12

Mauser fährt mit seinem Moped nach Grabenstetten. Kein Ausflug diesmal. Der Kommissar ist fort, jetzt könnte sich Mauser in Ruhe auf die Spurensuche machen. In Grabenstetten sitzt die Zentrale des Vereins »Höhle & Karst«. Es gibt dort ein Archiv, in dem alte Oberamtsbeschreibungen und die Blätter des Albvereins gesammelt sind, sofern sie Berichte über die Höhlen der Alb beinhalten. Wenn er irgendwo etwas über die Lehmkammerhöhle findet, dann dort. Hinter der Täterfrage ist allerdings die Frage, wie die Leiche in die Höhle gekommen ist, zurückgetreten. Mauser hofft: Vielleicht ergibt sich aus der Geschichte der Höhle ein Hinweis, der auch die Täterfrage betrifft. Vielleicht war alles ganz anders. Man muß alle Spuren verfolgen, sagt er sich. Aber er spürt die Unruhe in sich, ein Klemmen im Magen, als wäre er krank. Krank fährt er über die Alb, hat kaum einen Blick für die Landschaft, krampft sich um ein Inneres herum, das er niemandem zeigen kann und das ihn doch krank macht, das er versucht, in Grabenstetten zu heilen. Aber das könnte er dort versuchen wie anderswo, das macht keinen Unterschied. Vermutlich stammt die Kugel aus Vaters Pistole, und vermutlich war der Tote ein Behinderter.

Der Leiter des Archivs, ein dürrer Wicht und versierter Höhlenforscher, sitzt am Schreibtisch vor seinem Rechner und ist beschäftigt.

»Grüß Gott, Herr Mauser«, sagt er.

»Grüß Gott. Was machen Sie denn gerade? Sie sehen ja sehr beschäftigt aus.«

»Wir sind gerade dabei, die ganzen Berichte in eine Datenbank einzugeben. Das ist ein Heidengeschäft, sag ich Ihnen.«

»Die ganzen Berichte?«

»Dann kann man mit Stichwörtern viel besser suchen als mit dem alten Index. Dann nehmen Sie bloß die Suchfunktion des Programms und –«

»Also wenn ich zum Beispiel die Lehmkammerhöhle suche …«

»Die Lehmkammerhöhle?« Der Mann überlegt und schüttelt den Kopf. »Die kenne ich gar nicht.«

»Beim Münzloch, Hundersingen.«

»Ah so.«

»Dann brauch ich nur Lehmkammerhöhle in den Rechner eingeben –«

»Und er zeigt alle Dokumente an, in denen das Wort vorkommt.«

»Das könnte ich brauchen«, sagt Mauser und zieht seine Lederjacke aus.

»Leider sind wir noch nicht fertig. Ich habe genaugenommen gerade erst angefangen.«

»Mist!«

»Nehmen Sie halt den alten Index. Der ist nicht vollständig, ich weiß, aber er wird’s tun.«

Er überläßt Mauser die alte Schwarte, der blättert darin und sucht unter »L«. Er findet drei Eintragungen zur Lehmkammerhöhle. Er sucht die Berichte aus den Regalen zusammen und liest sich das Gefundene durch. Die Berichte schildern Befahrungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, und einer liefert eine genaue Lagebeschreibung. Das reicht nicht. Nirgends ist von einem Lehmrutsch oder einer Verplombung die Rede. Er schaut noch unter »M« wie Münzloch nach, bis er jeden einzelnen Bericht herausgesucht und durchgelesen hat, vergeht eine Stunde. Einige Male wird eine Höhle in der Nähe des Münzlochs erwähnt, sie wird Kleines Münzloch genannt. Auch hier ist von keiner Erdbewegung die Rede, die eine Verplombung verursacht haben könnte. Ich sollte das alles in Ruhe durchschauen, sagt sich Mauser. Der Index ist nicht zuverlässig, und vielleicht gibt es noch woanders Berichte über die Lehmkammerhöhle. Eigentlich hab ich Zeit, sagt er sich. Nur diese Unruhe. Dieses Klemmen im Magen. Was soll das alles eigentlich? Er hofft. Er sucht umher und verliert sich im Durchsuchen der alten Albvereinsblätter. Er überfliegt Seiten, zieht wahllos Ordner aus den Regalen, weiß nicht mehr, wo er suchen soll. Geduld, mahnt er sich. Ich suche, sagt er sich. Früher, wenn ich gesucht hab, hab ich immer sorgfältig gesucht. Ich hab nicht gesucht, sondern gefunden. Die Spinnwirtel und Sohlennägel haben auf mich gewartet, und ich mußte bloß gründlich genug sein. Warum kann ich das jetzt nicht? Ich suche was, was Vater entlastet. Das ist es. Aber das geben die trockenen Untersuchungen von Gangprofil und Schichtenlage nicht her. Er kneift die Augen zusammen und merkt, daß er müde ist. Er hat schlecht geschlafen, er ist nicht richtig wach. Er geht umher wie im Traum. Wie viel Zeit hat er, bis der Kommissar zurückkommt?

