9

Abends treffen sie sich im »Pflug«. Ein Tisch in der Ecke, wo einen niemand stört. Es riecht gut nach Essen. Auf dem Tisch steht ein Korb mit Brezeln, dazu gibt es aus Keramikkrügen Most. Vorjährigen, schön räß. Waltz mischt die Karten und gibt aus. Vier in den Dapp. Mauser nimmt seine Karten auf und steckt sie zurecht. Er hat sich die Kugel unterm Mikroskop angeschaut und die Rillen entdeckt. Aber es ist schwierig, das Profil abzuzeichnen. Man müßte die Rundung auf eine Fläche projizieren können, damit man nicht durcheinander kommt mit dem, was man schon gezeichnet hat. Die bei der Polizei können das sicher einfacher, denkt er und sortiert eine Familie Herz. Bube, Dame, König, As. Der Zehner kommt noch und noch ein As. Werd’s versuchen, denkt er.

Heinrich Waltz und Eugen Mattes reizen miteinander. Zweihundert. Zweihundertzehn. Zu der Familie hat er noch einen Zehner bekommen. Nur der zweite König fehlt ihm. Mit den anderen Farben, Asse und Zehner, müßte das für einen Durch reichen. Bei zweihundertfünfzig hat Waltz das Spiel ersteigert.

»Dreihundert«, sagt Mauser.

»Dich lassen wir nicht mehr in eine Höhle«, sagt Eugen zu Mauser. »Du findest noch einen ganzen Friedhof.« Lacht und hustet schleimig.

»Der Kommissar, der läuft durchs Dorf und fragt die Leute«, sagt Waltz und schaut über den Rand seiner Karten hinweg Mauser an.

»Dreihundertfünfzig.«

»Du willst das Spiel unbedingt, was?«

»Der geht her und schnüffelt in der Vergangenheit rum«, sagt Eugen. »Ich habe ihm gesagt, daß es in Buttenhausen keine Nazis gegeben hat.«

»Warum? Was wollt er denn wissen?« fragt nun Mauser und hat sein Blatt verdeckt auf den Tisch gelegt. Er will das Spiel. Dann wird er Herz zu Trumpf machen und einen Durch spielen.

»Ha, ob in einer Familie vor ungefähr fünfzig Jahren jemand vermißt worden ist und solche Sachen. Leck mich am Arsch!«

»Vor fünfzig Jahren?«

»Kriegsende. Ob sich jemand vorstellen könnte, wer der Tote in der Höhle sein könnte und solche Sachen.«

»Warum gerad fünfzig Jahre? Ist die Leich so alt?«

»Die Leich, die war ja mumifiziert, hat der Waiblinger gesagt«, meint Waltz.

»Mumifiziert? Laß mich gehen! Und was heißt das?« Eugen Mattes hat seine Karten zu einem Haufen zusammengelegt und die Arme verschränkt.

»Sie hat in einem Anzug gesteckt«, sagt Mauser und schaut sich bei dreihundertsechzig seine Karten noch einmal an. »Der stammt von der Firma Gminder in Reutlingen. Kennt ihr die noch?«

»Die hat doch vor Kriegsende zugemacht, oder nicht?«

»Sakrament, genau.«

»Deshalb fünfzig Jahre. Oder mehr.«

»Jedenfalls habe ich ihm gesagt, daß von damals kaum noch jemand lebt. Donnerwetter, was geht das den eigentlich an?«

»Aber ihr beiden«, sagt Mauser und hat das Spiel bei dreihundertachtzig, »ihr lebt doch noch.«

»Wir wissen aber nix«, sagt Waltz. »Das damals, das war ja auch ein bißchen wirr, die Zeit. Die Nazis, die sind Hals über Kopf abgehauen, damals.«

»Herz ist Trumpf«, sagt Mauser und hebt den Dapp auf.

»Aus Grafeneck sind sie abgehauen, als wäre der Teufel hinter ihnen her«, sagt Eugen. »Alle Unterlagen verbrannt, heißt’s. Sakrament!«

»Und Juden, die gab’s hier ja schon neunzehnvierzig keine mehr.«

»Ich spiel einen Durch«, sagt Mauser. »Gemeldet wird nicht«, legt vier Karten ab und knallt sein erstes Trumpf-As auf den Tisch.

»Hättest du die Leich nicht einfach liegen lassen können?« fragt Eugen.

