Kapitel 36

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Das Virus? Das aus den Nachrichten?«, frage ich und greife nach Bensons Hand. Ich umklammere seine Finger so fest, dass ich weiß, es muss ihm wehtun, aber er beschwert sich nicht.

»Ich schätze, er hat noch zwölf bis achtzehn Stunden«, würgt Sammi heraus.

Ich schaue zu Mark hinüber – jetzt verstehe ich seine welke Haut, die tiefen Schatten unter den Augen, sogar die Anzeichen von Erschöpfung, die ich gesehen habe, bevor ich weglief; er stirbt.

Und dann, als ich gerade den Blick abwenden will, flackert er. Ich keuche auf.

Jetzt verstehe ich es. Ich sehe, was andere nicht sehen können, weil ich eine Erdgebundene bin. Die Reporterin im Fernsehen – wahrscheinlich tot oder todkrank. Die Frau, die mir das Pflaster gab: mit ziemlicher Sicherheit gestorben. Was ist mit dem Mann vor dem Süßigkeitengeschäft? Wenn Flackern der Virus ist, was ist dann komplettes Verschwinden? Ich schüttle den Gedanken ab; dafür ist jetzt keine Zeit. »Was hat das mit mir zu tun?«, frage ich bebend.

»Etwas hat sich verändert, als du diesen Flugzeugabsturz überlebt hast, Tave. Damals wollten sie dich töten – sie wollten es unbedingt. Und jetzt? Jetzt wollen sie dich haben

»Fast hätte ich es geglaubt«, brumme ich und denke an den Sonnenbrillentyp, der auf mich geschossen hat, das Auto, das mich beinahe erwischte, den ausgebrannten BMW vor dem Hotel.

»Glaub mir«, sagt Sammi, »wenn die Reduciata wirklich deinen Tod wollten, hätte dich das Auto in Bath nicht verfehlt. Sie sind keine Amateure. Das war kein gescheiterter Mordversuch; es war eine Botschaft – eine Warnung. Ich wünschte nur, ich wüsste, für wen sie bestimmt war. Sie wollen, dass du dich erinnerst, und dann werden sie versuchen, dich zu entführen. Und unsere Quellen sagen, es ist, weil du etwas über das Virus weißt.«

»Das stimmt aber nicht!«, protestiere ich.

»Tavia, Marks einzige Überlebenschance ist, dich wieder mit Quinn – Logan – zusammenzubringen, euch beide zu verbinden und dich wieder aufleben zu lassen. Hoffentlich wirst du dich dabei erinnern, wofür dich die Reduciata brauchen.«

»Aber ich kann nicht … ich …«

»Tavia, ich biete dir eine Chance, mit Logan zusammen zu sein. Mit achtzehn«, fügt sie hinzu, und ich höre einen fieberhaften Unterton in ihrer Stimme. »Ein ganzes Leben zusammen zu haben. Das wolltest du immer; warum kämpfst du gegen mich?«, fragt sie mich. Ihr Geduldsfaden wird dünner – sie hat überhaupt nicht mitbekommen, dass ich mein Leben vor nicht einmal einer Viertelstunde stattdessen Benson geschenkt habe.

Ich werde dieses Versprechen halten.

Irgendwie.

Sammi holt tief Luft und fährt sich mit den Fingern durch die kurzen Haare, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Auf uns wartet ein Privatjet; du kannst unterwegs schlafen und wir besorgen dir etwas Besseres zu essen.«

»Nein.« Meine Stimme scheint über die Lichtung zu dröhnen, und ich könnte schwören, ich höre Leute hinter den Bäumen rascheln.

Sammi erstarrt. »Was meinst du mit Nein? Du musst das tun. Und wir haben nicht mehr viel Zeit! Nicht nur Mark, sondern alle. Heute sind vierundsechzig Menschen an dem Virus gestorben und diese Zahl wird sich noch erhöhen.« Sie wedelt mit der Hand durch die Luft, zeigt auf nichts, auf die Welt, auf alles andere. »Ich weiß nicht, was genau die Reduciata von dir wollen, aber es muss etwas mit dem Virus zu tun haben; sonst würden sie dich einfach töten. Du verstehst das nicht – sie haben Pläne, etwas brodelt, und in den letzten Jahren haben sich ihre Methoden geändert. Sie bereiten sich vor …«

