1. Kapitel
An das furchtbare Verkehrschaos in New York City hatte sich Hanna Dubois in den letzten Wochen noch nicht gewöhnen können. Leider wusste sie auch nicht, wie das U-Bahn System funktionierte, denn bei den unzähligen Staus hätte sie sicher lieber die U-Bahn anstatt eines Taxis genommen, zumal ihr Fahrer gerade sein Lieblingslied entdeckt haben musste, da er die Lautstärke bis zum Anschlag aufdrehte und mitsang.
Hanna starrte auf die Papiere vor sich und blickte immer wieder auf ihre Uhr, während Übelkeit in Wellen über sie einbrach und ihr Kopf von den lautstarken Bollywood-Liedern dröhnte, die aus dem Autoradio drangen. Nicht ablenken lassen, redete sie sich selbst gut zu. Sie durfte das heutige Gespräch nicht vermasseln und durfte auf keinen Fall zu spät kommen, denn das war die schlimmste Charakterschwäche, die jemand haben konnte – jedenfalls hatte das ihre deutsche Großmutter immer wieder betont. Hannas Vater dagegen hatte auf Pünktlichkeit nie großen Wert gelegt und es lieber mit typisch französischer Lässigkeit gehalten. Dies bedeutete, dass er grundsätzlich einen Tag nach ihrem Geburtstag anrief, sich bei gemeinsamen Treffen verspätete und auch die Unterhaltszahlungen an ihre Mutter erst mit Verspätung abschickte. Es war kein Wunder, dass ihre Großmutter ihren Schwiegersohn nicht sonderlich hatte leiden können, der nicht nur immer selten erschienen war und unpünktlich kam, sondern auch die Scheidung eingereicht hatte, als Hanna gerade einmal zwei Jahre alt gewesen war.
„Miss, der Stau scheint sich da vorne aufzulösen.“ Der Taxifahrer, der den gleichen Akzent wie der indische Lebensmittelhändler Apu aus den Simpsons hatte, unterbrach ihre Gedankengänge über deutsche Pünktlichkeit und französische Unpünktlichkeit. Er schaute sie durch den Rückspiegel an und zwinkerte, bevor er dazu überging, das Lied voller Inbrunst mitzusingen.
„Oh … das ist ein Glück. Danke“, Hanna senkte den Kopf und versuchte, den Text noch einmal im Kopf durchzugehen, doch leider schweiften ihre Gedanken wieder ab. Verärgert über ihre Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, blendete sie die nervtötende Musik aus und starrte auf ihr Exposé, das sie eigentlich auswendig aufsagen können müsste.
Ihr Doktorvater aus England hatte ihr dieses Vorstellungsgespräch in New York verschafft und ihr damit einen großen Gefallen getan. Sie wollte diesen Job unbedingt haben. Es war ihre Traumstelle. Hanna hatte schon Jahre davon geträumt, einmal an dem renommierten Institut für amerikanische Außenpolitik der New York University lehren und forschen zu können und mit Prof. Stewart zusammenzuarbeiten, der eine Koryphäe auf diesem Gebiet war. Sie war furchtbar aufgeregt und nervös, schließlich hing von diesem Gespräch einfach alles ab. Vielleicht würde Prof. Stewart ihre Betreuung in der Schlussphase der Doktorarbeit übernehmen und sie an seiner aktuellen Forschung beteiligen lassen. Er entschied, wer das Stipendium der Gesellschaft für amerikanische Diplomatieforschung bekam, auf das sie angewiesen war, um hier leben zu können. New York nicht gerade billig. Außerdem wollte Hanna ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nicht auf der Tasche liegen, da sie ein Haus abbezahlen mussten und schon genug Sorgen wegen ihrer eigensinnigen Zwillinge Clara und Connor hatten.
Die Musik wurde immer schriller und rief in Hanna das Bild von indischen Schlangenbeschwörern, Turban tragenden Tänzern und kitschigen Filmen hervor, auf die ihre Mutter abfuhr und stundenlang sehen konnte.
