STUDIENREISE
Sabbatical
Auszug aus dem Tagesbulletin der Yardley-Universität (1.
April 1925): Professor Herbert Claymore, Leiter der Physikalischen Fakultät, hat heute bekanntgegeben, daß er sich auf einen kurzen Studienurlaub begeben wird. Seine Klassen werden während seiner Abwesenheit von Dr. Potter geleitet.
In der kleinen Bar auf der gegenüberliegenden Straßenseite, einen Block von der Fernsehstadt entfernt, war es gerade kurz nach acht Martinis. Das war natürlich subjektive Zeit, aber Don Freeman lebte nach subjektiver Zeit. Wenn man es genau betrachtete – lebte eigentlich nicht jeder so? Bis hin zu den acht Martinis?
Don wußte es nicht, aber er war bereit, mit jedermann ein Streitgespräch darüber anzufangen.
Das große Problem im Augenblick war nur, daß es keinen Gesprächspartner gab. Irgendwann würde sich ganz bestimmt noch Rosalie zeigen, ansonsten jedoch gab es in diesem neon-beleuchteten Nichts keinen Menschen, der es wert gewesen wäre, sich mit ihm zu unterhalten. Nicht mehr lange, das wußte Don, dann würde er ziemlich betrunken sein und schließlich wieder bei einem Gespräch mit dem Barkeeper enden.
Das war schlecht. Aber nach Hause zu gehen wäre noch viel schlechter. Außerdem kann man nicht heimkommen. Thomas Wolfe hatte das gesagt; für einen Burschen, der nicht einmal verheiratet gewesen war, darf das schon als eine recht gut beobachtete Feststellung gelten.
Don trank sein Glas leer und hielt es dem Barkeeper hin.
»Alms, um Allahs willen«, sagte er. Der Barkeeper tat seine Pflicht.
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Irgend jemand rempelte Don an der Schulter und trat ihm hart auf den Fuß.
»Seien Sie mein Gast«, murmelte Don, rutschte aber zum Ende der Bartheke. Es war so voll hier drinnen, daß man sein eigenes Trinken nicht hören konnte. Das war natürlich ein großer Vorteil. Man konnte sich nämlich auch nicht denken hören. Und wenn man sein Glück (und den Alkohol) ein wenig strapazierte, dann konnte man sich nach einer Weile auch nicht mehr denken fühlen – über Rosalie und das Haus und den Job –
ohne Schmerz oder Gewissensbisse zu verspüren. Oder man dachte überhaupt nicht darüber nach.
Und dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen, höchstens noch einen oder zwei Martinis entfernt. Bald würde er vergessen können, daß Rosalie nur ein leichter Vogel war, der in seinen Käfig geflattert war, weil er angenommen hatte, in einer der Shows, die von der Agentur betreut wurden, unterzukommen.
Er würde auch vergessen, nach Hause zu gehen – heim zu Beverly und Pat und Michael. Nicht, daß sie nicht in Ordnung waren. Es war nur so, daß mindestens jeder zweite junge Mann in seinem Alter mit einer Frau namens Beverly (oder Shirley oder Susan) verheiratet zu sein schien und Kinder namens Pat und Michael hatte.
Das Wichtigste war ihm aber, den Job zu vergessen. Seltsam, wie er sich einmal darum gerissen hatte, verantwortlicher Leiter der Playlights-Produktion zu werden. Jetzt, da er wirklich der große Boß war, hatte er sich nur noch mehr den Kopf zu zerbrechen. Da schlug man sich mit Kunden herum, mit Sendern, Talenten und Untalenten, die sie ihm schickten, und mit Schreiberlingen, die ihm immer und immer wieder die gleichen drei lausigen Manuskripte zusandten.
Zum Beispiel die Geschichte von dem Mädchen, das sich von einem Nervenzusammenbruch erholt und von der fixen Idee beherrscht wird, einen Mord begangen zu haben; aber ihr Arzt entdeckt den wahren Mörder. Natürlich gibt es eine 7
Heirat.
