieht aus wie Maultaschen«, sagt er.
»Es sind aber keine. Das ist türkisch, du wirst es mögen.«
Immer erstaunt es ihn, wie ihre plumpen Hände so geschickt sind. Mit so viel Zartgefühl begabt, denkt er. Wie sie aus dem armseligen Stoff der Welt auf der Töpferscheibe so kunstvolle Gebilde hervorbringen. Oft schaut er ihr dabei zu, so wie er jetzt beim Falten der Fleischpaketchen zuschaut, und wundert sich über die Vasen, Teller, Schüsseln, die aus dem Nichts entstehen. Es ist ein Wunder, denkt er oft. Sie erschafft aus dem Nichts, wie Gott. Sie umkleistert das Nichts mit Hüllen, und erst dieses herausgegrenzte Nichts ist Etwas, ein Ding, ein Gesicht, eine Botschaft.
»Was hast du denn? Du bist so komisch.«
»Auch nicht komischer als sonst«, erwidert er.
»Ach, komm!«
Draußen zetert immer noch die Amsel. Die Katze ist im Gebüsch verschwunden. Der Himmel hat eine sonderbar dämmrige Helle, eine Durchsichtigkeit, als läge dahinter die weite Welt.
»Ostern«, sagt er leise zum Fenster.
»Was hast du heute gemacht?« fragt Veronika.
Er geht in die Stube hinüber und deckt den Tisch. Die Decken sind niedrig im Obergeschoß, die Fenster klein. Veronika hat keine Vorhänge dran, nur schmale Häkelstores, durch die die Nachbarn hereinschauen können.
Unten in der umgebauten Garage hat sie ihre Werkstatt eingerichtet. Obwohl Ostern ist, kommen die Kunden, wann sie wollen. Veronika hat keine Öffnungszeiten, sie ist da oder nicht. Man drückt den unteren Klingelknopf, es dauert eine Zeit, dann geht die zweiflügelige Tür auf und die Künstlerin steht vor einem, mit der glänzenden Gummischürze um den Bauch und farbigen Händen. So wie jetzt, während sie die letzten Teigtaschen füllt. Farben der Erde. Pigmente aus dem Boden. Man wird in den Ausstellungsraum geführt, wo auf kühlen Regalen das Tonzeug aufgereiht steht, unscheinbar zuerst, dann im blassen Licht von draußen glänzend. Kirschrot glasiertes Teegeschirr, Schalen mit graublau geronnenen Strahlenkränzen, Schmuckteller mit schneeweißen Fließzeichen auf Umbragrund. Sehr schön, sagt man, wirklich sehr schön. Und was kostet das? So fragen die Touristen, die zufällig das Schild an der Hauptstraße gesehen haben. Die Kenner fragen: Haben Sie etwas Neues? Die Künstlerin kann davon leben. Die Leute im Dorf schütteln den Kopf darüber, ein bißchen neidisch, aber nicht allzusehr, verständnislos, aber nicht allzu besorgt. Manche Kunden kehren im »Pflug« ein oder entdecken das Dorf an der Lauter für ein paar Ferientage.
»War in einer Höhle beim Münzloch heute«, antwortet er. »Ein bißchen rumgesucht, aber nichts gefunden.«
»So so«, sagt sie und schenkt dem Blech, das sie in den Ofen schiebt, ihre Aufmerksamkeit.
»Kennst mich ja«, fährt er fort. »Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab …«
Als sie einander am gedeckten Tisch gegenübersitzen, jeder ein Glas Wein vor sich, Kerzen brennen, aus der Küche duftet der Backofen, meint er: »Wenn es Münzloch heißt, hat das seinen Grund, weißt. Solche Namen deuten auf römische Funde. Irgendeiner hat dort etwas gefunden und der Höhle den Namen gegeben …«
»Wann?«
»Weiß nicht. Irgendwann, siebzehntes Jahrhundert. Müßte man im Katasteramt nachschauen, auf den Flurkarten, weißt. Kann natürlich auch bloß eine etymologische Umdeutung sein.«
»Ach, Hermann«, sagt Veronika lächelnd.
»Kann alles sein. Das weiß man nicht. Nix Gewisses …«
»… weiß man nicht!« ergänzt sie, beide lachen.
Beim Essen ist er nicht recht bei der Sache. Nicht, daß er ständig an etwas anderes denkt; aber in ihm ist ein luftdichter Raum, an den er nicht herankommt, er lenkt ihn ab durch seine hartnäckige Verschlossenheit. Er bekommt ein schlechtes Gewissen Veronika gegenüber. Er hat das Gefühl, sie zu betrügen. Er sitzt mit ihr beim Essen und trägt ein Geheimnis mit sich herum, eines, das ihn wegnimmt aus der Gesellschaft von Menschen, schon unteilbar geworden, und sie weiß nichts davon. Sie weiß nicht, daß da etwas in sein Leben getreten ist. Ja, er betrügt sie.
Mit einer Mumie.