»Und? Haben Sie was gefunden?«

»Nein. Da kann ich suchen, bis ich schwarz werd.«

»Jaja, das ist ein Heidengeschäft. Dafür braucht man Geduld.«

Mauser bedankt sich und steht ratlos an seiner Maschine. Das war ein Aufschub, den er sich gegönnt hat. Jetzt ist es vorbei, und er steht wieder vor der alten Aufgabe. Rillenprofil, Kreidekreuz. Er atmet einmal tief durch. Das war eine Ruhepause, merkt er. Es geht ein bißchen besser. Sich mit anderen Sachen zu beschäftigen, hat ihm Befreiung verschafft. Im Grunde ist die Frage, wie die Leiche in die Höhle gekommen ist, zweitrangig. Im Grunde ist es die Identität der Leiche und alles andere ebenso. Zuerst muß er wissen, ob die gefundene Kugel aus der Pistole seines Vaters stammt oder nicht. Davor graut ihm. Die mühseligen Stunden vor dem Mikroskop, das Muster aus Bleistiftstrichen auf dem Papier, der historische Code, den er entziffern muß und der eine so furchtbare Botschaft tragen kann. Er hat Angst davor. Aber es muß sein. Er hat damit angefangen, und jetzt muß er es zu Ende bringen.

Mauser nimmt auf der Rückfahrt einen kleinen Umweg. Er fühlt sich besser, und er will einfach noch eine Weile fahren. Das Hineinkippen in die Kurven tut ihm gut, er genießt die Beschleunigung und Massenträgheit der Maschine. Er riecht den Frühling, hat das Visier halb offen, genießt die helle Luft, die lichten Wälder. Es ist gut, zu fahren und nichts zu denken. Früher hätte er um diese Zeit einen Ausflug gemacht, eine Ferienfahrt irgendwohin mit dem Tankrucksack voller Brote und die Fotokamera dabei. Veronika wäre zu Hause geblieben und hätte Schalen und Vasen erschaffen. In der Dämmerung wäre er heimgekehrt und bei ihr vorbeigefahren, hätte ihr einen Kuß auf die Wange gegeben, sie hätte Tee gekocht, und sie wären in der Stube zusammengesessen, und dann hätte er erzählt, was er erlebt hat. Aber Ausflüge wie nach Wimsen kommen jetzt nicht mehr in Frage. Und das abendliche Heimkommen zu Veronika auch nicht mehr. Es wäre falsch, es wäre peinlich. Es wäre wie ein Theaterstück, das sie aufführen würden: Er wäre allein mit seinem Geheimnis. Manchmal fragt er sich, weshalb er Veronika nicht alles erzählen kann. Schließlich hat sie immer versucht, ihn zu verstehen. Die Leiche ist ihm aufgeladen, er muß das Rätsel lösen, es geht um seinen Vater, und Veronika hat damit nichts zu tun. Das ist eine Mauser-Sache. Eine Familienangelegenheit. Eine Frage von Recht und Unrecht.

Zu Hause holt er die Waffe aus dem Kellerversteck. Sie fühlt sich an wie immer, aber zugleich ist sie ein Botschafter der Vergangenheit, ein Fossil, das plötzlich ins Heute gehört, weil es Kunde gibt vom Damals. Er könnte fast vergessen, daß es die Waffe seines Vaters ist. Man sieht ihr nichts an, sie ist ein bloßes Gerät. Nur das Wissen um die Geschichte macht sie zu einem Andenken. Und es sind Menschen, die die Geschichte erzählen müssen. Sie selbst ist stumm.