»Hab’s mir ernsthaft überlegt. Aber, ich hab gedacht, bringst den Waiblinger ein bißchen auf Trab.«

»Der Waiblinger. Der hat’s jetzt ganz wichtig. Je höher der Äff steigt, desto tiefer sieht man ihm in den Arsch.«

Mauser spielt seine Trümpfe aus, bis alles Herz weg ist. Behält die restlichen zurück. Jetzt kommen die anderen Farben dran, Schellen-As, Eichel-As. Den Eichel-Zehner behält er noch zurück. Das zweite Eichel-As hat irgendeiner noch auf der Hand. Er muß es herauslocken, sonst ist sein Durch gescheitert und er geht Siebenhundert in den Keller.

»In Hundersingen sollten die mal nachfragen«, sagt Eugen. »Der saubere Doktor Hochstetten. ’s ist kein Ämtchen so klein, man kann nicht den Galgen dran verdienen.«

»Wieso?« fragt Mauser. »Was ist mit dem?«

»Der Hochstetter, der hat doch damals Dreck am Stecken gehabt, heißt es. Wie er noch Leiter im PLK war.«

»Psychiatrisches Landeskrankenhaus? In Zwiefalten?«

»Der hat doch seine Patienten an Grafeneck abgegeben. Für denen ihre Versuche und so.«

»Die Behinderten?« Mauser horcht auf.

»Genau die. Der hat extra Atteste ausgestellt, und die Patienten, die sind dann abgeholt worden.«

»In den grauen Bussen. Meinst das?« Mauser spielt den Eichel-Zehner und weiß sofort, daß es ein Fehler war. »Weißt was darüber, Waltz?«

»Auch nicht mehr als alle.«

»Kümmerst dich doch so um den jüdischen Friedhof. Hast doch deine alten Archive, in denen du wühlst. Vielleicht weißt was, was wir nicht wissen.«

Waltz knallt sein Eichel-As, das er aufgespart hat, auf den Tisch. »Aus. Eichel war mau, das hättest wissen müssen.«

»Und? Weißt was?«

»Ich habe mich nur um die Juden gekümmert. Von den Behinderten weiß ich nix.«

Mauser mustert ihn genau. Der weiß was, denkt er. Der will nur nicht damit herausrücken. Warum nicht? Vielleicht weiß er was über Mutz’ Abtransport.

»Guten Abend, die Herren!«

Der Kommissar beugt sich her und klopft auf den Tisch. Er weiß nicht, daß das hier nicht Sitte ist. Mauser nimmt einen Schluck Most. Eugen rechnet ab.

»Siebenhundert Miese, Mauser. Sakrament! Was spielst auch heut so wild. Das ist doch sonst nicht deine Art.«

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Abend, Herr Kommissar«, sagt Waltz. »Was führt Sie denn zu uns?«

»Ich wohne hier. Ich habe oben ein Zimmer.«

»Ja so.«

Greving setzt sich neben Mauser auf die Eckbank. Bei der Kellnerin bestellt er ein Glas Wein. Trockener Trollinger.

»Ich mag den Württemberger«, sagt er. »Da, wo ich herkomme, gibt es keinen eigenen Wein.«

»Wo kommen Sie denn her?«

»Aus Oldenburg.«

»Ha, das hab ich mir gleich gedacht«, sagt Mauser. »Der Name, und wie Sie reden.«

»Kenne ich das Spiel?« fragt Greving.

»Binokel. Ähnlich wie Skat. Wollen Sie mitspielen, Herr Kommissar? Es geht auch zu viert.«

»Nein danke.« Greving lehnt sich zurück und schaut die drei Spieler der Reihe nach an. Mauser begegnet seinem Blick. Bei dem weiß doch keiner, was in ihm vorgeht, denkt Mauser. Immer freundlich, immer leutselig. Aber was der vorhat, das merkt man erst hinterher.

»Und, Herr Kommissar? Haben Sie schon eine Spur wegen der Leich?« fragt Eugen.

Mauser mischt die Karten und teilt neu aus.

Greving bekommt sein Viertele Wein und nimmt einen Schluck. Greift nach einer der Brezeln im Korb und bricht sie auseinander. »Es wäre gut, wenn wir erst einmal wüßten, wer der Tote ist«, sagt er kauend.

»Ha no«, meint Eugen. »So schwer kann das doch nicht sein. Ich habe immer gedacht, die Mediziner bei der Polizei können alles rauskriegen. Mancher sieht der Kuh am Arsch an, was der Butter in Paris kostet.«

»Wir haben keinen Anhaltspunkt. Die Leiche kann wegen der Mumifizierung fünfzig Jahre alt sein oder auch nur fünf. Wir haben zwar das Gebiß, aber es gibt keinen Vergleichsabdruck. Wir können nicht alle Zahnärzte des Landes abfragen. Das ist alles nicht so einfach, meine Herren. Wenn die Leiche ein besonderes Merkmal hätte, ein künstliches Gelenk oder eine Behinderung. Aber auch dann …«

»Jaja, man hat’s nicht leicht im Leben.«

»Da müssen Sie die Obduktion abwarten, oder?«

»Nun ja. Wir werden sehen.«

»Sie haben das Gelände oberhalb der Höhle noch mal abgesucht?« fragt Mauser beiläufig.

