13
Hochstetters Adresse ist leicht herauszukriegen. Ein Blick ins Telefonbuch. Mauser zieht sein Cordsamtjackett und ein Hemd an, will mit dem Auto fahren. Der Hochstetter ist einer, dem man nicht in Motorradleder begegnet. In die Jackettasche steckt er die Pistole, er weiß nicht, warum. Um die Pistole geht es ja, und um Mutz. Mauser zieht es manchmal die Kehle zusammen, wenn er an all das denkt. Er fühlt sich gefangen in einem unsichtbaren Netz. Nein, es war kein Zufall, daß gerade er die Leiche gefunden hat. Dahinter ist ein Schicksal am Werk, Gott vielleicht, er hat ihm aufgelauert und will ihm nun sein bisheriges Leben nehmen.
Lebenslügen, denkt Mauser, als er ins Auto steigt und den Motor anläßt. Ich war mir immer sicher, mit keiner einzigen Lüge zu leben. Aufrichtigkeit gegen sich selber, das war immer notwendig. Und jetzt droht der Zusammenbruch der Vergangenheit und mit ihr der Zukunft. Wenn Vater noch leben würde, denkt er und fährt auf die Talstraße hinaus, dann könnte ich ihn fragen. Aber so muß ich im Dunkeln herumtasten, nach Spuren suchen, Indizien finden, vergilbte Dokumente und eine Kugel im Waldboden und ein Kreidekreuz auf einem Sonntagsanzug. Er steckt die Hand in die Tasche und fühlt das Metall der Waffe.
Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Ferien enden nicht, der Alltag ist ausgelöscht. Seit Monaten, kommt es ihm vor, fährt er herum und weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Seit Monaten versucht er, das Geheimnis einer Leiche zu lösen. Das wird immer schlimmer, denkt er.
Hundersingen ist rasch erreicht. Das Haus Hochstetter liegt am Hang zur Ruine hin, der steile Mauerzahn ragt aus dem Wald hervor. Es ist ein Neubau, keines von den alten Bauernhäusern. Geld hat er ja. Bis zur Pensionierung hat er in Zwiefalten gearbeitet, nicht bloß, daß sie ihm nichts nachweisen konnten, er hat sogar seine Stellung als Leiter behalten.
Mauser parkt den Wagen und geht den Plattenweg bis zur Haustür. An der Klingel kein Name. Mauser drückt den Knopf und hört die Klingel im Haus läuten.
Er wartet.
Schritte sind zu hören.
Muß behutsam vorgehen, denkt Mauser noch.
Die Tür öffnet sich, ein weißhaariger Mann steht in der Tür, in Hose und Strickweste und an einem Stock. Wirkt ausgezehrt. Der muß schon an die neunzig sein, denkt Mauser.
»Grüß Gott! Was kann ich für Sie tun?«
»Sind Sie Herr Hochstetter?«
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Darf ich reinkommen? Es ist eine persönliche Angelegenheit.«
»Worum geht es? Ich brauche meine Zeit für mich!«
»Um Ihre Arbeit als Leiter des Krankenhauses in Zwiefalten.«
»Aha.« Der Mann nickt, als sähe er einen Verdacht bestätigt. »Da sind Sie nicht der erste, der deshalb mit mir sprechen will. Weshalb sollte ich Sie anhören?«
»Da ist in Buttenhausen kürzlich eine Leich gefunden worden, vielleicht haben Sie davon gelesen.«
»Eine Leiche? Sie meinen den Toten in der Höhle?« Hochstetter tritt einen Schritt zurück und hebt die Hand. »Was wissen Sie darüber?«
Mauser lächelt. Das war ein Glückstreffer. Der hat was damit zu tun, denkt er. Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, darüber zu reden.
»Darf ich nicht doch hereinkommen?«
Hochstetter macht Platz und winkt Mauser herein. Es riecht muffig nach Teppichen und Holzmöbeln und nach Medikamenten.
»Sind Sie krank?« fragt Mauser, als ihn Hochstetter in die Stube bittet.
»Das Herz. Das Alter ist eine Krankheit, an der man stirbt. So heißt es doch. Ich lebe allein, meine Frau ist schon lange gestorben.«
»Hab nie geheiratet«, sagt Mauser, weil ihm sonst nichts einfällt, und setzt sich.
»Jeder lebt sein Leben, wie es ihm richtig scheint. Wollen Sie etwas trinken?«
»Nein danke. Ich könnt Ihnen vielleicht was über die Identität des Toten sagen«, beginnt Mauser und streckt sich behaglich im Sessel aus.