»Es ist mir egal!«, schreie ich und unterbreche endlich ihren Redestrom. »Was auch immer sie planen, ist nur ein Augenblick in Tausenden von Jahren Geschichte, Blutvergießen und Intrigen, und ich will raus!« Ich wende mich an Mark. »Es tut mir ehrlich leid, Mark, aber ich. Kann. Dir. Nicht. Helfen. Ich weiß nichts über das Virus.« Ich wende mich wieder Reese und Elizabeth zu. »Ich will nichts mit den Curatoria oder den Reduciata zu tun haben, und wenn du so ein Interesse daran hast, mir zu helfen, wie du sagst, dann wirst du das respektieren.« Meine Knie sind weich, aber ich zwinge mich, ruhig zu bleiben – den Anschein von Kontrolle aufrechtzuerhalten.

»Denk darüber nach, Tavia«, sagt Sammi und vermeidet es sorgfältig, Benson anzuschauen, als sie ihre Taktik ändert. »Das ist deine Chance, eine wahre Göttin zu sein und die Menschheit zu retten. Meinst du nicht, nach deinem Fluch ist das die ultimative Wiedergutmachung? Außerdem ist es deine Gelegenheit, ein ganzes Leben mit deinem Partner zu leben. Du wirst das doch nicht aufgeben, um ein paar Jahre mit einem Kerl zu verbringen, den du gerade erst kennengelernt hast?«

»Nichts für ungut«, murmelt Mark ironisch.

»Um den heißen Brei herumzureden, hilft keinem«, gibt Sammi zurück, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Glaubst du, du kannst die Tausende von Jahren Sehnsucht und Liebe bekämpfen, an die du dich jeden Tag mehr erinnern wirst? Und warum solltest du das wollen, wenn du mit ihm zusammen sein und etwas tun kannst, um die Reduciata aufzuhalten?«

»Du kannst mich nicht dazu zwingen, mich in jemanden zu verlieben, nur weil es das Schicksal so will«, argumentiere ich, doch mein Magen fühlt sich hohl an, während ich versuche, die Schuldgefühle zu unterdrücken. Aber ich kann nicht die Heldin sein, für die sie mich halten! Ich weiß nichts über dieses Virus!

»Nein«, sagt Sammi leise. »Das kann ich nicht.« Dann zeigt sie auf meinen Kopf. »Aber sie können es. Die Hunderte von Frauen in dir, Hunderte von Frauen, die ihn lieben. Und sie werden stärker und lauter werden, bis du den Tag verfluchst, an dem du nicht in Logans Arme gelaufen bist, als du die Chance dazu hattest. Das ist ganz einfach die Realität. Glaubst du, du seist die erste Erdgebundene, die ein eigenes Leben hatte, bevor ihre Erinnerungen erwachten? Die Leute, die ich gesehen habe, die Tagebücher, die ich gelesen habe – du kannst nicht dagegen ankämpfen, Tave. Und bis du das gemerkt hast, wirst du tot sein, der Großteil der Menschheit wird ausgerottet sein, und es wird zu spät sein. Denk bitte gut darüber nach.«

Ich starre sie trotzig an, und sie starrt zurück: ihr Blick aus Wut und Angst scharf wie ein Rasiermesser.

Sie lügt nicht – zumindest sagt sie, was sie für die Wahrheit hält.

Doch die Wahrheit liegt, genau wie die Schönheit, im Auge des Betrachters.

»Tavia.« Bensons Stimme ist leise und schwach, aber sie vibriert mitten in meiner Brust. »Vielleicht hat sie recht.«

»Nein, Benson, hat sie nicht!« Ich drehe mich zu ihm um, und er nimmt mein Gesicht in seine Hände, hält meine Wangen, sein Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt.