»Mit dem Detektor, ja. Wir haben die Kugel gesucht.«

»Da oben?« fragt Mauser.

»Das war nur so eine Idee«, sagt Greving. »Aber gefunden haben wir nichts. Leider. Herr Mauser«, sagt er und beißt wieder in die Brezel, »Sie habe ich noch nicht gefragt, ob Sie eine Ahnung haben, wer der Tote sein könnte.«

»War im Krieg noch ein kleiner Bub«, sagt Mauser und sortiert seine Karten. Diesmal hat er alle vier Farben und kaum Asse. Das wird nichts.

»Aber vielleicht erinnern Sie sich an irgendein Vorkommnis gegen Ende des Krieges, irgend etwas Außergewöhnliches. Daß ein Mann verschwunden ist oder so. Ihr Vater war doch Polizist.«

»Ich weiß von nichts. Hier in Buttenhausen ist kaum was passiert. Nazis haben wir keine gehabt, und die Juden waren schon weg.«

»Die Juden?«

»Es waren viele hier in Buttenhausen«, erzählt Eugen. »Die haben hier seit zweihundert Jahren gelebt. Wegen dem Schutzbrief, wissen Sie«. Das ist eigentlich Waltz’ Thema, aber der hält sich zurück. Schiebt seine Karten hin und her, tut, als achte er nur auf das Spiel. Sicher hört er aufmerksam zu, denkt Mauser.

»Waltz, sag du doch mal was dazu«, meint Eugen.

»Wissen Sie etwas?« fragt Greving.

»Von den Juden, von denen weiß ich viel. Ich habe den jüdischen Friedhof gepflegt. Ich kenne alle Juden, die hier gelebt haben. Vierzig sind sie abgeholt worden, mit dem Auto. Jeder einzelne. Wir haben ja nicht gewußt, was das für Lager sind …«

»Mit dem Auto abgeholt? Die SS, meinen Sie?«

»Oder die Gestapo. So genau, wie man heut will, so hat das keiner gewußt.«

»Haben die Juden denn irgendein besonderes Zeichen getragen hier in Buttenhausen?«

Waltz schüttelt den Kopf. »Nicht mal den Judenstern. Das hat’s hier nicht gebraucht. Wenn sie gekommen sind, die Nazis, dann haben sie ihn getragen, aber sobald die wieder weg waren, haben sie die Jacken in den Schrank gehängt. Hermann, dein Vater war doch Polizist. Der hätte doch die Juden verhaften sollen, oder nicht?«

Mauser hat seine Karten sortiert und wartet auf Waltz’ Gebot. Das Thema gefällt ihm nicht. Der Kommissar weiß etwas, was er nicht preisgibt. Er will etwas rausbekommen, das spürt Mauser. Er wird vorsichtig.

»Hat sie nicht verhaftet. Hat sie auch nicht gezwungen, den Judenstern zu tragen.«

»Und hat er deswegen nicht Ärger bekommen?«

Greving ist neugierig. Vielleicht fragt er doch nicht nur aus beruflichem Interesse. Vielleicht gefallen ihm die alten Geschichten, er hat ja gesagt, daß man nichts als ein Haufen Geschichten in der Hand hat, wenn man die Wahrheit sucht. Er geht durchs Dorf und läßt sich Geschichten erzählen, hört den Alten zu, hat keine Ahnung, wie das Leben hier in Buttenhausen gewesen ist und wie es heute ist, hat keine Ahnung, daß man gewisse Dinge besser unberührt läßt. Der Geschichtensucher.

»Nein. Wir haben hier keine Nazis gehabt, ’s sind immer Rollkommandos gewesen, von außerhalb. Sind hierhergekommen, wenn’s was gab.«

»Kann es sein, daß die abtransportierten Juden eine Markierung auf den Rücken bekamen?« fragt Greving beiläufig.

»Eine Markierung?«

»Ein Kreidekreuz vielleicht.«

Das also ist es. Sie haben auf dem Anzug ein Kreidekreuz gefunden und verfolgen nun die erste Spur. Greving läßt sich nichts anmerken. Aufpassen, denkt Mauser. Ich muß rauskriegen, was die wissen.