Dann die Geschichte von dem Piloten oder Rennfahrer oder Revolverhelden, der die Nerven verliert, bis es darauf an-kommt; dann jedoch bringt er die Sache mit Bravour hinter sich. Und schließlich noch die Geschichte jenes jungen Burschen, der zwischen krassem Materialismus und persönlicher Integrität zu wählen hat. Nun raten Sie mal, wie er sich entscheidet.
Diese letzte Art von Manuskripten haßte Don am meisten.
Vielleicht, weil er genau nach diesem Drehbuch lebte. Nur hatte seine blonde Frau nie jene große entsagende Rede gehalten, in der sie verkündete, daß sie finanzielle Armut geistiger Armut vorzöge, und er hatte auch noch nicht jene Szene gespielt, die den Höhepunkt des Stücks darstellte: Er warf seinem Boß den Kram vor die Füße, um hinfort einen anständigen Beruf auszuüben.
Jetzt war er also ein wirklich großer Mann, ein echter Produzent, und er konnte es sich leisten, an seinem freien Abend in einer lauten Bar zu hocken und noch einen Martini zu bestellen.
Wieder streckte er dem Barkeeper sein Glas entgegen.
»Wolke Nummer neun«, sagte er.
Er spürte, wie er wieder zur Seite gedrängt wurde. Halb Television City schien heute abend hier drinnen zu sein – Leute von der Produktion, Musiker, Agenten und sogar ein paar schnatternde Darsteller mit komplettem Make-up und Nacht-gewändern als Kostümierung. Wenn er gewollt hätte, dann hätte er eine Menge Leute gefunden, mit denen er hätte reden können. Aber was hätte das für einen Sinn?
Die meisten von ihnen waren aus dem gleichen Grund hier, der ihn hergeführt hatte; sie hatten ihre eigenen Probleme.
Eines Tages würde er eine Story über die TV-Industrie und ihren baldigen Zusammenbruch infolge innerer Spannungen schreiben. Der Fall des Hauses Ulcus.
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Aber heute abend noch nicht. Nicht jetzt. Denn nun hatte er seinen Drink, und vielleicht gelang es ihm noch, irgendwo da hinten eine Nische zu finden, wo er ihn bewachen konnte, damit er sich die lebenspendende Flüssigkeit nicht doch irgendwann noch über die Zwanzig-Dollar-Krawatte kippte.
Don entdeckte den freien Platz hinter sich, schwankte hinüber und zwängte sich hinein. Er hatte sich bereits gesetzt, als er entdeckte, daß die Nische nicht mehr leer war. Ihm gegenüber saß ein älterer Herr, der sein Bier mit den Händen wärmte.
»Tut mir leid«, sagte Don. »Ich hatte nicht bemerkt …«
»Keine Ursache«, entgegnete der ältere Herr. »Mir macht ein wenig Gesellschaft nichts aus.«
Don beobachtete ihn abschätzend.
Der Mann war etwa Ende Fünfzig. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Parker Fennelly; vermutlich Neuengländer. Er schien von irgendeiner Probe zu kommen, denn er trug ein Kostüm: schwarzer Anzug mit Weste und breiten Aufschlägen, steifer Zelluloidkragen, weißes Hemd. Die schmale Krawatte paßte zu dem Band, mit dem sein Kneifer befestigt war. »Der alte Professor, wie?« murmelte Don. Der Mann hob die Brauen. »Das ist bemerkenswert«, sagte er. »Wie in aller Welt haben Sie mich erkannt?«
»Ganz einfach«, sagte Don und deutete auf sein Glas, »in vino veritas«. Er beugte sich vor. »Das ist das Motto von MGM, müssen Sie wissen.«
Der Mann sah ein wenig verwirrt drein. »Machen Sie sich nichts draus«, bedeutete ihm Don. »Ich komme gerade von meinem Meteorologen, und der hat mir gesagt, daß ich ein wenig unter einem schlechten Stern stehe.«
»Aber Sie haben mich erkannt!«
»Sicher, sicher. Wie könnte ich Sie auch vergessen, den alten
– alten …«
»Herbert Claymore.«
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»Sag’ ich doch! Herb Claymore, wie er leibt und lebt! Der Letzte aus großen Zeiten! Was tun Sie denn hier? Ziehen Sie die Schau vom verrückten Wissenschaftler ab?«
Der Mann hob sein Bierglas. »Bitte, nicht so laut.« Er trank langsam. Dann blickte er auf. »Wie konnte ich das denn ahnen?