In der Garage lehnt Mauser zwei alte Latexmatratzen gegen den Holzpfeiler, der die Garage trägt. Dann wirft er den Motor seines Mopeds an, der Lärm soll den Schuß übertönen. Er dreht am Gasgriff, jagt den Motor hoch. Das bullernde Tuckern wird zu einem Dröhnen und erfüllt den ganzen Raum. Dann zielt er mit der Pistole auf die Matratzen, so daß der Schuß den dahinterliegenden Pfeiler treffen muß.

Er drückt ab.

Der Schuß kann für eine Fehlzündung gehalten werden.

Seit langem wird die Waffe erstmals wieder benutzt. Seit fünfzig Jahren? Seit der Tote in der Höhle erschossen wurde?

Mauser stellt den Motor ab und schiebt die Matratzen beiseite. Der Schuß ist durch beide hindurchgegangen und hat den Pfeiler getroffen. Das Projektil ist nicht tief ins Holz eingedrungen, mit einem Taschenmesser kann er es vorsichtig herauslösen. Er wägt die Kugel in der Hand.

Jetzt wird sich’s zeigen, denkt er.

Er nimmt die Kugel mit hinauf in die Stube. Ihm graut davor, die Arbeit mit dem Rillenprofil ein zweites Mal zu machen. Trotzdem fährt er gleich in die Schule und setzt sich vor das Mikroskop. Die Stunden vergehen langsam. Draußen singt eine Amsel, auf der Talstraße ist wenig Verkehr. Gegen Abend geht ein Schauer nieder, er sieht die Tropfen als silberne Strähnen auf den Fenstern. Absichtlich hat er das Profil der ersten Kugel, die er über der Höhle gefunden hat, nicht zum Vergleich danebengelegt. Er will möglichst unvoreingenommen herangehen.

Die Ungewißheit bleibt sowieso, ob er sorgfältig genug gearbeitet hat, ob nicht ein zufälliger Bleistiftstrich das Ergebnis verfälscht. Das ist doch keine Methode, denkt er. Aber was die Polizei mit Computern macht, das muß doch auch dem bloßen Auge sichtbar sein. Es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe. Wenn ich nicht die ganze Sache dem Kommissar übergeben will. Und das will ich nicht.

Schließlich ist es getan. Er hat nicht so sorgfältig gearbeitet wie bei der gefundenen Kugel, aber diesmal hat er auch eher gewußt, worauf es ankommt. Draußen ist es dunkel geworden, das Licht der Neonleuchte an der Decke löscht die Wirklichkeit aus. Er legt die beiden Blätter mit den Profilen nebeneinander. Seine Hände zittern. Die Augen brennen ihm. Der Vergleich ist ein letzter Schritt: Er kann nur hoffen, daß die Profile charakteristisch genug sind, um eine Ähnlichkeit jenseits aller Zufälligkeiten aufzuweisen.

Als er aber die Blätter vor sich liegen hat, erkennt er es sofort. Die Profile sind identisch. Die Zufälligkeiten sind als solche leicht auszuscheiden; charakteristische Rillenanzahl, Verdickungen, Kratzer, alles gibt ein eindeutiges Muster, das der Vergleich deutlich zutage fördert. Ein Strichcode wie im Supermarkt. Eine klare Botschaft aus der Vergangenheit, in die Gegenwart geholt und entziffert. Zwar beruht das Ergebnis auf Handarbeit, aber Mauser ist sich sicher. Er hat jenes Maß an Gewißheit gewonnen, das er benötigt hat.

Die Kugeln stammen beide aus der Pistole seines Vaters.

Sein Vater war ein Mörder.

Gut, es gibt noch andere Möglichkeiten. Vielleicht hat ein anderer mit dieser Pistole geschossen. Aber wem sollte sein Vater die Pistole geliehen haben, und unter welchen Umständen? Vielleicht wurde sie ihm gestohlen. Vielleicht hat er sie nur kurz aus der Hand gegeben, dort oben über der Höhle. Im Wald. Nachts, als sich die Schatten dort versammelt haben zu ihrer Verschwörung. Als das Opfer im Anzug mit dem Kreidekreuz auf dem Rücken sich niederkniet. Die Waffe wandert von Hand zu Hand. Der letzte nimmt sie und drückt ab. Vater empfängt sie zurück, heiß vom Schuß. Dann gehen sie auseinander, schweigend, jeder in sein Haus. Wer kümmert sich um die Leiche? Irgendwie wird die Leiche durch einen zweiten Zugang in die Höhle gesenkt, an einem Seil vielleicht, so muß es gewesen sein.