»Ich bleibe, so lange du willst«, sagt er in einem Flüsterton, der nur für mich bestimmt ist. »Aber dieses Virus wird die Welt vernichten. Und wenn du der Schlüssel dazu bist, es zu stoppen – dann musst du diese Chance ergreifen. Wenn sie recht hat, wirst du diese Entscheidung eines Tages bereuen. Ich weiß, wie sich das anfühlt, und … Ich weiß nicht, ob ich damit klarkommen würde.«

»Ich glaube nicht, dass sie recht hat«, widerspreche ich. »Ich weiß gar nichts! Und ich glaube auch nicht, dass Rebecca etwas weiß.«

»Ist es das Risiko wert?«

»Ja«, beharre ich, und ich mache mir nicht die Mühe zu flüstern – es ist mir egal, ob sie es hören. »Benson, jeder Mensch, den ich je in meinem Leben geliebt habe, wurde mir entweder durch den Tod oder durch Verrat entrissen«, sage ich und zeige zu den Menschen, die ich als Reese und Jay lieben gelernt hatte. »Die Chance, meinen eigenen Herzenswunsch zu erfüllen und mit dem Menschen zusammen zu sein, den ich will, ist es wert.« Das ist meine Wahrheit; er ist meine Wahrheit.

Sammi blinzelt, ausnahmsweise ist sie ruhig. »Tavia, ich wollte das eigentlich nicht auch noch auf den Tisch bringen, aber du musst dich mit deinem Partner wiedervereinigen«, sagt sie rundheraus. »Oder ihr werdet beide sterben. Für immer.«

»Wovon sprichst du?«, will ich wissen. Ich trete mit erhobenem Kinn vor. »Ich bin eine Erdgebundene. Meine Seele ist unsterblich und für alle Zeit an diese Erde gebunden.« Wieder Rebeccas Stimme. Ich schiebe sie nicht weg; sie weiß, wovon sie spricht.

»Das haben wir Tausende von Jahren geglaubt«, erwidert Sammi. »Aber dank eines Reduciata-Erdgebundenen, der vor ein paar Jahrzehnten zu uns gekommen ist, haben wir herausgefunden, dass es nicht ganz stimmt. Wir haben versucht, es unter Verschluss zu halten, aber du musst die Wahrheit hören.«

Ich fühle mich wacklig und muss mich an Bensons Brust lehnen, um aufrecht zu bleiben. Wenn ich mich auch nicht an alle meine Leben erinnern kann – eigentlich sogar an keines meiner Leben –, spüre ich ein Fundament der Wahrheit, das Tausende, vielleicht Millionen Jahre zurückreicht, dass es immer einen nächsten Tag geben wird, ein weiteres Leben, noch eine Chance, es besser zu machen, besser zu sein. Allein der Hinweis, dass diese Wahrheit in Gefahr sein könnte, erschüttert mich bis ins Mark. »Meine Existenz hängt von der Wahl meines Freundes ab?«, blaffe ich, und meine Stimme trieft vor Unglauben.

Sammi schaut mich seltsam an, während Elizabeth vortritt. »Du erinnerst dich nicht, warum du ihn finden musst, oder?«

Ich habe Angst zu antworten, vor ihnen dumm und unselbstständig zu wirken. »Es geht hier nicht um Liebe, Tave. Es geht um Leben und Tod – deinen Fluch.«

»Weil ich Menschen geschaffen habe?«, frage ich zitternd.

Elizabeth nickt. »Du weißt, dass die Dinge, die du erschaffst, in ungefähr fünf Minuten verschwinden? Wenn du wieder mit Quinn in Verbindung bist, werden sie bleiben.«

»Was eigentlich der am wenigsten wichtige Teil ist«, fügt Sammi hinzu. »Die Mächte der Erdgebundenen sind wie …« Sie zögert. »Wie kann ich es am besten erklären? Sie sind wie eine Batterie. Und jedes Leben, in dem ihr euch findet, lädt diese Batterie auf. Eure Kräfte werden nicht nur bleiben, sondern auch stärker werden. Und durch jedes Leben, in dem ihr euch nicht verbindet, werden sie schwächer.« Sie wirft Mark einen Blick zu und die Furcht in ihren Augen gefällt mir nicht. Keine Angst um mich, sondern Angst vor mir. Sie hat Angst, es mir zu sagen. Angst davor, was ich tun werde. »Und wie Batterien sind sie irgendwann aufgebraucht.«

»Nein«, sage ich ablehnend. »Wir existieren seit Anbeginn der Zeit. Wir sind nicht einfach irgendwann aufgebraucht

»Doch. Wenn zu viele Lebenszeiten vorübergehen.«

Ich sage nichts.

Es ist unmöglich.