»Davon weiß ich nichts«, sagt Mauser. »Da dran kann ich mich nicht erinnern.«

»Die Juden, die sind einfach ins Auto verladen worden«, erzählt Waltz. »Das Auto ist weggefahren, wahrscheinlich nach Reutlingen runter, und das war’s.«

»Schade. Kennen Sie jemanden hier im Dorf, der vielleicht mehr weiß? Irgendein Angehöriger oder Nachbar?«

»Wissen Sie, Herr Kommissar«, sagt Eugen und richtet sich auf. »Wo’s nicht brennt, tät ich auch nicht spritzen.«

Greving schaut ihn an und lächelt.

»Von den Juden lebt keiner mehr hier«, erzählt Waltz. »Und Nachbarn, die gibt’s auch keine mehr. Von damals sind nicht mehr viele übrig. Zweihundert«, beginnt Waltz zu reizen.

»Zweihundertfünfzig.«

Mauser hat ein schlechtes Blatt, aber vielleicht kommt mit dem Dapp der zweite Binokel, dann kann er schon einmal dreihundert melden. Er merkt, daß seine Hände leicht zittern. Wenn der wüßte, denkt Mauser. Zu Hause im Plastikbeutel liegt die Kugel, und der geht durchs Dorf und fragt nach einem Kreidekreuz. Eine Wut packt ihn plötzlich, er weiß nicht woher und auf wen. Reizt bis dreihundert, als wollte er es ihnen allen zeigen. Die Erwähnung seines Vaters hat ihn wirr gemacht. Widerstand. Keine Nazis in Buttenhausen. Und wenn der Tote nun ein Jude war? Und wenn sein Vater den nun erschossen hat? Vielleicht haben sie ihn dazu gezwungen. Ihm die alte P 04 in die Hand gedrückt und zu ihm gesagt: Schieß, oder du kommst ins Lager! Bei Nacht und Nebel, oben auf der Höhle im Wald. Er versucht es sich vorzustellen und hat plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Seine Hände zittern immer noch.

»Vierhundert«, hört er sich sagen.

»Sie wissen also auch nicht, was das Kreidekreuz bedeuten könnte? Wir haben es auf dem Rücken der Leiche gefunden, auf dem Anzug. Die Blutspuren verdecken es zum Teil, das heißt also, daß das Kreidekreuz schon vor der Erschießung auf dem Anzug gewesen sein muß. Vielleicht eine Art Ritual.«

Waltz zuckt die Schultern. Kneift die Lippen zusammen und zieht die Luft durch die Vorderzähne ein. Das macht er nur, wenn er nervös ist. Waltz weiß was und verschweigt es, denkt Mauser. Den muß ich mir mal unter vier Augen vornehmen.

Eugen legt seine Karten hin. »Ich bin weg. Das macht ihr untereinander aus.«

Mauser hat das Spiel. Ein hohes Risiko, das er da eingeht. Er nimmt den Dapp auf und schaut ihn an, bevor er ihn aufdeckt. Der zweite Binokel ist nicht darunter. Er kann nicht einmal eine Familie melden. Das ist in die Hose gegangen, denkt er.

Greving scheint von Grafeneck noch nichts zu wissen. Sonst hätte er das in diesem Zusammenhang erwähnt.

Den interessiert ja alles. Aber diese Geschichte bekommt er nicht zu hören, denkt Mauser, jedenfalls nicht hier und nicht von uns. Früher oder später wird er darauf stoßen, sicher. Aber auch von denen lebt kaum noch jemand. Nur so damals Achtjährige, denen die Schwester geholt worden ist. Die können nicht viel sagen.

»Schippen ist Trumpf«, sagt Mauser.

Greving schaut sie wieder der Reihe nach an. Er hat seine Brezel aufgegessen und nippt an dem Wein. Vielleicht muß ich den doch um Hilfe bitten, denkt Mauser. Wenn ich mit dem Rillenprofil nicht weiterkomme. Ballistische Untersuchung. Vaters Pistole. Vielleicht muß ich irgendwann doch damit rausrücken. Vielleicht steck ich dann in Schwierigkeiten, weil ich die Ermittlungen behindert hab oder Beweismittel unterschlagen. Aber darum geht’s mir nicht. Mir geht’s darum, daß Vater nichts damit zu tun hat. Nicht einen Juden erschossen. Das könnte ich nicht ertragen. Er schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Most. Ihm ist übel. Die Hände zittern, er hält die Karten unter den Tischrand, damit man es nicht sieht.

»Schaut schlecht aus bei dir, oder?« sagt Eugen und lacht. Hustet schleimig. »Du kannst deinen Arsch mit Tinte färben, dann brauchst keine Hose!«

»Du immer mit deinen Sprüch«, sagt Mauser.