Die Stunde des Joschka Ratzinger
Das Zweite Vatikanische Konzil sollte eine behutsame Erneuerung bringen. Das Gegenteil geschah. Das Konzil wurde zum 1968 der Kirche. Und nicht unschuldig daran war ein Provokateur aus Marktl am Inn.
Von Alexander Smoltczyk
Jedes Jahr, kurz vor Ostern, ruht im Vatikan der Betrieb, und der gesamte Kirchenstaat, vom Papst bis zum Boten der »Poste Vaticane«, treibt Exerzitien. Es wird gebetet, gesungen, disputiert, gebetet, nachgedacht, gefastet und wieder gebetet. Über Hierarchien und Herrschaftswissen hinweg, egal, was draußen vor den Mauern passiert: Zehn Tage lang geht die geistliche Weltmacht in sich und denkt einmal nur an sich.
So war es auch mit jenem Konzil, das am 11. Oktober 1962 mit einer Prozession der Würdenträger in den Petersdom eröffnet wurde. Es sollte ein Innehalten im Jahrtausendlauf der Kirche werden. Ein kollektives, drei Jahre währendes Nachdenken über Stand und Stellung der Universalkirche in der Gegenwart. Und eigentlich war auch alles schon vorbereitet, Vorpapiere abgesegnet, der Ausgleich zwischen Bewahrern und Erneuerern vorgezeichnet – da passierte etwas.
Das Konzil lief aus dem Ruder. Es entglitt den Hierarchen, entwickelte ein Eigenleben, und wenn das nicht das Wirken des Heiligen Geistes war, dann jedenfalls sorgte nicht zuletzt die Unbotmäßigkeit eines jungen Theologen dafür, den niemand auf dem Schirm hatte. Das »Vaticanum II« wurde zur Bühne des Joseph Ratzinger, einem Wortführer der Unbedingten und Radikalen im Wortsinne: jenen, denen es um die Wurzeln geht. Da wollte jemand die Erneuerung der Kirche, und zwar subito.
Was da an diesem sonnigen Oktobertag auf dem Petersplatz begann, wurde ein Ereignis, von dem sich die Kirche bis heute nicht erholt hat. Ein tiefes Luftholen, das Schwindel erzeugte, »ein Schock«, wie ebendieser Unruhestifter J. R. später, sehr viel später sagen würde. Das Vaticanum II ist das entscheidende kirchenpolitische Ereignis der Moderne, für Frankreichs Präsidenten Charles de Gaulle war es sogar »das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts«.
»Konzilien stellen für den neuzeitlichen Katholizismus die kollektiven Erinnerungsorte par excellence dar«, schreibt der Kirchengeschichtler Günther Wassilowsky. Hier wird kirchlicher Sinn konstruiert, gemeinsame Identität fundiert, künftiges Handeln motiviert: »Eine ganze Generation von Priestern traf ihre persönliche Berufungsentscheidung im Blick auf das Zweite Vaticanum.«
In vier Sitzungsperioden wurden 16 Jahrhundertdokumente disputiert, dekretiert und promulgiert. Jeder Stein des Denk- und Machtgebäudes umgedreht, ganz ähnlich, wie es nur wenige Jahre später der ebenso verknöcherten säkularen Welt ergehen sollte, draußen vor den Mauern des Vatikans. Das Konzil war das 1968 der katholischen Kirche.
Nach dem Konzil war die Kirche eine andere. Mit einem neuen Ritus, der allen Sprachen offenstand. Mit einer neuen Vergewisserung als »Gottesvolk«, der Gemeinschaft aller katholisch Getauften. Ohne den jahrhundertealten Vollkommenheitsdünkel. Zum ersten Mal wurde jedem Menschen seine Religion zugestanden und zum Dialog mit anderen Glaubenslehren angesetzt. Anstatt Verurteilungen, »anathemata«, auszusprechen, sollte überzeugt werden, durch die positive Darlegung des eigenen Glaubens und durch das Leben des Anderen.
Die verknöcherte, reaktionäre Kirche, die Demokratie und Aufklärung wie den Leibhaftigen fürchtete – sie war mit ihrem Latein am Ende. Öffnen sollte sich die Kirche, nicht abschotten, wenn alles um sie herum in religiöser Gleichgültigkeit versank. Es war eine kopernikanische Wende, bei der Rom eingestand, dass sich vielleicht der Himmel noch um den Petersdom drehte, aber nicht die Erde.
Die 3044 Köpfe zählende Teilnehmerliste des Konzils liest sich heute wie ein Gotha der katholischen Theologie. Es war der kirchliche Hochadel, der hier zusammenkam, mit Karl Rahner, Josef Frings, Julius Döpfner, den französischen Denkern Yves Congar und Marie-Dominique Chenu. Der Brasilianer Hélder Câmara, der künftige Paul VI. Giovanni Battista Montini und die Jesuiten Henri de Lubac und Augustin Bea, der spätere Schismatiker Marcel Lefebvre, und aus Krakau ein gewisser Karol Wojtyla. Frère Roger, der Gründer von Taizé, war als Beobachter geladen. Als »periti«, theologische Berater der Konzilsväter, kamen die damaligen Mittdreißiger Hans Küng und Joseph Ratzinger.
Mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs hatte das Erste Vatikanische Konzil im Oktober 1870 abgebrochen werden müssen und war vertagt worden. Nach knapp 100 Jahren gab es also, selbst für vatikanische Zeitauffassungen, eine gewisse Dringlichkeit, die Arbeit wieder aufzunehmen. Zumal inzwischen einiges in der Welt passiert war, unter anderem zwei Weltkriege und die Vernichtung der Juden, auch direkt unter dem Fenster des Papstes.
Pius XI. und Pius XII. hatten die Einberufung eines Konzils prüfen lassen, aber Pius XII. war im Kern zu sehr Gegenreformator, als dass er sich auf das Experiment eines »aggiornamento« einlassen wollte. Die Moderne war ihm zutiefst suspekt, einschließlich aller neuen Theologien.
Sein Nachfolger Johannes XXIII. dagegen hatte das Konzil schon drei Monate nach seiner Amtseinführung angekündigt, in einer kleinen Rede in St. Paul vor den Mauern vor den Kardinälen der römischen Kurie. »Es interessierte sie so wenig, als hätte er ihnen seine Wäscheliste vorgelesen«, beschrieb der Jesuit Peter Hebblethwaite die Szene.
Johannes XXIII. hielt Wort, auch wenn er ahnte, dass er selbst den Abschluss der Arbeiten wohl nicht mehr erleben würde. »Ehrwürdige Brüder«, begann er die Eröffnungssitzung. »Es jubelt die Mutter Kirche, weil durch besondere Gnade der göttlichen Vorsehung dieser hochersehnte Tag angebrochen ist.« Es gehe um den Schutz und die Verbreitung des Glaubens, es gehe um eine neue Epoche, einen Frühling, eine Öffnung der Kirche zur Welt, kurz: »un balzo innanzi«, um einen Sprung nach vorn.
Von dem, was dann geschah, hatte die göttliche Vorsehung den Organisatoren allerdings nichts mitgeteilt. Die real existierende Kirche jubelte jedenfalls nicht lange, sondern stand auf. Zunächst in der Person des Kardinals Achille Liénart aus der Arbeiterstadt Lille. Zweimal hatte er sich vergebens zu Wort gemeldet. Dann nahm er sich das Mikrofon: Frankreichs Bischöfe weigerten sich, die vorbereiteten Kommissionen einfach abzunicken. Schließlich kenne man diese Leute kaum.
Dann erhob sich der Kölner Kardinal Josef Frings und schloss sich den Franzosen an: So gehe es ja nicht. Hinter ihm saß sein Berater und Redenschreiber, Prof. Dr. theol. Ratzinger, Fundamentaltheologe in Bonn am Rhein. Er selbst, sagt Ratzinger, war zu Beginn zu unbedeutend, er habe »durch den Mund eines bedeutenden, bekannten Kardinals« sprechen müssen. Der damals 75-jährige Frings war einer der Mutigen gewesen in der Nazi-Zeit, er galt nicht einmal als Fortschrittlicher. Umso mehr hörte man auf ihn.
Es war, so erinnert sich Ratzinger, ein »Paukenschlag«, der den Ton für die weiteren Sitzungen bestimmte: »So gab es beim Konzil die Situation, dass die Konzilsväter mit dem Willen kamen, nicht einfach fertige Texte zu verabschieden und sozusagen nur Notarsarbeit zu tun, sondern ihrem eigenen Amt gemäß gemeinsam zu ringen um das Wort.«
In weiteren Reden, die Ratzinger für ihn, den fast Erblindeten, entworfen hatte, erklärte Frings den päpstlichen Text über die göttliche Offenbarung (»Dei verbum«) für ungeeignet und forderte, von Grund auf neu anzufangen mit der Diskussion. Außerdem müssten die Methoden des Heiligen Offiziums transparenter gemacht werden.
Die Väter staunten. Dann applaudierten sie trotz strengen Verbots und stimmten zu, erstaunt über die eigene Kühnheit. Es war, als hätten die Jusos den Leitantrag des SPD-Präsidiums in die Tonne geworfen und das Kommando über den Parteitag übernommen. Es regte sich ein Hauch Rebellion. Er und die anderen Bischöfe hatten, so Ratzinger, die »Hoffnung, nun sei doch auch eine neue Stunde des Christentums möglich«, der »Panzer« der Scholastik sei zu brechen.
Zum ersten Mal wurde auf einem Konzil nicht nur mit »Placet« oder »Non placet« abgenickt, sondern es wurde Theologie betrieben. Die Akten des Vaticanum II umfassen etwa zwei Regalmeter. »Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt …«, beginnt die erste Konstitution »Dei verbum«. »… hat die Zustimmung der Väter gefunden«, endet, mit einem spürbaren Seufzer der Erleichterung, die letzte Verordnung »Inter mirifica«.
Und die Akten wurden sofort veröffentlicht, auch dies eine kleine Revolution. Die Debatten des Vorgängerkonzils von Trient blieben drei Jahrhunderte lang verschlossen, um jegliche Diskussion zu vermeiden. Der letzte Band der kritischen Edition erschien erst im Jahr 2001. »Es entstand tatsächlich eine eigene Theologie des Konzils«, schreibt der Dogmengeschichtler Knut Wenzel.