»So? Gerade Sie? Na, da bin ich aber neugierig.«
Hochstetter sitzt auf dem Sofa, den Stock vor sich gestellt und die Hände daraufgelegt. Er hat noch immer etwas Strenges, das einen unwillkürlich einschüchtert. Hat er so seine Anstalt geleitet, jahrzehntelang? Hat er so vor Gericht geleugnet, daß er mit all dem irgendetwas zu tun hat? Muß ein junger Spund gewesen sein damals. Fünfunddreißig vielleicht, rechnet Mauser. Karriere im Nazi-Klüngel. Der wußte, was er wollte.
»Die grau gestrichenen Busse, Herr Hochstetter«, sagt Mauser und beschließt, sich von dem Mann nicht beeindrucken zu lassen. Er ist der Schuldige, nicht ich, denkt er. »An die werden Sie sich doch noch erinnern, oder?«
»Grau gestrichene Busse? Wovon reden Sie, Mann?«
»Die mit den weiß bemalten Fenstern, damit niemand reinsehen kann.«
»Lieber Mann – wie heißen Sie eigentlich?«
»Mauser ist mein Name.«
»Herr Mauser, ich weiß nicht, wer Ihnen meinen Namen genannt hat, aber mit all dem –«
»– haben Sie nichts zu tun, ich weiß.«
Hochstetter lacht. »Wenn Sie das wissen, warum fragen Sie dann?«
»Weil ich weiß, daß Sie damit zu tun haben. Weil ich es sicher weiß. Sie werden sich an den Namen nicht erinnern, aber Sie haben für meine Schwester ein Attest ausgestellt, eins von den Attesten, Sie wissen schon …«
»Mauser, sagten Sie? Sind sie nicht der Schullehrer? Ich glaube, ich habe von Ihnen gehört. Oder kenne ich den Namen von früher?«
»Den kennen Sie. Mein Vater war damals Polizist. Der hat Sie sicher gut gekannt, so oft wie Sie in den Dörfern rumgesucht haben, nach Behinderten.«
»Mauser. Ja, ich erinnere mich.« Hochstetter lächelt. Eine Ahnung sagt Mauser, daß dieser Mann erst richtig gefährlich wird, wenn er lächelt. »Aber ich denke, Sie wissen nicht alles. Vielleicht wissen Sie sogar gar nichts. Wenn er es war, dann erinnere ich mich an ihn.« Die Hände auf dem Stock beginnen zu zittern. Hochstetter atmet schneller, keucht. Aber noch immer blickt er Mauser scharf an.
»Sie haben meine Schwester den Nazis übergeben. Deshalb bin ich hier. Ich weiß nicht, was Sie mit den anderen Patienten gemacht haben, in Zwiefalten. Ich bin bloß hier, weil’s um ein persönliches Unrecht geht.«
»Jaja, Recht und Unrecht. Davon hat Ihr Vater auch immer geredet. Ein Gerechtigkeitsfanatiker. Vor mir ist er gestanden mit seiner Pistole und hat mir gedroht. Und die anderen – ach, was wissen Sie denn!«
Hochstetter will aufstehen, aber seine Beine geben nach. Er fällt auf das Sofa zurück und atmet schwer.
»Ich darf mich nicht aufregen, aber das sagt sich so leicht. Ich soll alles leicht nehmen – aber das, das werde ich mein Lebtag nicht leicht nehmen! Persönliches Unrecht – ha!«
Mauser ist verwirrt. Wovon redet der Mann? Wann hat sein Vater ihn mit der Pistole bedroht?
Unwillkürlich greift er in die Jackentasche und holt die Pistole heraus. Legt sie auf den Tisch, daß Hochstetter sie anschauen kann.
»Meinen Sie diese Pistole?«
Hochstetter keucht und greift sich ans Herz. Er stammelt und kriegt kaum Luft.
»Nein … die Pistole … die ist es! Die ist es!«
»Das ist die Pistole meines Vaters. Nicht seine Dienstpistole. Die können sie nicht kennen.«
»Ich soll sie nicht kennen können? Ich habe sie selber in der Hand gehalten …«
»Wann war das? Wovon reden Sie?«
»Ich … ich brauche meine Tropfen.«
»Ja, die brauchen Sie. Es wird schon einen Grund haben, daß Sie sich so aufregen.«
Hochstetter greift in die Tasche seiner Weste und holt ein Fläschchen hervor. Träufelt die Medizin in den Drehverschluß und kippt den Inhalt hinunter. Atmet tief durch.
Mauser nimmt die Waffe in die Hand und betrachtet sie.