Ich meine, Sie müssen doch noch ein halbes Kind gewesen sein, als Sie mich zuletzt sahen. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Vierunddreißig«, sagte Don.
»Dann ist es völlig unmöglich. Sie waren ja damals noch nicht einmal geboren.«
»Ich bin geboren, ganz bestimmt«, nuschelte Don. »Ich kann Ihnen meinen Nabel zeigen, wenn Sie’s nicht glauben.«
»Sie sind betrunken.«
»Ist das nicht jeder? Wozu sind Sie denn gekommen?«
»Nur zu Studienzwecken.«
»Wieder mal Material sammeln, wie? Nun, lassen Sie sich von mir nicht aufhalten. Ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Nein, bitte, bleiben Sie. Ich hatte gehofft, jemanden zu finden, mit dem ich mich unterhalten kann. Und Sie interessieren mich. Verstehen Sie, ich hätte nicht erwartet, daß mich jemand erkennt.«
»Herb Claymore nicht erkennen? Den Mann, der die Welt mit seinen wissenschaftlichen Entdeckungen erschütterte? Man hat sich über Sie lustig gemacht, Sie verlacht, Sie lächerlich gemacht. Aber waren Sie je entmutigt? Nein, Sie gingen unbeirrt Ihren Weg, lüfteten die Schleier …«
»Wer sind Sie eigentlich, mein Herr?«
»Don Freeman ist mein Name. Oder, wie ich den jungen Damen meiner Bekanntschaft gegenüber zu sagen pflege, Don Freeman, zu Diensten.«
»Mir nicht bekannt. Und doch scheinen Sie Bescheid zu wissen.«
»Tu’ ich. Tu’ ich.«
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»Ist es wegen meiner Kleidung?«
Don nickte. »Dieser Hoover-Kragen würde jeden verraten.«
»Hoover-Kragen?« Der Mann dachte nach. »Ah, ja – Herbert Hoover, der Mann, der während des Krieges die Belgische Befreiung anführte.«
»Präsident Hoover«, korrigierte ihn Don.
»Ist er das?«
»Nicht mehr. Aber im Jahre 1929 …«
»Tut mir leid. Das war nach meiner Zeit.«
»Nach?«
»Vier Jahre. Ich bin 1925 abgereist.«
»Ach, wirklich? Und was ist noch neu?«
»Nun, einfach alles. Ich bin eben erst angekommen, und ich muß zugeben, daß die Veränderungen verblüffender sind, als ich angenommen hatte. Genau auf dem Grund der Universität befindet sich heute diese Fernseheinrichtung und …«
»Machen Sie einen Punkt, Claymore.«
»Wie bitte?«
»Es ist nicht komisch. Wir sind in keiner Weise erheitert.«
»Ich versichere Ihnen, es ist mein voller Ernst.«
Don blickte ihn kurz prüfend an. »Das ist kein Quatsch? Sie sind nicht aus irgend einer Anstalt entflohen?«
»Ich bin in keiner Weise entflohen, mein Herr. Ich bin ein Besucher.«
»Sie, Herbert Claymore, sind mit einer Zeitmaschine aus dem Jahre 1925 hierhergekommen?«
»So könnte man sagen, ja.«
Don seufzte leise. »Dann brauche ich, Don Freeman, noch einen Drink. So könnte man sagen, ja.«
Er winkte dem Barkeeper.