„Miss? Sind Sie schon lange hier?“
Sie hätte ihn über den Lärm aus seinem Radio kaum verstanden und brüllte zurück: „Nein, erst ein paar Wochen.“
Lässig reichte er ihr eine Visitenkarte. „Mein Cousin hat ein indisches Lokal. Die besten Steaks von ganz New York.“
Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Steaks? Ich dachte, Kühe wären in Ihrer Religion heilig.“
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Was Shiva nicht weiß, macht Shiva nicht heiß.“
Sie verschluckte sich an einem entsetzten Lachen und senkte schnell wieder den Kopf. Mit ihren neunundzwanzig Jahren hatte Hanna ja schon viel gehört, aber das war ihr neu. Sechszehn Jahre hatte sie in England gelebt und kannte daher viele Inder, doch bislang hatte niemand von ihnen einen Burger über Shiva gestellt. Anscheinend gehörte diese Einstellung zu New York wie gelbe Taxis und schwule Friseure.
Hanna atmete durch und versuchte sich voll und ganz auf das kommende Gespräch zu konzentrieren. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie eigentlich noch genügend Zeit hatte, doch das verschlimmerte nur ihre Nervosität. Sie wollte es einfach hinter sich haben, in ihre neue Wohnung gehen, in der noch unzählige Kisten standen, auspacken und daheim ihre Familie und Freunde anrufen, denen sie von ihrem hoffentlich erfolgreichen Gespräch berichten konnte.
Das Taxi fuhr an und Hanna spähte aus dem Fenster, da sie den Stau endlich hinter sich gelassen hatten und nun mit normalem Tempo weiter fahren konnten. Sie blickte auf ihre Notizen und sah den Stichpunkt Nationale Sicherheitsstrategie. In Gedanken wollte sie alles Wissenswerte dazu wiederholen, als sie aus dem linken Augenwinkel einen riesigen, schwarzen Geländewagen sah, der das Taxi überholte, während sie gleichzeitig Blitzlichter wahrnahm.
Der Taxifahrer fluchte laut auf und bevor Hanna etwas sagen konnte, wurde das Taxi von hinten gerammt, schoss quer in Richtung Bürgersteig und wurde von einem stabilen Laternenmast gestoppt. Hanna schlug trotz des Sicherheitsgurtes mit dem Kopf gegen den Vordersitz und schrie auf. Während sie sich benommen wieder aufrichtete und ihren malträtierten Kopf betastete, hörte sie über die Musik hinweg Autos hupen und Bremsen quietschen, Menschen laut rufen und roch verbranntes Gummi.
„Miss, geht es Ihnen gut?“, krächzte der Taxifahrer fragend. Die Bollywood-Musik dröhnte weiterhin aus den Lautverstärkern und machte einer rolligen Katze Konkurrenz.
„Mit mir ist alles okay.“
Sofort zeterte der Fahrer los. „Verdammte Scheiße! Das ist mein vierter Unfall in sechs Monaten! Ich komme aus Neu Delhi, wo niemand eine Ampel oder ein Stoppschild kennt, aber da habe ich noch nie einen Unfall gehabt!“
Während er weiter über New York schimpfte, sah sich Hanna zitternd um, öffnete ihren Sicherheitsgurt, berührte die wunde Stelle am Hals, die der Gurt hinterlassen hatte, fuhr mit der Zunge über ihre schmerzenden Zähne und war damit beschäftigt, die verstreuten Notizen vom Boden des Taxis aufzusammeln, als die Tür links von ihr aufgerissen wurde.
„Scheiße! Ist Ihnen etwas passiert?“ Plötzlich ertönte eine dunkle und besorgte Stimme neben ihr. Hanna sah gar nicht auf, da sie in dem Papierhagel das Empfehlungsschreiben ihres Professors nicht finden konnte und innerlich furchtbar erschrocken war. Noch nie hatte sie einen Autounfall gehabt. Trotzdem hatte sie nur einen Gedanken: „Ich komme zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch – das ist passiert“, seufzte sie verärgert auf.
„Lassen Sie mich Ihnen helfen“, die Stimme schien nun beinahe belustigt.
