Am Ende seines gut 26-jährigen Pontifikats, des zweitlängsten in der Kirchengeschichte, gab es niemanden auf der Welt, der an seinen Bekanntheitsgrad heranreichte. Sein Sterben und sein Tod am 2. April 2005 bewegten die Weltöffentlichkeit, Nichtgläubige ebenso wie Gläubige. Dazwischen lag eine Epoche der Widersprüche. Mehr als ein Vierteljahrhundert polarisierte der Pole auf dem Stuhl Petri die Welt und die Kirche.
Einerseits wirkte er ungeheuer modern, er brachte frischen Wind in die verstaubte Kurie. Vieles von der steifen Etikette und dem höfischen Zeremoniell seiner Vorgänger schaffte der polnische Pontifex schnell ab. Der Reformpapst Johannes XXIII., er regierte von 1958 bis 1963, hatte sich noch in einer Sänfte in den Petersdom tragen lassen. Johannes Paul II. stieg in Badehose in den Swimmingpool, der für ihn in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo gebaut worden war – Paparazzi schossen dabei Fotos. Er ließ sich beim Skifahren in den Dolomiten ablichten und im Anorak beim Bergwandern im Aostatal.
Andererseits zeigte sich Johannes Paul II., geprägt von mystischer polnischer Frömmigkeit, in Glaubensfragen reaktionär. Schon im zweiten Jahr seines Pontifikats entzog er dem Tübinger Theologen Hans Küng die Lehrerlaubnis. Er wandte sich schroff gegen die »Theologie der Befreiung« in Lateinamerika, deren Wortführer Leonardo Boff 1985 ein einjähriges »Bußschweigen« auferlegt wurde. Den Gründer des erzkonservativen Geheimbundes Opus Dei, Josemaría Escrivá, hingegen sprach er 2002 heilig.
Unnachgiebig blieb Johannes Paul II. in Fragen der Geburtenkontrolle, der Sexualmoral, der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Eucharistie, zum gemeinsamen Abendmahl mit Christen anderer Konfessionen, zur Rolle der Frau in der Kirche und zum Zölibat der Priester. Homosexualität verurteilte er ebenso als Todsünde wie den Gebrauch von Kondomen. In Deutschland heftig umstritten war seine kompromisslose Ablehnung einer kirchlichen Schwangerenberatung, deren Bescheinigung den Frauen einen straffreien Schwangerschaftsabbruch ermöglicht hätte. Zögerlich reagierte der Papst auf die Erkenntnis, dass Mitarbeiter der Kirche in großer Zahl ihnen anvertraute Kinder sexuell missbraucht haben.
Über seine Reisefreudigkeit wurde anfangs viel gelästert. Während seine Vorgänger kaum je den Vatikan verlassen hatten, jettete Johannes Paul II. um die Welt. »Eiliger Vater« wurde der fromme Globetrotter deshalb spöttisch genannt. Auf 104 Auslandsreisen besuchte er 129 Länder, dabei legte er mehr als 1,16 Millionen Kilometer zurück.
Wo immer er auftrat, kam überschäumende Entzückung auf; der Menschenfischer mobilisierte die Massen. Sie jubelten ihm zu wie einem Popstar; vor allem Jugendliche verehrten ihn wie ein Idol. Vier Millionen Gläubige sollen 1995 an einer von ihm in der Philippinen-Hauptstadt Manila zelebrierten Messe teilgenommen haben, dem größten Gottesdienst in der Geschichte.
»Ein Pontifikat der Superlative« bescheinigt der in Freiburg lehrende Theologe Jan-Heiner Tück diesem Papst: »Wojtylas charismatische Persönlichkeit, sein wacher Sinn für symbolische Gesten, sein souveräner Umgang mit den Medien stärkten die globale Bedeutung des Papsttums.«
Die Kehrseite beschreibt der in Kassel lehrende Soziologe und bekennende Katholik Heinz Bude: »Wie kein anderer Papst vor ihm war Johannes Paul II. weniger an der inneren Formung denn an der äußeren Wirkung der katholischen Kirche interessiert.« Im Grunde habe er »die Kirche sich selbst überlassen, weil er davon beseelt war, der Gesellschaft die Macht des Glaubens vor Augen zu führen«.