»Das gleiche?« fragte der Keeper.
»Nein. Jetzt brauche ich einen Miltown Special.« Er wandte sich an seinen Tischgenossen. »Und wie ist’s mit Ihnen?«
»Was ist das – ein Miltown Special?«
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»So was wie ein gewöhnlicher Martini, aber in der Olive ist ein Beruhigungsmittel.«
»Nun…«
»Kommen Sie. Ich wette, dort, wo Sie herkommen, konnten Sie so was nicht bekommen. Damals herrschte doch noch die Prohibition, nicht wahr?«
»In der Tat, ja.« Claymore sah wieder den Barkeeper an.
»Das gleiche.« Der Keeper verschwand. »Kein Scherz«, murmelte Don. »Aus dem Jahre 1925, wie? Einfach so …«
»Nicht ›einfach so‹. Ich habe achtzehn Jahre darauf ver-wendet, den modus operandi zu vervollkommnen. Steinmetz und Edison haben mir den Gefallen getan, mich anzuhören, aber sonst interessierte sich niemand für meine Arbeit.«
»Nicht einmal Einstein?«
»Meinen Sie Albert Einstein, den deutschen Mathematiker?
Ich habe den Herrn nie getroffen. Ich war noch nie in Europa, müssen Sie wissen.«
Der Barkeeper stellte die Drinks vor sie hin, und Don zeichnete den Beleg ab.
»Sie meinen’s wirklich ernst, wie?« sagte Don. »Zeitreisen.
Tolle Sache! Wie kommt es, daß Sie sich ausgerechnet diesen Platz als Ziel ausgesucht haben?«
»Ich hatte angenommen, die Universität existerte noch«, erklärte Claymore. »Nun habe ich erfahren, daß sie während der Zeit der Depression, wie sie es nennen, verschwunden ist.«
»Depression. Ich bin eine Kapazität auf dem Gebiet der Depressionen, besonders meiner eigenen«, sagte Don.
»Aber das hier scheint eine wundervolle Gegend zu sein.«
»Ach, wirklich? Passen Sie auf, ich werde Ihnen den richtigen Eindruck vermitteln. Bleiben Sie hier, und ich kehre für Sie ins Jahr 1925 zurück. Ich meine, falls Sie das Ganze nicht als Witz erzählt haben.«
»Das wäre nicht fair«, sagte Claymore. »Das war ein barbarisches Zeitalter.«
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»Ich stelle fest, daß Sie die Zeitungen noch nicht gelesen haben«, antwortete Don. »Vielleicht gibt’s im Irrenhaus keine Zeitungsjungen.«
»Mein Herr, ich muß Sie doch bitten …«
»Na, schön, keine Beleidigungen. Aber jeder, der die Dinge, wie sie heute sind, in Ordnung findet, muß verrückt sein.
Betrachten Sie doch bloß einmal die Lage: Kalter Krieg, Gewerkschaftsskandale, Streiks, Weltraum-Wettrennen, ein ganzes Alphabet von Bomben, warum Johnny nicht lesen kann, die Sicherheit, Zensur … Es ist mörderisch!«
»Ich kann nicht sehen, was daran schlimmer sein sollte als das, was ich hinter mir gelassen habe«, sagte Claymore. »Im Jahre 1925 hatten wir die bolschewistische Bedrohung, den Teapot-Dome-Skandal und den Alkoholschmuggel. Und was Zensur und Kontrolle anbelangt – was ist mit der Prohibition?
Und was halten Sie von dem Gesetz unten in Tennessee, das es verbietet, in der Schule von Evolution zu sprechen? Und die Lynchmorde? Und die Morde überhaupt? Unsere Zeitungen sind voll von Berichten über Al Capone.«
»Na schön, es reicht schon«, sagte Don. »Betrachten wir mal die andere Seite. Sind Sie schon lange genug hier, um unsere Urwaldmusik zu hören, die Autos mit den unmöglichen Formen zu sehen, die miesen Anzeigen, die schrecklichen Filme?