Hanna drehte den Kopf und konnte das Gesicht des Mannes, der sich in das Taxi beugte, kaum erkennen, da die Sonne sie blendete und hinter ihm ständig Blitzlichter wie von Fotoapparaten aufleuchteten. Vermutlich hatte sie jetzt auch noch eine Gehirnerschütterung, überlegte sie frustriert. Weshalb sollte sie sonst ständig diese grellen Lichter wahrnehmen? Zeit für einen Krankenhausaufenthalt hatte sie jetzt sicher nicht, sondern sollte sich schleunigst auf das Gespräch konzentrieren. Dass ihre Hände wie verrückt zitterten, vereinfachte die Situation natürlich nicht.
„Sie haben schon genug getan“, blaffte sie deshalb laut los, um sich über die schrille Musik hinweg Gehör zu verschaffen. „Können Sie nicht aufpassen, wohin Sie fahren!“
„Miss!“ Der Taxifahrer sah sie benommen an und drehte den Kopf nach hinten. „Sagen Sie so etwas nicht!“
„Warum nicht!“ Hanna schaute den Taxifahrer, der ehrfürchtig den unbekannten Mann betrachtete, verwirrt an. Der Mann mit dem eindeutig schlechten Musikgeschmack presste ein Taschentuch gegen eine blutende Schramme an der Stirn, sah den unbekannten Unfallverursacher jedoch an, als sei dieser der Messias.
„Erkennen Sie ihn nicht? Das ist John Brennan!“
Verwirrter hätte Hanna nicht sein können. „Wer?“
„John Brennan!“ Der Taxifahrer schüttelte fassungslos den Kopf und schaltete endlich die Musik aus. „Er war Quarterback für die New York Titans und später für die Dallas Cowboys, aber hier in New York ist er ein Held, er hat den Superbowl im Jahre …“
„Guter Mann, keine Ahnung, wovon Sie reden, aber ich interessiere mich nicht für Baseball!“ Hanna runzelte die Stirn und bereute die Bewegung sofort, denn ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Schädel.
„Baseball?“ Der Taxifahrer würgte und schien beinahe zu ersticken, während der Unbekannte lauthals lachen musste. Hanna schaute wieder in seine Richtung und erkannte hellblonde Haare, braune Haut und strahlend blaue Augen, die vergnügt funkelten.
„Wunderbar! Erst fahren sie ein unschuldiges Taxi über den Haufen und jetzt lachen Sie sich auch noch kaputt!“ Sie schnaubte wie ein Dampfkessel und warf zornige Blicke in seine Richtung.
„Ich möchte Ihnen die Illusion nicht rauben, aber ich habe das Taxi nicht gerammt. Das war ein anderes Auto.“ Er wurde ernster und starrte auf ihre rechte Schläfe. „Sie bluten ja! Kommen Sie, ich fahre Sie ins Krankenhaus.“
„Nein! Das geht nicht …“
„Wenn Sie nicht versichert sind, übernehme ich die Rechnung.“
Hanna schüttelte hektisch den Kopf und bemerkte zum wiederholten Mal das schmerzhafte Pochen in ihrem Schädel. „Nein, ich muss unbedingt zu meinem Vorstellungsgespräch! Das darf ich nicht verpassen …“
„Sie sind verletzt und sollten sich untersuchen lassen.“ Er wollte nicht locker lassen, sondern klang sowohl besorgt als auch streng.
Hanna schnappte sich die letzten Papiere und stopfte sie in die Mappe, die sie ebenfalls auf dem Boden gefunden hatte. Wenn ihre Mutter gesehen hätte, wie sie achtlos die Papiere in die Mappe gestopft hatte, die nun sicherlich zerknittert waren und Eselohren aufwiesen, hätte es ein Donnerwetter gegeben, aber Hanna wollte einfach nur schleunigst aus dem Taxi heraus.
„In Ihrem Zustand …“
„Mir geht es wunderbar, ehrlich.“ Sie krabbelte in seine Richtung und griff nach seiner Hand, die er ihr höflich entgegenstreckte. Kaum stand sie auf ihren eigenen Füßen neben dem verbeulten Taxi, knickten ihre Knie ein und sie wäre vermutlich auf ihrem Hintern gelandet, wenn ihr nicht jemand wortwörtlich unter die Arme gegriffen hätte. Schwindelig und übel lehnte sie gegen eine starke Brust, hörte in ihrer Nähe das Klicken von Kameras und roch den angenehmen Geruch von sauberer Haut.
