I
Am frühen Morgen des 4. Juli 1766 streckte Thomas Jefferson sein perückenbewehrtes Haupt in den verlassenen Saal, der später als Independence Hall bekannt werden sollte und rief:
»Vorwärts, Jungs, die Küste ist klar!«
Er betrat den großen Raum, gefolgt von John Hancock, der nervös an einer Zigarette sog.
»He«, sagte Jefferson, »mach die Kippe aus, ja? Oder willst du, daß wir auffliegen, du Idiot?«
»Tut mir leid.« Hancock sah sich in dem Saal um und wandte sich dann an einen dritten Mann, der nach ihm eingetreten war. »Vergrab das«, murmelte er. »Nicht mal ein Aschenbecher in diesem Laden. Oberhaupt, was haben wir denn hier eigentlich vor, Nunzio?«
Der dritte Mann machte ein düsteres Gesicht. »Nenn mich nicht Nunzio«, grollte er. »Ich heiße Charles Thomson, klar?«
»Na schön, Chuck.«
»Charles!« Der dritte Mann rammte John Hancock den Ellenbogen in die Rippen. »Halt dich endlich gerade. Du siehst immer noch aus, als ob du von einem Maskenball der Boyscouts kämst.«
John Hancock zuckte die Schultern. »Mensch, was erwartest du denn? Nicht mal rauchen kann man, und diese blöden Hosen sind so eng, daß ich Angst davor hab, mich hinzusetzen.«
Thomas Jefferson drehte sich um und wandte sich an ihn.
»Du brauchst dich nicht hinzusetzen«, sagte er. »Alles was du tun sollst, ist unterschreiben und das Maul halten. Überlaß Ben 136
das Reden, klar?«
»Ben?«
»Benjamin Franklin, du Schwachkopf!«
»Hat irgend jemand meinen Namen erwähnt?« Der kleine, dicke Mann mit der beginnenden Glatze, der eben hastig den Saal betrat, rückte sorgfältig seine Brille zurecht.
»Wieso hast du so lange gebraucht?« fragte Thomas Jefferson. »Schwierigkeiten gehabt?«
»Keine Schwierigkeiten«, antwortete Benjamin Franklin.
»Sie haben keinen blassen Dunst, und die Gags klappen alle.
Es ist nur die Brille – die Gläser verzerren alles. Ich hatte vergessen, daß ich sie tragen muß.«
»Kannst du sie nicht weglassen?«
»Nein. Das könnte Mißtrauen erregen.« Franklin betrachtete die anderen über den Rand der Brille hinweg. »Sie werden ohnehin Verdacht schöpfen, wenn ihr euch nicht an das haltet, was ich euch sage.« Er sah sich in dem Raum um. »Wie spät ist es?«
Thomas Jefferson schob die Spitzen seines Ärmels hoch und blickte auf seine Armbanduhr.
»Sieben Uhr dreißig«, verkündete er.
»Bist du sicher?«
»Ich hab’ mir noch rasch die genaue Zeit von der Western Union geben lassen.«
»Die Western Union interessiert hier nicht. Steck lieber das Ding jetzt in die Tasche. Genau solches Zeug ist es, das uns in Schwierigkeiten bringen kann.«
»Schwierigkeiten!« stöhnte John Hancock. »Diese Schuhe bringen mich um. Die haben ja nicht mal annähernd meine Größe.«
»Trag sie und halt den Mund«, sagte Benjamin Franklin.
»Ich hoffe wenigstens, daß du nicht vergessen hast, dich zu rasieren. Das wäre eine feine Bescherung – der Präsident des Kongresses erscheint unrasiert zum größten Tag in unserer 137
Geschichte.«
»Ich hab’s vergessen. Und außerdem gab es keine Steckdosen für meinen elektrischen Rasierapparat.«
»Na, jetzt können wir es nicht mehr ändern. Die Hauptsache ist jetzt, daß ihr Ruhe bewahrt und genau wißt, was ihr zu tun habt. Mr. Jefferson, haben Sie die Erklärung?«
Niemand antwortete. Franklin ging auf den großen Mann mit der Perücke zu. »Jefferson, ich spreche mit Ihnen.«
»Oh, ich hatte vergessen …« Der Große lächelte dümmlich.
»Du solltest lieber nichts vergessen. Also – hast du sie?«
»Hier, in meiner Tasche.«
»Hol sie heraus. Wir müssen gleich unterschreiben, ehe irgendwelche andere Leute auftauchen. Ich nehme an, sie werden so gegen acht Uhr hier eintrudeln.«
Acht?« seufzte Jefferson. »Soll das heißen, daß die hier so früh zu arbeiten anfangen?«
»Unsere Freunde im hinteren Zimmer haben ausgesehen, als hätten sie die ganze Nacht gearbeitet«, erinnerte ihn Franklin.
»Haben die denn noch nie was von gewerkschaftlich festgelegter Arbeitszeit gehört?«
»Nein. Und du solltest so etwas auch überhaupt nicht erwähnen.« Franklin musterte seine Freunde ernst. »Das gilt für euch alle. Haltet eure Zunge im Zaum. Wir können uns keinen Ausrutscher erlauben.«
»Das sagst du mir?« Charles Thomson nahm das Pergament von Thomas Jefferson entgegen und entfaltete es.