Wird der Erfolg Frankensteins Ungeheuer verderben – kann ich Sie da nur fragen.«
Claymore nippte an seinem Drink. »Ich habe von Rock’n’Roll gehört. Aber ist Ihnen schon jemals einer unserer Wo-do-di-do-Songs zu Ohren gekommen, oder zum Beispiel Ausgerechnet Bananen? Haben Sie jemals versucht, ein Ford-T-Modell bei starkem Regen über eine miese Landstraße zu kutschieren? Stellen Ihre Anzeigen die unsterbliche Frage: Warum sollte man ein Bruchband tragen? Und was die Kinos anbelangt, so möchte ich nur auf die epischen Produkte mit Mae Murray oder Gilda Gray oder die Mammutschinken von 13
Cecil B. De Mille hingewiesen haben.« Er lächelte. »Sie genießen zumindest den Vorteil der modernen Technologie.«
»Sicher. Klimaanlagen, Fernsehen, Supermärkte, auto-matische Waschmaschinen. Aber auch ferngelenkte Raketen und die tödlichste aller Waffen, die Einkommensteuer.«
»Die es auch bei uns schon gab.«
Don trank um seine Olive herum. »Damit stehen wir also unentschieden. Aber betrachten wir doch mal die wirklich wichtigen Dinge: die engen Wohnverhältnisse, die unsere Hauptstädte zerstören und die grauen Flanellanzüge, die wir tragen und die Frauen, die wir lieben – diese kurvenreichen, blondgebleichten, spatzenhirnbewehrten Schönheiten.«
»Schön und gut«, lächelte Claymore.» Vergleichen wir mal die heutigen Wohnverhältnisse mit denen im Jahre 1925.
Wußten Sie schon, daß damals nur knapp die Hälfte aller Wohnungen ein Bad hatte – und nicht einmal so viele eigene Toiletten? Über die entsetzlich unbequemen Möbel brauche ich wohl nichts zu sagen. Und was die Kleidung anbelangt, so erübrigt sich wohl auch darüber jegliche Bemerkung. Sehen Sie sich bloß mal an, was ich anhabe und vergleichen Sie es mit Ihrem Anzug.«
»Vergessen wir diese Nebensächlichkeiten«, unterbrach ihn Don. »Kommen wir auf das Wichtigste zu sprechen, nämlich den Sex.«
»In Ordnung. Sie haben ein ziemlich verlockendes Bild des heutigen weiblichen Ideals gezeichnet. Dagegen habe ich genau das Gegenteil zu bieten – dünn, flachbrüstig, neurotisch schrill, neurotisch ordinär, gintrinkend, affektiert…«
»Ich hab’ kapiert«, sagte Don. »Aber wenn wir dieses Spiel nun schon mal spielen, warum beschränken wir uns dann auf mein Heute und Ihr Gestern? Wenn sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart so untragbar sind, warum hüpfen wir dann nicht in Ihr komisches Gefährt und machen spaßeshalber mal einen Ausflug in die Zukunft?«
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»Das habe ich schon getan«, sagte Claymore.
»Was?«
»Ich sagte, ich habe es schon getan.« Er trank sein Glas leer.
»Dies ist mein zweiter Aufenthalt, könnte man sagen. Das erstemal war ich etwa fünfunddreißig Jahre von jetzt an gerechnet in der Zukunft.«
»Und warum sind Sie nicht dort geblieben? Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß es da genauso schlimm war?«
»Urteilen Sie selbst. Keine Furcht mehr vor dem Kommunismus …«
»Großartig!«
»Sie haben statt dessen Angst vor den Konservativen.