»Ich hätte Lust, an Ostern mit dir ein bißchen auf den Friedhof zu gehen«, sagt Veronika plötzlich. »Auf den israelitischen.«
Sie nennt ihn immer israelitisch. Nicht jüdisch, weil sie nicht aus der Gegend stammt. Die allgegenwärtige deutsche Vergangenheit hat sie eine Moral gelehrt, die von gewissen sprachlichen Feinheiten und wohldosierten Empörungen lebt. Aber sie ist nicht hier gewesen, damals. Sie hat nicht die Braunen im offenen Wagen durchs Dorf fahren sehen, Lieder grölend, und sie ist auch nicht dabei gewesen, als die Leute sie am Ortsausgang gestoppt haben. Mit Knüppeln, Sensen und Holzlatten bewaffnet, Hermanns Vater unter ihnen. Juden waren auch dabei. Sie hat nicht die Angst in den jungen, glatten Gesichtern gesehen, als der Vater seine Pistole hob. Den dunklen Fleck, der auf der Hose des SA-Sturmtruppführers erschien, zwischen den Beinen.
Israelitisch.
»Damals waren es noch Juden«, sagt er laut.
»Streiten wir doch nicht.« Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Weinglas. Draußen ist es jetzt dunkel geworden, der Geruch von Gras und Erde weht herein. Die Amsel singt auf einem der Obstbäume im Garten.
»Möcht morgen noch mal in die Höhle.«
»Hast du immer noch nicht genug davon? Ich verstehe dich nicht …«
»Und ich versteh nicht, was du immer auf dem Friedhof willst.«
»Das müßtest du doch am besten wissen. Die Grabmäler erzählen Geschichten, weißt du, Geschichten von den Menschen, die hier gelebt haben.«
»Die erzählen gar nichts.«
»Aber natürlich. Herr Waltz kann dir über jeden Namen etwas sagen. Was denkst du denn, woher er das weiß? Auch nur, weil er den Geschichten nachgeforscht hat.«
»So gesehen«, erwidert Mauser, »müßt ich das verstehen.«
»Die Festschrift kommt nächstes Jahr heraus, hat Herr Waltz gesagt. Dann ist er fertig. Sie haben jetzt alle identifiziert, die damals abtransportiert wurden. Nur ein paar, von denen weiß er nicht, wo sie geblieben sind.«
»Ich weiß. Und für jeden stellt er eine Holzlatte auf, mit dem Namen in Ölkreide geschrieben.«
»Eben. Das ist auch Heimatkunde.«
»Das brauchst mir nicht zu sagen.«
»Bist du vielleicht brummig heute! Was ist denn los?«
»Mit solchen Holzlatten –«, beginnt er, besinnt sich aber.
»Gehst du dann morgen mit in die Kirche?«
»Warum?«
»Weil morgen Ostern ist. Hast du das vergessen?«
»Nein, ich mein: Warum fragst?«
»Nur so. Und hinterher gehst du in die Höhle …?«
Er nickt. Sie steht auf und geht in die Küche, um die Teigtaschen aus dem Backofen zu holen.
»Morgen, habe ich mir gedacht, mache ich Lamm«, ruft sie herein. »Das paßt doch zu Ostern, was meinst du?«
Kurz öffnet er den Mund, um es ihr zuzurufen. Um zu sagen, zwischen Backofenduft und Kerzenlicht: Ich habe einen Toten gefunden. In der Höhle. In der Unterwelt. Und ich will ihn nicht hergeben. Ich will ihn für mich haben, bis ich weiß, was mit ihm geschehen ist. Ich muß noch einmal hin, um mir alles genau anzusehen. Wenn er so lange gelegen hat, weißt, kommt es auf ein paar Tage auch nicht an. Aber er bleibt stumm, hört sie in der Küche hantieren. Mit solchen Holzlatten haben sie damals auch, denkt er. Und Vater mit der Pistole, einer alten P 04 aus der Kaiserzeit. Die Dienstpistole hat er nie für solche Sachen benutzt. Mir blieb nichts anderes übrig, hatte er Hermann später erzählt. In Öltücher eingeschlagen, liegt die P 04 noch heute im Keller. An die hundert Jahre alt. Manchmal nimmt Hermann Mauser sie heraus, zerlegt sie, putzt sie, baut sie wieder zusammen. Wie er es mit seinem Moped tut, jedes Jahr einmal. Eine Schachtel Patronen gehört dazu, das alte Sieben-Komma-Sechs-Drei-Kaliber. Mit gezogener Waffe stand Vater vor dem Truppführer, württembergischer Gendarm, das war er und wollte er bleiben. Und glaubte zu wissen, was Recht und was Unrecht sei.
Hätte ich das getan? fragt Mauser sich.
Und doch hat er den Abtransport von Mutz nicht verhindern können. Was nützt es, Recht und Unrecht zu unterscheiden?
Die Teigtaschen brutzeln leise, als sie, aus der Ofenhitze kommend, auf dem kalten Teller liegen.
»Ja«, sagt Mauser abwesend. »Hinterher in die Höhle.«