Lange sitzt er da. Auf der Talstraße huschen jetzt die Scheinwerfer der Autos. Die Blätter liegen auf dem Tisch im Labor und leuchten im Neonlicht. Mauser sitzt und kann sich nicht rühren. Jetzt hat er die Gewißheit, die er gesucht hat. Was sie bedeutet, begreift er nicht. Hilflos hat er die Hände auf dem Tisch liegen, ratlos rückt er die Blätter hin und her. Nie kann man solche Botschaften verstehen. Ob sie zu einem kommen auf Briefpapier an der Tür, wenn man eilig den Umschlag aufreißt und die Zeilen überfliegt, oder wenn man zwei Strichcodes entziffert und das Ergebnis stumm vor sich liegen hat im Neonlicht eines Schullabors – es ist nicht zu begreifen.

Wut packt ihn. Wieso hat er bloß diese verdammte Leiche gefunden? Wieso er? Vielleicht steckt auch darin eine Bedeutung. Vielleicht mußte es so kommen. Ein neues, fremdes Bild von seinem Vater. Und mit einem Mal hat man eine vollkommen veränderte Geschichte. Mit einem Mal hat man ein anderes Leben, gibt alles einen neuen, unerträglichen Sinn. Mit dem kann man nichts anfangen, die Geschichte paßt nicht zu einem und entstellt, kneift wie ein zu enges Kleidungsstück. Recht und Unrecht. Vielleicht war der Vater damals genauso verzweifelt, hilflos, ratlos gewesen. Vielleicht wußte er einmal nicht mehr, was das Rechte wäre. Vielleicht mußte er den Behinderten erschießen, um andere, vielleicht sich selbst zu retten. Die Geschichte muß ans Licht. Sie drängt ans Licht, eine Höhlengeburt. Mauser ist der einzige, der sie gebären kann.

 

Die grau gestrichenen Busse. Weiß vermalte Fenster. Dahinter sind sie gesessen, im Sonntagsstaat, Kreidekreuze auf dem Rücken, wußten nicht, was vorging mit ihnen, wußten nicht, wohin sie gebracht wurden. Experimente haben sie mit ihnen gemacht, dann getötet, vielleicht mit Giftgas, dann verbrannt in den Ofenbaracken neben dem Herrenhaus. Das kann sich Mauser vorstellen. Aber wie Mutz darin gesessen hat, Abschied nehmen wollte und aus dem Fenster winken, was nicht möglich war, wie sie Angst bekommen hat und in die Unterkünfte getrieben worden ist, wie der Oberarzt die neuen Namen auf der Liste abhakte – das ist ihm unvorstellbar. In Buttenhausen wußte man nichts. Bis die Öfen gequalmt haben und der Rauch in Marbach sichtbar war. Bis Gerüchte durchsickerten. Bis die Busfahrer in die Enge getrieben wurden und von dem berichteten, was sie gesehen hatten. Bis immer wieder der Arzt aus Zwiefalten auftauchte und Scheine ausstellte, Scheine, die »unwertes Leben« attestierten. Dann begann der Widerstand, die Proteste, in Buttenhausen machte sich der Bürgermeister auf und forderte ein Gespräch mit dem Leiter, Dr. Jürgen Schumacher. In der Zeitung stand es, mit Fotos vom Gelände. Sie machten weiter, aber die Wahrheit war bekannt. Bis es den höheren Stellen zu riskant wurde, sie schlossen die Anstalt über Nacht und vernichteten alle Unterlagen. Der Leiter ist geflohen, alle Beschäftigten wurden abgezogen, das Kriegsende rückte näher. Und jetzt kennt Mauser einen der Namen: Hochstetter.

Das ist alles nicht zu begreifen.