Wie kein Pontifex vor ihm verstand Wojtyla seinen Auftrag wörtlich, Brücken zu schlagen zu anderen Religionen und christlichen Konfessionen. 1983 besuchte der römische Bischof erstmals eine evangelische Kirche, die Christuskirche der deutschen Gemeinde in der italienischen Hauptstadt. Als erster Papst betrat Johannes Paul II. eine Synagoge (im April 1986 den »Tempio Maggiore« in Rom). Und als erster katholischer Oberhirte betete er in einem muslimischen Gotteshaus (im Mai 2001 in der Omajjaden-Moschee in Damaskus).
Die Aussöhnung mit den Juden, die er »die älteren Brüder« der Christen nannte, war einer der Pfeiler seines Pontifikats. In der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem bat er (im März 2000) die Juden um Vergebung: »Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, dass die katholische Kirche tiefste Trauer empfindet über den Hass, die Verfolgungen und alle antisemitischen Akte, die jemals irgendwo gegen Juden von Christen verübt wurden.« Einen Zettel, auf den er die Entschuldigung geschrieben hatte, steckte der Papst in die Klagemauer in Jerusalem. Das Magazin »Jerusalem Report« stellte in einem Leitartikel fest: »In 2000 Jahren hat wahrhaftig kein Mensch mehr für die Aussöhnung zwischen Christen und Juden getan als dieser polnische Papst.«
Unter dessen Leitung ordnete die katholische Kirche auch ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften. Dass sich die Erde um die Sonne dreht, wie die Astronomen Galileo Galilei und Nikolaus Kopernikus feststellten, hatte das Heilige Offizium, die päpstliche Inquisitionsbehörde, im Jahr 1616 als »töricht, absurd und ketzerisch« verurteilt. 1992 wurde Galileo Galilei rehabilitiert, ein Jahr später Nikolaus Kopernikus. Und auch mit der Evolutionslehre von Charles Darwin, die der wörtlichen Lesart der biblischen Schöpfungsgeschichte entgegensteht, machte die Kirche 1996 ihren Frieden.
Fortwährend mischte sich Johannes Paul II. in die Weltpolitik ein; seine großen Themen waren Menschenrechte und Frieden. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus übte er heftige Kritik am westlichen Kapitalismus und bewies damit, dass er sich nicht zum Büttel einer Ideologie oder des Zeitgeists machen ließ. Nicht nur in Ost- und Mitteleuropa, sondern auch im Westen müsse die Kirche »zu einer Großbewegung für die menschliche Person und zum Schutz ihrer Würde« werden, schrieb er in der Enzyklika »Centesimus annus« 1991.
Politik und Religion berührten sich, als Johannes Paul II. im Oktober 1986 Vertreter aller Weltreligionen nach Assisi einlud, um gemeinsam für den Frieden zu beten. Es kamen 65 Gäste, die die zwölf wichtigsten Glaubensrichtungen repräsentierten: Buddhisten, Tibeter mit dem Dalai Lama an der Spitze, japanische Shinto-Priester, protestantische Pastoren, islamische Mullahs, jüdische Rabbiner und orthodoxe Bischöfe. In vielen Ländern, in denen seit Jahren Krieg herrschte, wurde der päpstliche Aufruf, die Waffen für 24 Stunden schweigen zu lassen, befolgt.
Scharf verurteilte der Papst den Krieg der USA gegen den Irak; den Palästinensern bekundete er stets seine Sympathie. Als er im »Heiligen Jahr« 2000 nach Israel reiste, besuchte er demonstrativ auch das palästinensische Flüchtlingslager Deheische bei Bethlehem und appellierte dort an die Politiker, endlich eine friedliche Lösung für die Region zu finden.
