Feingeist mit Machtdrang
Leo IX. gilt als Reformer und bedeutendster deutscher Papst des Mittelalters. Auf sein Pontifikat geht das »Morgenländische Schisma« von 1054 zurück, der Bruch Roms mit der byzantinischen Kirche.
Von Katharina Stegelmann
Schon die erste Synode, die Leo IX. im Jahr 1049 leitete, war für die anwesenden Bischöfe ein Schock. Sie tobten und schimpften über die Pläne des neuen Papstes, einer der Würdenträger erlitt gar einen Herzinfarkt. Mit der weitverbreiteten Simonie, dem Kauf kirchlicher Ämter, wollte der Pontifex aufräumen. Er wetterte gegen die Laieninvestitur, die Einsetzung von Klerikern durch weltliche Herrscher. Und leidenschaftlich verfocht er den Zölibat, die Verpflichtung der Priester zur Ehelosigkeit. Nicht wenige der Synodenteilnehmer waren persönlich betroffen.
Der gebürtige Elsässer Leo IX., ein Vetter zweiten Grades des salischen Kaisers Heinrich III., ging als großer Reformer in die Kirchengeschichte ein. Unter den sieben Vorgängern des letzten Amtsinhabers Benedikt XVI., die aus dem deutschen Kulturraum stammten und deren Pontifikate zwischen 996 und 1523 lagen, gilt Leo IX. als der bedeutendste.
Heinrich III. wollte das Papsttum aus der Abhängigkeit der römischen Adelsclans befreien, die das Amt seit geraumer Zeit unter sich ausmachten. Seit 1046 hatte er daher schon zweimal Bischöfe aus Deutschland auf den Thron Petri steigen lassen. Doch beide starben nach kurzer Zeit. Erst im dritten Anlauf gelang dem Kaiser 1048 eine längerfristige Lösung. In Worms wählte ein Kreis von geistlichen und weltlichen Granden den 46-jährigen Grafen Bruno von Egisheim, der seit 1026 Bischof des lothringischen Bistums Toul war, zum Papst.
Um der Gefahr der Isolation zu entgehen, die seine beiden Vorgänger in Rom erfahren mussten, brachte Leo IX. Berater mit, unter ihnen den Mönch Hildebrand, den späteren Papst Gregor VII., und den scharfsinnigen Humbert aus Moyenmoutier, den er zum Bischof von Silva Candida ernannte. Diesen Freunden übertrug Leo IX. frei werdende Kardinalsstellen, die traditionell von Angehörigen des römischen Stadtadels besetzt worden waren. Er schuf damit die Grundlage des heutigen Kardinalskollegiums als kirchliches Leitungsgremium.
Der hochgebildete Feingeist war ein begnadeter Redner und Prediger, gewandt in mehreren Sprachen und auch von hoher musischer Begabung. Einmal komponierte er auf der Durchreise in Metz auf Bitten des dortigen Abtes ein Responsorium, einen liturgischen Wechselgesang, zu Ehren des Klosterpatrons.
Kein Papst vor Leo IX. hatte so viel Präsenz gezeigt. In seiner fünfjährigen Amtszeit überquerte er mindestens sechs Mal die Alpen, auch Frankreich und Süditalien besuchte er. Mit seinen Auftritten vor Ort untermauerte Leo eindrucksvoll den Anspruch, als römischer Bischof die Kirche zu führen. »Wie der Kaiser ›vom Sattel aus das Reich regierte‹, so dieser Papst die abendländische Christenheit«, konstatierte der Historiker Werner Goez.
Sein Primatsanspruch brachte Leo IX. in Gegensatz zu den altkirchlichen Patriarchaten in Antiochia, Alexandria, Jerusalem und vor allem in Konstantinopel. Orient und Okzident hatten sich schon lange entfremdet. Zum ersten tiefen Riss zwischen Ost und West war es bereits mit der Krönung Karls des Großen durch Papst Leo III. im Jahr 800 gekommen. Der Kaiser in Konstantinopel, der sich als rechtmäßigen Erben der römischen Herrscher betrachtete, war brüskiert.
Auch eine sprachliche Kluft erschwerte das gegenseitige Verständnis. Die zur Zeit der Urkirche im gesamten Mittelmeerraum gebräuchliche Weltsprache Griechisch hatte seit Jahrhunderten ihre Bedeutung verloren. Im Westen sprach man fast nur Latein, das den griechischen Patriarchen als barbarisch galt.