Consies, wie sie sich nennen. In der Regierung, der Wirtschaft und in den internationalen Beziehungen haben die Bremser die besten Positionen. Aber es gibt viele Dinge, die erledigt werden sollten. Sie müssen getan werden. Resultat: Unterdrückung der Redefreiheit, allgemeinme Zensur, Jagd auf Spione. Dann ist da der Plutonium-Skandal, das Problem der Kinderkriminalität und der Rauschgiftmißbrauch. Ich glaube, ich brauche nicht zu erklären, wie ihre Schlager klingen oder was sie unter Unterhaltungsindustrie verstehen. Plastisches Fernsehen kann ziemlich überwältigend sein, und die Werbung ist natürlich auch nicht auf dem heutigen Stand stehengeblie-ben. Was die Bequemlichkeit anbelangt – die Anstrengungen und Qualen eines Raketenflugs zum Mond können Sie sich einfach nicht vorstellen.«
»Und die Frauen?« fragte Don hoffnungsvoll.
Claymore deutete mit seinen Händen eine Ellipse an.
»Allerliebst. Durchschnittsgewicht zweihundert Pfund. Man nennt sie King-size-Puppen. Ziemlich aggressiv, aber das ist normal in einem Matriarchat. Wenn Sie den heutigen Trend erkannt haben, können Sie sich ja vorstellen, daß sie inzwischen buchstäblich das gesamte Geschäftsleben, alle Unternehmung-en – einschließlich der Unterhaltungsmedien und die 15
Regierung fest in der Hand haben.«
»Aber wie lautet dann die Antwort?« protestierte Don.
»Meinen Sie, in diesem Spiel kann man nie gewinnen? Man entgeht ihm nicht, ganz gleich, wohin man flieht?«
»Man kann nicht vor sich selbst fliehen«, erklärte Caymore.
»Das ist das einzige, was ich dabei gelernt habe. In jedem Zeitalter ist einzig und allein wichtig, wie man selbst lebt, wie man sich seiner eigenen Umgebung anpaßt.«
»Aber das ist doch mies«, sagte Don.
»Sie meinen unmöglich?« gab Claymore zurück.
Don nickte. »Ich nehme an. Sie haben jetzt vor, nach 1925
zurückzukehren und da weiterzumachen, wo Sie aufgehört haben?«
»Warum nicht? Was ich erfahren wollte, habe ich erfahren.
Und wenn Sie Probleme haben, rate ich Ihnen, dasselbe zu tun.
Akzeptieren Sie die Realität.«
»Das ist eine ganze Menge …« Don zögerte. Plötzlich schlug er auf den Tisch. »Nein, ist es nicht! Sie haben recht, bei Gott! Die Realität akzeptieren, das ist die Antwort! Passen Sie auf, Sie behaupten, Sie seien wirklich mit einer Zeitmaschine hier angekommen. Verstehen Sie, was das bedeutet?
Nun, das bedeutet zuallererst eine Chance auf ein Geschäft, das viele Millionen Dollar bringen kann!«
Er beugte sich vor. »Hören Sie, tun wir beide uns zusammen.
Als gleichberechtigte Partner. Ich werde die ganze Sache abwickeln und leiten und Sie leisten die Vorarbeit. Ich kann Ihnen die größte Werbekampagne aufziehen, von der die Welt je gehört hat – Anzeigen in allen Zeitungen und Zeitschriften des Landes, Sendezeit in allen Stationen, wann immer Sie sie brauchen. Der Tenor der gesamten Werbekampagne ist so einmalig, daß ich gar nicht darüber sprechen möchte.
Der Mann aus der Vergangenheit ist da – persönlich! Sie schlagen die größten Shows aus dem Rennen. Unvorstellbar, welche Wirkung auf den Verkauf der einzelnen Produkte Sie 16
haben könnten. Sie stellen sich neben einen Kühlschrank aus dem Jahre 1925 und vergleichen ihn mit einem neuen Kühlschrank. Sie stellen sich einfach hin und zerbrechen ein paar alte, verkratzte, miese Caruso-Platten, nachdem Sie sich das neueste Album von Fats Domino angehört haben.
Verstehen Sie, wie ich’s meine?