»Sei vorsichtig damit«, warnte ihn Franklin.
»Reg dich ab, ja? Ich will mir’s bloß mal ansehen«, antwortete Thomson. »Schließlich hab ich das Ding ja noch nie gesehen.« Neugierig betrachtete er das Manuskript. »He, schaut euch bloß mal diese komische Handschrift an. Sieht aus wie gedruckt.«
Er breitete die Deklaration auf dem Tisch aus, beugte sich darüber und begann vor sich hinzumurmeln.
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»Sollte es im Laufe der menschlichen Entwicklung sich für ein Volk als notwendig erweisen, die politischen Bande zu lösen, die es mit einem anderen verbunden hatten und unter den Mächten der Erde … Was ist denn das überhaupt für ein komisches Gewäsch? Warum können denn die Burschen nicht ein anständiges Englisch schreiben?«
»Macht nichts.« Benjamin Franklin nahm ihm das Pergament weg und begab sich zu einem Schreibtisch. »Ich werde es gleich redigieren.« Er kramte in der Schublade herum, bis er ein neues Pergament und eine Feder hatte. »Ich fürchte, diese Art Handschrift kann ich nicht nachmachen, aber das kann ich dem Kongreß ja leicht erklären. Ich werde ihnen sagen, daß Jefferson sich in letzter Minute zu einigen Änderungen entschlossen hat. Und daß es geeilt hat. Das ist nicht mal eine Lüge.«
Er beugte sich über das Pergament und studierte die Deklaration.
»Den Stil muß ich beibehalten«, sagte er. »Sehr wichtig.
Aber die Hauptsache ist, daß ich die Bedingungen noch ergänze.«
»Wann kriegen wir denn endlich was zu essen?« fragte John Hancock. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Das hat Zeit«, schnappte Jefferson. »Und jetzt sei endlich still und laß den Jungen arbeiten. Das ist schließlich das Wichtigste am ganzen Plan, kapiert?«
Dann herrschte Stille in dem großen Saal – absolute Stille, in der man nur das eifrige Kratzen der Feder auf dem Pergament vernahm.
Jefferson stand hinter Franklin, blickte ihm über die Schulter und nickte von Zeit zu Zeit. »Vergiß nicht, einzufügen, daß ich vorläufig der Boß bin«, sagte er. »Und schreib auch, daß wir einen Schatzmeister brauchen.«
Franklin nickte ungeduldig. »Ist alles aufgeschrieben«, sagte er. »Keine Sorge.«
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»Glaubst du, sie werden unterschreiben?«
»Sicher werden sie. Ist doch nur logisch. Gleich nach den Artikeln über Freiheit und Unabhängigkeit muß die Regelung über eine vorläufige Regierung festgehalten werden. Dagegen kann niemand einen Einwand vorbringen. Ich frage mich ohnehin, warum sie das ursprünglich ausgelassen haben.«
»Was schaust du mich dabei an?« sagte Jefferson. »Woher soll ich’s denn wissen?«
»Nun, schließlich sollst du doch der Verfasser sein.«
»Ach ja, richtig.«
Franklin beendete den letzten Satz, lehnte sich im Stuhl zurück und deutete mit der Federspitze auf Jeffersons Brust.
»Huste«, sagte er.
Jefferson hustete.
»Noch mal. Lauter.«
»Was soll denn der Blödsinn?«
»Du hast eine Kehlkopfentzündung«, bedeutete ihm Franklin. »Und zwar eine ziemlich schlimme. Deshalb kannst du nicht sprechen. Wenn dich irgend jemand etwas fragt, hustest du nur. Kapiert?«
»Klar. Ich wollte sowieso nichts sagen.«
Franklin wandte sich Hancock und Thomson zu. »Ihr beide unterschreibt und verschwindet am besten. Wenn der Haufen eintrudelt, verschwindet ihr ins Hinterzimmer und haltet die Burschen dort im Auge. Ich werde schon eine Begründung dafür erfinden, daß ihr nicht da seid. Ich kann es einfach nicht riskieren, daß euch jemand in die Zange nimmt und Fragen stellt. Verstanden?«
Die beiden Männer nickten.
»Hier. Ihr beide unterschreibt zuerst.« Als John Hancock nach der Feder langte, kicherte Franklin unterdrückt: »Schreib deinen John Hancock einfach hierher.«
Hancock unterzeichnete mit einem riesigen Schnörkel. Dann gab er Charles Thomson die Feder.
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»Denk daran, daß du der Sekretär bist«, sagte Franklin, als Thomson die Feder in das Tintenfaß tauchte. »Was ist los? Ist die Feder zu ungewohnt für dich?«
»Sicher ist sie das«, sagte Thomson. »Und diese Klamotten sind reiner Mord, und keiner von uns weiß, wie er reden darf.
Wir kommen damit einfach nicht durch, Denker. Wir werden Fehler machen.«
Benjamin Franklin erhob sich. »Wir werden Geschichte machen«, erklärte er. »Ihr braucht nur meine Befehle zu befolgen, dann wird alles klappen.« Er zögerte und hob dann die Hand. »Um es in meinen eigenen – Benjamin Franklins –
unsterblichen Worten zu sagen: Wir müssen beisammen bleiben, sonst hängen sie uns einzeln.«