Ein theologischer Streit entzündete sich an einem Zusatz zum nicänisch-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis aus dem Jahr 381: Die römische Kirche hatte eingefügt, dass der Heilige Geist nicht nur aus Gott, dem Vater, sondern ebenso aus Christus, dem Sohn (»filioque«), hervorgehe. Für die Ostkirche war der Alleingang Roms nicht akzeptabel. Auch in Liturgie und Glaubenspraxis gab es Differenzen. Im Westen wurde ungesäuertes, im Osten gesäuertes Brot zum Abendmahl verwendet; in manchen östlichen Gemeinden verdünnte man den Messwein mit heißem Wasser, andernorts galt das als Sakrileg; im Osten heirateten die Priester, im Westen setzte sich der Zölibat durch.
Anfang 1053 erhielt Leo IX. eine dem byzantinischen Patriarchen Michael Kerularios zugeschriebene Streitschrift. Darin hieß es, sowohl die Verwendung ungesäuerten Brotes (»Azymen«) als auch das Fasten am Samstag seien Relikte des jüdischen Glaubens, insofern seien die Lateiner keine reinen Christen. Mit dieser Provokation, mit der er den päpstlichen Unfehlbarkeitsanspruch in Frage stellte, suchte Michael Kerularios seine innerkirchliche Autorität zu stärken. Auch gegenüber dem schwächlichen Kaiser Konstantin IX. wollte er ein Zeichen setzen, denn der ließ dem Papst nach Kerularios’ Geschmack viel zu großen politischen Spielraum.
Seit Beginn des 11. Jahrhunderts waren aus Nordwestfrankreich stammende Normannen immer weiter nach Süditalien vorgedrungen und hatten bereits weite Teile des von Byzanz beherrschten Apulien erobert. Leo IX. versprach dem Gouverneur der Provinz seine Hilfe unter der Bedingung, dass die dortigen, bisher östlichen Kirchen den westlichen Ritus übernähmen – womit de facto in dem Gebiet die römische Kirchenhoheit hergestellt worden wäre.
Obwohl Kaiser Heinrich III. dem Papst militärische Hilfe versagte, zog Leo IX. mit einem Söldnerheer gegen die Normannen in die Schlacht. Im Juni 1053 erlitt er bei Civitate eine vernichtende Niederlage. Nun schien der Papst doch noch einen Kompromiss in den strittigen religiösen Fragen mit dem byzantinischen Patriarchen zu suchen. Michael Kerularios signalisierte Zustimmung. Kaiser Konstantin IX. war ohnehin nicht abgeneigt, ein Bündnis mit dem Papst gegen die Eindringlinge zu schließen, machte dies aber von einem Kirchenfrieden zwischen Rom und Byzanz abhängig.
Leo IX. schickte deshalb eine dreiköpfige Abordnung unter Führung von Kardinal Humbert von Silva Candida nach Konstantinopel, wo sie im April 1054 eintraf und vom Kaiser ehrenvoll empfangen wurde. Gegen den Patriarchen erhob die Delegation jedoch schwere Vorwürfe der Häresie.
Weil Michael Kerularios nicht Abbitte leisten wollte, legten die Römer schließlich am 16. Juli 1054 eine Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia nieder. Der Patriarch und seine Anhänger wurden damit exkommuniziert, der Kaiser und, wie es wörtlich hieß, die angesehenen Bürger Konstantinopels jedoch als rechtgläubig bezeichnet. Die päpstliche Delegation wollte den Kaiser auf ihrer Seite haben, auch damit Kerularios entmachtet würde. Der wiederum versuchte sich zu behaupten und hetzte das Volk gegen den Kaiser auf. Konstantin musste einer Gegenbannung der lateinischen Legaten zustimmen.
Erst in der Folgezeit verhärtete sich das »Morgenländische Schisma«, vor allem als römische Kreuzfahrer im Jahr 1204 Konstantinopel eroberten und plünderten. Die Kirchenspaltung dauert bis heute an. Immerhin wurde der wechselseitige Bann von 1054 während des Zweiten Vatikanischen Konzils am 7. Dezember 1965 zeitgleich in Rom und Istanbul in feierlicher Form »aus dem Gedächtnis und aus der Mitte der Kirche getilgt«; es solle »dem Vergessen anheimfallen«.
Leo IX. hatte den Eklat zwischen seinen Abgesandten und Michael Kerularios nicht mehr erlebt. Im März 1054 war er todkrank aus Benevent zurück nach Rom gereist. Er ließ sich in den Petersdom tragen, wo er am 19. April 1054 am Grab des Apostels Petrus starb. Die Ereignisse in Konstantinopel schadeten seinem Ruf nicht. Der Schutzpatron der Musiker und Organisten wurde schon bald nach seinem Tod als Heiliger verehrt.