»Sie täuschen sich. So eine Waffe gibt es tausendmal.«
»Aber nicht in Buttenhausen. Nicht, wenn sie mir ein Mauser vor die Nase legt.«
»Mein Vater hat sie bedroht?«
»Das wissen Sie nicht, nicht wahr? Davon haben Sie noch nie gehört. Das denke ich mir. Hauen Sie ab, verschwinden Sie! Ich will Sie nicht mehr sehen!«
»Die Leich in der Höhle trägt auf ihrem Rücken ein Kreidekreuz, das wollt ich Ihnen noch sagen.«
»Natürlich trägt sie ein Kreidekreuz. Das war ja die Pointe daran. Eine grausame Inszenierung, die Ihr Herr Vater da veranstaltet hat.«
»Was meinen Sie?«
»Von mir hören Sie nichts mehr. Gehen Sie! Verschwinden Sie!«
»Ich könnt Sie erschießen«, sagt Mauser langsam und richtet die Waffe auf Hochstetter. Ja, die Geschichte zu Ende bringen, das wäre der Moment, denkt er. Eine Tat, und alle Ungereimtheiten sind beseitigt. Hat er deshalb die Pistole mitgebracht? Mauser hat noch nie auf ein lebendes Wesen geschossen, er kann es nicht, das weiß er, aber was weiß einer von sich, wenn die Vergangenheit aufersteht und dunkle Gestalten gebiert, wenn die Geschichte sich gegen einen kehrt? Er spürt den Abzugshebel am Finger, es wäre ein glatter Kopfschuß. Oder ist es nur eine Drohung? Will er nur, daß Hochstetter redet?
»Sie könnten mich erschießen, ja! Darauf sind Sie stolz, was? Was regen Sie sich auf wegen Ihrer Schwester? Sie wissen nichts, gar nichts.«
»Haben Sie gedacht, Sie kommen so davon?«
»Und Sie? Glauben Sie, daß Ihr Vater ohne Schuld war? Glauben Sie, daß irgendeiner ohne Schuld gewesen ist? Nach den grau gestrichenen Bussen, da können Sie auch andere fragen.«
»Wen denn?«
Hochstetter versucht noch einmal hochzukommen, diesmal gelingt es ihm. Mauser steht auch auf, sie stehen sich gegenüber, den Couchtisch zwischen sich. Mauser hat noch immer die Pistole auf ihn gerichtet.
»In Buttenhausen wohnt einer, der darüber gut Bescheid weiß. Eugen Mattes, den können Sie fragen.«
»Den Eugen? Was hat der damit zu tun?«
»Fragen Sie ihn.«
»Sie lenken ab.«
»Ach was! Abdrücken ist nicht so leicht, das sage ich Ihnen. Damals hatte ich Angst, ja. Aber heute. Ich habe mein Leben gelebt. Und wenn mich da wieder ein Mauser mit der Pistole bedroht, da kann ich nur lachen.« Er greift über den Tisch hinweg und packt Mauser am Arm. »Raus jetzt!«
»War der Kommissar auch bei Ihnen?« Mauser macht seinen Arm los, richtet die Pistole drohend auf Hochstetters Kopf.
»Ein Kommissar? Nein, davon weiß ich nichts.«
Mauser packt wieder die Wut. Das hat er verhindern wollen, sachlich wollte er bleiben, aber da ist sie wieder. Eine unbezwingbare, dabei kühl rechnende Wut. Er krümmt den Finger am Abzug. Jetzt hat er Lust, diesen Verbrecher zu erschießen. Einfach so. Aber dieses Knäuel aus Schuld und Dunkel, diese ganze verworrene Geschichte schnürt ihm die Kehle ab. So fest er die Pistole hält, ist er doch vollkommen hilflos. Trotz der Wut. Er kann nichts tun. Er kann Spuren suchen und die Geschichte deuten, wie er will. Das macht es nicht besser. Ich hasse ihn, denkt er. Aber das stimmt nicht. Er kann Hochstetter nicht hassen.
In Wirklichkeit, denkt er, müßte ich Vater hassen. Aber das bringt er nicht über sich.
Jetzt greift Hochstetter nach der Hand, die die Pistole hält. Mauser schüttelt Hochstetter ab und tritt ein paar Schritte zurück.
Dann steckt er die Pistole wieder in die Jackentasche.
»Ich komme wieder«, sagt er.
Hochstetter grinst und schüttelt den Kopf.
»Verschwinden Sie! Sie und Ihre ganze Sippe. Ihr, die ihr so genau wißt, was Recht und was Unrecht ist.«
Mauser wendet sich ab und geht zur Haustür. Als er draußen ist, zittern ihm die Knie. Fast hätte ich geschossen, redet er sich ein. Ich war außer mir. Ob es seinem Vater ebenso gegangen ist? Hat er deshalb einen Behinderten erschossen? Aus Hilflosigkeit? Aus kalter Wut, weil er nichts machen konnte? Nichts gegen den Schrecken, der in Grafeneck herrschte. Nichts gegen den Abtransport von Mutz, nichts gegen Mutters Leiche am Strick. Es kommt alles ins Rutschen, denkt Mauser, als er zu seinem Wagen zurückgeht. Alles stimmt nicht mehr. Was soll ich tun?