Man kann nur hingehen und sich die Gedenkstätte anschauen. Ja: versuchen, der Vergangenheit zu gedenken. Der Ort ist zwar der damalige, aber leer wie eine Hülle. Man kann es sich vorstellen und sein Wissen zu Bildern werden lassen, aber verstanden werden konnte es nur damals, als es geschah. Da war Mauser acht Jahre alt.

Er fährt mit dem Motorrad nach Marbach. Das Wetter ist warm, Schauerwolken treiben am Himmel. Die Wälder sind noch immer licht, man kann durch sie hindurchsehen auf die vom dürren Laub braunen Hänge. Er biegt auf die Straße nach Münsingen ab und sieht zwischen den Bäumen das alte Herrenhaus liegen. Ein zweiflügeliger, vierstöckiger Bau mit weithin sichtbarem Kupferdach. Die Straße führt an Pferdeweiden vorbei und zeigt dann den Wegweiser: Gedenkstätte Grafeneck. Ein kleiner Steig führt durch den Buchenwald auf die Anhöhe hinauf. Wie zu einem Ausflugsziel. Am Anfang der Allee liegt die Gedenkstätte, am Ende geht es durch ein Tor zum Schloß, in die einstige Euthanasieanstalt. Jetzt sind wieder geistig Behinderte dort untergebracht, unter ärztlicher Betreuung, mancher steht an der Straße und wartet auf Besucher, denen er eine Münze für einen Kaffee abschwatzen kann. Eine psychiatrische Klinik wie viele. Eine Allee führt auf das Herrenhaus zu, ein schmiedeeisernes Tor steht offen. Man kann um das Gebäude herumgehen, ein Spielplatz ist auch da, man kann sich ins Begegnungscafé setzen und dort mit den Insassen zusammen etwas trinken, man kann die Vögel in den Bäumen hören und weißbekitteltes Personal aus der Tür treten sehen. Mauser kennt das. Jedes Jahr am Geburtstag von Mutz kommt er hierher.

Heute zieht es ihn dorthin, er weiß nicht weshalb. Er hält am Anfang der Allee und stellt das Motorrad ab. Nimmt den Helm ab, geht die paar Schritte zum Mahnmal hinüber. Ein Gedenkstein ist aufgestellt, eine Namenliste in einem Plastikkasten wetterfest ausgelegt. Mauser tritt an den Kasten heran.

Er greift hinein und blättert.

Die Liste ist alphabetisch geordnet, er findet den Namen.

Therese Mauser. Geboren 1924. Gestorben 1944 in Grafeneck.

Während sie dort war, hatte die Familie keinerlei Nachricht bekommen. Nicht einmal der Tod wurde ihnen mitgeteilt. Mutter hat es gewußt, sie hat die Gerüchte gehört, sie wußte, was der Besuch des Arztes und der Abtransport bedeuteten.

Mauser setzt sich auf die Mauer und schaut zwei Meisen zu, die sich im Buchengezweig jagen. Plötzlich ist ihm, als werde ein Tuch von der Welt gezogen. Als sähe er den Frühling und diesen Ort und sich selbst zum ersten Mal. Eine Helle tritt in die Umgebung, die er nicht kennt. Eigentlich, denkt er. Eigentlich sieht sich das alles ganz anders an.

Er spürt, wie viel Trauer und Bitterkeit und Zorn dieser Ort für ihn bedeutet hat. Er spürt, wie die Vergangenheit hier gelebt hat, am Leben gehalten durch sein unversöhnliches Gedenken. Er versteht auf einmal, daß das Leben weitergegangen ist, während er hier Jahr für Jahr herkam und gelitten hat.

Eigentlich ist die ganze Geschichte längst vorüber, denkt er.

Eigentlich. Aber nicht für mich. Mir hat immer ein Abschluß gefehlt. Eine Tat, mit der ich die Sache beenden könnte.

Vielleicht hat Vater so etwas auch gefehlt. Er hat den Abtransport von Mutz nicht verhindern können. Vielleicht ist ihm das immer nachgegangen.

Was weiß ich eigentlich von ihm? denkt er.

Jetzt hat die Geschichte einen Rattenschwanz bekommen. Eine Fortsetzung mit einer Höhlenleiche, die niemand kennt, und einer Pistolenkugel, die aus der Mauserschen Waffe stammt. Vielleicht war das die abschließende Tat, die bisher gefehlt hat. Die Namenliste unter Plexiglas, der Gedenkstein, die Fahrt hier herauf durch den Wald können das nicht leisten.