Benommen nahm sie wahr, dass der berühmte Baseballspieler im Befehlston Anweisungen nach einem Krankenwagen in die Runde brüllte und die Umstehenden aufforderte Platz zu machen.
Hanna spürte, wie sie vorsichtig zurück auf den Sitz gedrückt wurde, und öffnete langsam die Augen. Um sie herum standen unzählige Menschen, die mit ihren Handys Fotos machten, professionelle Kameras mit riesigen Objektiven in den Händen hielten oder einfach nur gafften. Hanna sah, dass in der unmittelbaren Nähe der schwarze Geländewagen stand, während ein weißer Kombi knapp hinter ihnen parkte, auf dem vorne Beulen und Schrammen zu sehen waren.
„Hey, John“, rief jemand aus der Menge. „Kann ich ein Autogramm haben?“
„Wie geht’s Ihnen?“ Der Mann kniete sich vor sie hin und betrachtete sie sorgenvoll, während er die Rufe hinter sich einfach ignorierte. Hanna starrte in ein freundliches und gut geschnittenes Gesicht mit blauen Augen, einer etwas zu kräftigen Nase, einem stark ausgeprägten Kiefer und einem breiten Mund. Eine widerspenstige, blonde Strähne fiel ihm in die Stirn, während seine Augenbrauen etwas dunkler waren, genau wie der Dreitagebart auf den schmalen Wangen.
„Nur etwas schwindelig“, krächzte sie und schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter.
„Wir brauchen Wasser“, er drehte den Kopf zur Seite und verlangte ein weiteres Mal nach Wasser. Sofort brachte ihm jemand eine kleine Flasche Wasser, die er dankend annahm und für Hanna aufschraubte.
„Es ist schon gut. Mir geht’s gut – ich brauche nichts, wirklich. Nur ein Taxi.“
Er schüttelte den Kopf und stellte die Flasche auf den Boden. „Wie heißen Sie?“
„Hanna. Hanna Dubois“, sie räusperte sich und hoffte, dass sie sich nicht würde übergeben müssen.
„Also gut, Hanna Dubois“, er starrte sie ein wenig finster an, was sie ihm jedoch keinen Moment abnahm. „Sie bluten, Ihnen ist schwindelig und Sie sehen aus, als ob Sie gleich ohnmächtig werden. Was Sie brauchen, ist ein Arzt und kein Taxi.“
Hanna starrte zurück und betrachtete den Mann, der einen hellgrünen Pulli und verwaschene Bluejeans trug. „Wie heißen Sie?“
„John Brennan.“
„Also gut, John Brennan“, sie ahmte seinen Ton nach, hob das Kinn an und starrte in seine dicht bewimperten, blauen Augen: „Zum Arzt kann ich auch noch etwas später gehen.“
„Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.“
„Natürlich sehe ich mitgenommen aus“, erwiderte sie scharf. „Sitzen Sie mal in einem Taxi, dessen Fahrer sich auf ein Bollywood-Casting vorbereitet und ihrem Gehör einen irreparablen Schaden zufügt, bevor das Taxi Bekanntschaft mit einer Laterne macht!“
Er starrte sie unverwandt an, bis er grinsen musste und zwei Grübchen in seinen Wangen erschienen. Komischerweise fühlte Hanna plötzlich akutes Herzrasen und Schmetterlinge in ihrem Bauch, die ganz sicher nicht vom Unfall kamen.