Ob es politische Hintergründe für ein am 13. Mai 1981 auf Johannes Paul II. verübtes Attentat gab, ist bis heute ungeklärt. Während der Papst in seinem »Papamobil«, einem offenen Geländewagen, zur Generalaudienz über den Petersplatz fuhr, feuerte der türkische Terrorist Mehmet Ali Agca mit einer Pistole auf ihn. Der dritte Schuss traf den Pontifex in den Bauch.
Dass die Kugel lebenswichtige Organe verfehlte, schrieb der wundergläubige Marienverehrer dem Schutz durch die Muttergottes zu: »Eine Hand hat geschossen, eine andere hat das Geschoss geleitet.«
Symbolkraft hatte für Johannes Paul II. auch das Datum. An einem 13. Mai – 1917, im Jahr der russischen Oktoberrevolution, wie der Papst immer wieder betonte – soll Maria in der Nähe des portugiesischen Dorfes Fátima erstmals drei Hirtenkindern erschienen sein und ihnen drei Weissagungen überbracht haben. Eine der Empfängerinnen schrieb zwischen 1935 und 1941 die Prophezeiungen auf, die im vatikanischen Geheimarchiv hinterlegt wurden. Die dritte Botschaft, deren Geheimnis erst im Jahr 2000 gelüftet wurde, soll besagt haben, dass ein »in Weiß gekleideter Bischof« von einer Gruppe von Soldaten getötet werde, »die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen«. Die blutdurchtränkte weiße Schärpe seiner Soutane, die der Papst bei dem Attentat trug, opferte er der Schwarzen Madonna von Tschenstochau in Polen. Die Kugel, die ihm aus dem Bauch operiert worden war, ließ er, vergoldet und in eine Krone eingearbeitet, nach Fátima bringen.
Als Drahtzieher des Mordanschlags wurden östliche Geheimdienste vermutet. Den Attentäter, der über mögliche Auftraggeber schwieg und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde, besuchte Johannes Paul II. im römischen Rebibbia-Gefängnis – eine eindrucksvolle Geste der Vergebung.
Von den Folgen seiner Verletzungen aber hat sich der zuvor so vitale und sportliche Papst nie mehr vollständig erholt. Hinzu kamen weitere Krankheiten und Operationen, darunter ein künstliches Hüftgelenk, das ihm fortan das Gehen erschwerte. Am schwersten setzte ihm die Parkinson-Krankheit zu. Mit eisernem Willen versuchte er seine zitternden Glieder unter Kontrolle zu halten, mit sichtlicher Mühe, klare Worte zu formen. Der Kontrast zwischen körperlichem Verfall und geistiger Stärke des Greises verlieh dem Pontifex eine neue Faszination.
Gezeichnet von schwerer Krankheit, übte er bis zuletzt sein strapaziöses Amt aus und schonte sich nicht. »Ausruhen kann ich mich noch eine Ewigkeit«, pflegte er zu sagen. Ein Rücktritt kam für ihn nicht in Frage: »Jesus ist auch nicht einfach vom Kreuze gestiegen.« Noch am Ostermorgen 2005 versuchte er, trotz eines schlecht verheilenden Luftröhrenschnitts, oben am Fenster des Apostolischen Palasts den Segen »urbi et orbi« zu spenden – aber er brachte keine Worte mehr hervor, nur ein Röcheln. Sechs Tage später starb er.
»Santo subito!« (»Sofort heiligsprechen!«), skandierten Zehntausende auf dem Petersplatz, als Kardinaldekan Joseph Ratzinger die Totenmesse für Johannes Paul II. las. Ratzinger, als Benedikt XVI. dessen Nachfolger, beeilte sich, dem dringlichen Wunsch zu folgen.
Entgegen der Regel, dass bis zur Einleitung eines Seligsprechungsverfahrens fünf Jahre seit dem Tod des Kandidaten vergangen sein sollen, ließ der neue Papst schon nach wenigen Wochen die Prozedur eröffnen. Die medizinisch nicht erklärbare Heilung einer französischen Nonne von der Parkinson-Krankheit wurde als – das für eine Seligsprechung erforderliche – Wunder anerkannt. Am 1. Mai 2011 verkündete Benedikt XVI.: »Johannes Paul II. ist selig.«