Mit einem Mal sieht er es klar: Er hat immer handeln wollen. Mit einer Geschichte kann niemand etwas tun. Sie ist zu ihrem Ende erzählt, und man müßte sie neu erzählen, um sie fortsetzen zu können. Vielleicht ist Vater daran gescheitert. Vielleicht drängte es ihn nach einer abschließenden Tat, und es war ihm egal, ob er einen Menschen dabei erschoss. Einen behinderten Menschen, der vielleicht von all dem nichts wußte. Vielleicht war Vater ein Fremder, der mit einer ganz anderen Geschichte lebte als er, Hermann Mauser, und den niemand je wirklich gekannt hat.

Eigentlich braucht mich das alles nichts angehen.

Und dennoch läßt ihn der Verdacht nicht los. Die Gewißheit eines kleinen Geschosses aus Metall, das sich in den Erdboden gebohrt hat. Er weiß nicht, ob er seinen Vater verehrt hat. Geliebt hat er ihn. Festgehalten hat er an der Sicht der Welt, die er ihm vermittelt hat. Festgehalten daran, daß es immer möglich sein wird, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Die Zeiten haben sich geändert, aber das Prinzip ist geblieben: Schuld ist etwas, das einem eindeutig zukommt. Schuld ist etwas, das man nicht immer vermeiden kann. Aber wer hilft den Menschen, mit der Schuld zu leben?

Nein, es geht nicht um Namen, um einen Namen auf einer Liste unterm Plexiglasdeckel.

Es geht um das Ende einer Geschichte.

Er muß mit seinem Vater zu Ende kommen.

Er geht die Allee bis zum Eingangstor, umrundet das Gebäude, folgt den Wegen durch den Rasen bis zum Café, ein lichter Glasbau mit einer kleinen Küche darin. Er setzt sich an einen Tisch und bestellt Kaffee. Aus der Jackentasche zieht er das Etui mit den dünnen Zigarren, die er gerne raucht. Schnüffelt den feinen Duft, pflückt eines der braunen Stäbchen mit Daumen und Zeigefinger heraus, steckt es zwischen die Lippen. Zündet an. Bläst den Rauch ins Licht.

Er hat die Pistole in seinem Gürtel stecken. Er hat sie mitgenommen, er weiß nicht, weshalb. Sie gehört zu der Geschichte, nach der er unterwegs ist. Es ist ein historischer Moment: Jetzt, gerade jetzt tritt er in die Geschichte ein. Spielt er wieder mit, um sie zum Abschluß zu bringen.

Es ist gut, daß niemand darüber Bescheid weiß. So wie der Tote in der Höhle sein Geheimnis war, ist die gefundene Kugel sein Geheimnis, ist sein Wissen darum unteilbar. Nur so kann er frei genug handeln, um die Geschichte zu beenden.

Ich sollte bei Hochstetter vorbeischauen, denkt er.

Vielleicht weiß der was über den Toten. Er hat damals auch seine Rolle gespielt, und seine Geschichte ist auch noch nicht zu Ende.

Ich sollte ihn fragen, ob er sich an seine Atteste erinnern kann. An Mutz kann er sich mit Sicherheit nicht erinnern. Aber er soll zugeben, daß er mit seiner Geschichte noch leben muß, auch wenn er sie vergessen will. Ich sollte ihn daran erinnern.

Daß ihm seinerzeit niemand etwas nachweisen konnte, erstaunt Mauser nicht. Das gehört mit zu der Geschichte.

Die Schuld ist eindeutig, aber selten fügen sich die äußeren Umstände dazu. Die Schuld wird zu einem Geheimnis, jeder kann sie einfordern, der das Rätsel löst.

Der Kaffee hat ihn wach gemacht. Wacher als die vergangenen Tage. Die Zigarre gibt ihm Ruhe. Gedanken kommen und gehen wie auf einem Waldweg, wandern heran und vorbei unterwegs zu ihrem eigenen Ziel, er sitzt und wartet und begrüßt jeden. Sie gehen ihm voraus, er ruht noch eine kleine Weile und wird dann nachkommen. Am Ziel wird sich alles treffen, jeder Augenblick, jede Geste, jedes stumme Wort.