„Bollywood?“
„In voller Lautstärke.“ Hanna schluckte. „Ich habe ein Vorstellungsgespräch und muss unbedingt pünktlich sein.“
„Sie sind ganz schön stur, wissen Sie das?“
„Ja, das weiß ich.“ Sie sah ihn weiterhin an und erklärte lapidar: „Das macht meinen Charme aus.“
John hob amüsiert eine Augenbraue hoch, bevor er in seiner Hosentasche herumkramte und ihr anschließend ein Taschentuch reichte. Stirnrunzelnd nahm Hanna es und sah ihn fragend an. „Was soll ich damit?“
„Charme hin oder her – Sie sollten sich lieber das Blut von der Wange putzen, bevor Sie zu diesem Vorstellungsgespräch fahren.“
„Oh … danke.“ Hanna nahm es entgegen und versuchte, das teilweise schon trockene Blut von ihrer Wange zu putzen. Währenddessen starrte sie auf ihre Uhr und seufzte. Sie musste sich tatsächlich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig ankommen wollte.
„Wollen wir?“
Verwirrt starrte sie ihren Gegenüber an. „Wie bitte?“
„Ich fahre Sie zu Ihrem Vorstellungsgespräch und bringe Sie anschließend zu einem Arzt.“
„Das … das ist doch nicht nötig. Ich kann ein Taxi nehmen“, wehrte sie hastig ab und spürte, wie verlegene Röte in ihre Wangen kroch.
Seine Miene verzog sich ironisch. „Wir sind hier in New York City … da können Sie lange warten, um ein Taxi zu bekommen.“
„Aber ...“
Er hob beschwörend die Hand. „Kein Bollywood. Darauf haben Sie mein Ehrenwort.“
Als sie immer noch zögerte, seufzte er: „Außerdem bin ich nicht ganz unschuldig an Ihrer Misere und sollte Sie allein deshalb zu Ihrem Termin bringen.“
Während er sich erhob, glitt ihr Blick über seine hoch gewachsene Gestalt und endete bei seinen dunklen Chucks. „Wie meinen Sie das?“
„Ich bin zwar nicht in das Taxi hinein gefahren, aber die Paparazzi, die Sie gerammt haben, wollten mich fotografieren.“
Hanna verzog das Gesicht und erhob sich ebenfalls. Verstohlen glättete sie ihre Kleidung. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß er war, und kam sich selbst noch etwas kleiner vor als normalerweise, denn mit ihren 1,68 m war sie sicherlich keine Riesin. „Dann stimmt es, dass Sie ein berühmter Baseballspieler sind?“
Er grinste breit. „Football, um genau zu sein, aber ich spiele schon seit einiger Zeit nicht mehr.“
„Ich hab keine Ahnung von Baseball oder …?“
„Football“, half er höflich.
„Genau.“
Er lachte vor sich hin und hob ihre Tasche auf, die noch im Taxi gelegen hatte, bevor er dem lädierten Taxifahrer, der neben seinem Auto stand und mit dem schuldigen Fahrer des Geländewagens stritt, seine Visitenkarte gab, um den Schaden zu begleichen. Vorsichtig führte er sie zu seinem Auto, während er die herumstehenden Fotografen zu verscheuchen versuchte.
„John! Schauen Sie hierher!“
„Ein kurzes Interview? Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?“
Hanna war ziemlich überwältigt von der Masse an Fotografen, die schubsten und drängelten, Fragen riefen oder Kommentare abgaben. Irritiert senkte sie den Kopf und strich sich verlegen das zerzauste Haar hinter das Ohr. Sie presste die Mappe gegen ihre Jacke und war dankbar, als sie sich ins Auto setzen konnte, nachdem er ihr die Tür aufgehalten und hineingeholfen hatte.
„Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie nicht aus Amerika kommen.“
Hanna betrachtete ihn von der Seite, während er sich anschnallte und den Motor startete. Dass er sie fuhr, war unglaublich nett. Trotzdem verkrampfte sich Hanna ein wenig, schließlich kannte sie ihn nicht und fühlte sich von seiner überwältigenden Anwesenheit ziemlich gehemmt. Gespielt lässig fragte sie daher: „Wegen meiner Unkenntnis, was amerikanische Sportarten betrifft?“
Lächelnd schüttelte er den Kopf und fuhr an den aufgeregten Fotografen vorbei, die sich fast auf die Motorhaube stürzten und Fotos schossen. „Es liegt vielmehr an Ihrem englischen Akzent.“
Hanna war viel zu erschlagen von den aufdringlichen Pressemenschen, um etwas zu antworten. Entsetzt und doch gebannt folgte ihr Blick den aufgeregten Fotografen, die dem schneller werdenden Geländewagen hinterherliefen.