Und wir werden eine tägliche Kolumne für Sie in der Zeitung schreiben lassen – ein bißchen handgestrickte Philosophie, Sie verstehen schon. Mann, Sie werden groß
‘rauskommen. Sie werden größer werden, als es Godfrey in seinen besten Zeiten je war, größer als …«
»Tut mir leid.« Claymore erhob sich. »Ich habe es so gemeint, wie ich es gesagt habe. Ich werde dahin zurückkehren, wohin ich gehöre.«
»So warten Sie doch eine Minute! So eine Gelegenheit bietet sich einem doch nur einmal im ganzen Leben. Und es gibt keine Zeit, die der Gegenwart gleicht.«
»Für Sie vielleicht. Für mich geht nichts über die Vergangenheit.«
»Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß sie stinkt.«
»Ich kann mich anpassen. Und das ist der Rat, den ich Ihnen jetzt noch geben möchte: Passen Sie sich ihrer eigenen Zeit, Ihrer Umwelt an.«
Don schüttelte den Kopf und starrte in sein Glas. Als er wieder aufsah, war Claymore verschwunden. Als sei er nie dagewesen. Wenn er überhaupt je dagewesen war.
Hölle, vielleicht war es nur der Drink gewesen.
Sicher war es der Drink gewesen. Zeitreisen waren Blödsinn.
Und Blödsinn war auch diese Philosophie. Mach das Beste aus den Dingen, so wie sie sind. Mit anderen Worten, sein Unterbewußtsein bedeutete ihm, Rosalie zu vergessen und nach Hause zu gehen zu seiner Frau und den Kindern. Ein lausiger Schluß für ein Drehbuch. Nun, er mußte es ja nicht kaufen.
Er mußte es nicht kaufen. Er konnte es verkaufen. Sicher.
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Das war die Lösung. Das liebe kleine Unterbewußtsein hatte doch tatsächlich die ganze Zeit über weitergearbeitet, lebte und atmete noch in einem schnorchelbewehrten U-Boot unter den zehn Martinis. Eben hatte es ihm einen guten Tip für eine großartige Show geliefert.
Da ist der alte verschrobene Typ aus der Vergangenheit, verstehen Sie? Er erfindet diese Zeitmaschine und kommt nach heute. Zuerst mag er es recht gern und wird eine Berühmtheit, aber nach einer Weile hält er das ganze Einerlei einfach nicht mehr aus. Schließlich bringen sie ihn ins Fernsehen, um eine große Rede zu halten, und ein paar Politiker haben ihn am Wickel, um ihre lausigen Kandidaten durchzubringen. Aber er wehrt sich schließlich und legt sie dadurch herein, daß er die ganze Sache verrät. Er bedeutet den Leuten, zum altmodischen Individualismus zurückzukehren, zu Sitte und Anstand und all dem Kram.
Ja, das war die Lösung! Das war es!
Don fischte in seiner Tasche nach dem Notizbuch. Besser, er schrieb es schnell auf, ehe er es wieder vergaß. Morgen konnte er es einigen seiner Leute geben. Die brauchten es dann bloß noch auf der Schreibmaschine auszufeilen – vielleicht würde er sie sogar mit einem Drittel an den Einkünften beteiligen, aber die Rechte würde er für sich behalten.
Es geht nichts über die Gegenwart. Ein großartiger Titel.
Eine großartige Idee. Und auch ein großartiger kleiner Gedanke: Ein Mann muß das Beste aus dem machen, was er hat.
Don begann zu kritzeln. Er wußte, wo er war und was er tat, und im Augenblick hätte er mit keinem Menschen auf der Welt tauschen mögen. Nirgends und zu keiner Zeit.
Auszug aus dem Tagesbulletin der Yardley-Universität (5.
April 1925); Professor Herbert Claymore, Leiter der Physikalischen Fakultät, hat nach einem kurzen Studienurlaub seine Arbeit wieder aufgenommen.
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