„Also? Sie kommen aus England?“ Ihm schien das Spektakel nichts auszumachen.
„Oh“, sie faltete die Hände in ihrem Schoß und riss sich von dem Blick nach draußen los. „Genau genommen bin ich keine Engländerin.“
„Sind Sie nicht?“
Sie konnte sehen, dass seine dunklen Augenbrauen hochzuckten, als sei er tatsächlich sehr überrascht.
„Nein, ich bin deutsch … oder halb deutsch und halb französisch. Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater ist Franzose.“ Sie atmete durch. „Aber ich habe seit meinem zwölften Lebensjahr in England gelebt und … entschuldigen Sie, wenn ich soviel rede, aber ich bin furchtbar nervös wegen meines Vorstellungsgesprächs.“
„Unsinn! Sie müssen sich doch nicht entschuldigen.“
„Ich rede zu viel, wenn ich nervös bin“, gestand sie verlegen.
Er grinste und warf ihr einen Blick zu. „Was ich total süß finde.“
Hanna errötete wie aufs Stichwort und schluckte, während sie schnell den Blick zurück auf die Mappe richtete.
Er fädelte sich in den Verkehr ein und fuhr rechts in eine Seitenstraße. „Worum geht es in Ihrem Gespräch?“
Hanna atmete tief durch, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. „Ich möchte bei einem Professor arbeiten und dort meine Dissertation beenden.“
„In welchem Fach?“
„Politikwissenschaft.“
„Ah, welche Richtung? Außen- oder Innenpolitik.“
„Außenpolitik.“ Sie war erstaunt, dass er ins Detail ging. Meistens wechselten ihre Gesprächspartner schnell das Thema, wenn es um ihr Fachgebiet ging. Obwohl Hanna es überhaupt nicht nachvollziehen konnte, galt Politik als langweilig.
„Erzählen Sie ein bisschen“, ermunterte er sie. „Worüber schreiben Sie?“
Hanna lehnte sich zurück: „Über die amerikanische Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg.“
„Interessant“, tatsächlich klang er interessiert. „Ein breites Feld. Sicherlich geht es hauptsächlich um den Kalten Krieg und deren Auswirkungen auf die amerikanische Realpolitik, oder?“
Sie blinzelte und starrte auf sein gutaussehendes Profil. „Ja, genau.“
Er lächelte ihr zu, was wieder zu Herzrasen und leider zu heftigem Erröten führte. „Suchen Sie einen Betreuer für Ihre Doktorarbeit?“
„In erster Linie geht es um ein Stipendium, das ich unbedingt haben möchte. Damit könnte ich hier problemlos arbeiten.“
„Sie werden es sicherlich bekommen.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
Er grinste und starrte aus der Windschutzscheibe nach vorne. Wieder erschienen tiefe Grübchen in seinen hageren Wangen. „Wer sich weder von indischen Taxifahrern, noch von aufdringlichen Paparazzi oder von ehemaligen Footballspielern einschüchtern lässt, sollte mit Professoren keine Probleme haben.“
„Ach“, erwiderte sie und musste trotz allem lächeln.
„Falls es Ihnen hilft: ich setze zehn Mäuse auf Sie.“
Hanna konnte nichts dagegen tun und prustete los, auch wenn es in ihrem Kopf schmerzhaft dröhnte. „Zehn Dollar? Da scheine ich keinen sehr großen Eindruck hinterlassen zu haben!“
„Hey“, wehrte er amüsiert ab. „Der einzige Professor, den ich kenne, ist Indiana Jones! Man wird sich doch noch absichern dürfen.“
„Erstens ist Indiana Jones Archäologe und zweitens hat der Mann eine Peitsche“, entgegnete Hanna grinsend. „Mein Professor ist eher Indiana Jones’ Vater. Ruhig, besonnen und süchtig nach englischem Tee.“
„Gut. Sagen wir also zwanzig Mäuse.“