»Jahrhundertelang haben wir geglaubt, dass die Reduciata von Gier getrieben werden – hauptsächlich von Machtstreben. Das stimmt zwar, aber es ist schlimmer, als wir dachten. Beide Bruderschaften führen akribisch Buch. Die Reduciata haben es als Erstes entdeckt, aber wir haben schnell die Bestätigung gefunden. Erdgebundene besitzen eine Art endliche Kraftquelle, und es braucht sehr viel von dieser Macht, um wiedergeboren zu werden. Wenn sie ihren Partner über lange Zeiträume nicht finden – und diese Quelle auffüllen –, geht ihnen irgendwann die nötige Energie aus, damit ihre Seele … wandern kann.«

Ich strecke die Hände aus, als könnte ich sie zum Schweigen bringen. Als wäre es nicht wahr, wenn sie es einfach nicht ausspräche.

»Irgendwann bist du dann also, wenn du stirbst, wirklich tot. Genau wie wir anderen«, fügt sie flüsternd hinzu. Als ich nichts sage, fährt sie fort, wahrscheinlich, um das unbehagliche Schweigen zu füllen, aber vielleicht auch aus einem anderen Grund. »Das versuchen die Reduciata. Sie glauben, wenn sie genug Erdgebundene-Paare töten, wird ihre Macht auf die übrig gebliebenen Götter übergehen. Sie versuchen, sich die Macht zurückzuholen, mit der die Erdgestalter – das waren die Erdgebundenen vor dem Fall – ursprünglich ausgestattet waren. Und sie haben ihren Job schon ziemlich gut gemacht.«

»Wie viele?«, flüstere ich.

»Wie viele was?«

»Wie viele Lebensspannen?«

Sammi zögert. »Sieben.«

Die Rechnung geht auf. Zweihundert Jahre, seit ich mit Quinn zusammen war. »Dies ist mein siebtes Leben, oder?«

Sammi nickt.

»Und Logans?« In meinem Kopf ist er schon zu seinem neuen Selbst, seinem neuen Namen übergegangen.

»Soweit wir wissen, auch seines«, bestätigt Sammi.

Die Botschaft ist brutal und eindeutig: Wenn ich mit Benson durchbrenne, enden Logan und ich beide, sobald wir sterben.

Und vielleicht geht die Welt mit uns unter.

Vor fünf Minuten dachte ich noch, ich würde alles für die Liebe aufgeben – aber jetzt? Werde ich die Liebe aufgeben müssen, um die Welt zu retten?

Ich lasse den Kopf hängen und Sammi interpretiert es als Zugeständnis. »Du wirst es nicht bereuen«, sagt sie, und in ihrer Stimme flackert Aufregung.

Bevor ich ihr widersprechen kann, sucht sie eine Weile in ihrer Aktentasche herum, dann kommt sie mit etwas zwischen den Händen auf mich zu. »Als ich dich kennengelernt habe«, beginnt sie, »als du Sonya warst, hattest du solche Angst vor uns. Vor allem Angst, von den Reduciata entdeckt zu werden. Und dann, als du erfahren hast, dass Darius getötet wurde, da … da wolltest du dich nicht an dieses Leben erinnern müssen. Nie wieder. Du wolltest uns nichts geben, womit wir deine Erinnerung wecken konnten, hast uns nie mehr als das absolut Notwendige erzählt. Aber eines Tages kam ich herein, und du hattest auf dem Boden gelegen und gelesen und unbewusst die Kante des Teppichs geflochten. Es war nicht viel, aber genau genommen hast du es gemacht.«

»Du meinst, ich habe es mit meinen Kräften gemacht?«, frage ich verständnislos.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich sage dir seit Monaten, dass eine Künstlerin zu sein ein Teil deines Wesens ist. Du musst nichts Übernatürliches machen, um etwas zu schaffen, das dir zu erinnern hilft – oder was bliebe Zerstörern sonst? Du musst es nur machen. Normalerweise in Form von Kunst, Malerei, Bildhauerei oder« – sie zeigt auf meine Halskette – »Schmuck. So einfach es ist – ich bin mir sicher, dieses Stück Teppich zählt. Ich habe beide Enden zusammengebunden und die geflochtene Teppichfranse abgeschnitten. Ich habe sie nicht für besonders wichtig gehalten; ein Erinnerungs-Sog durch eine Schöpfung aus irgendeinem deiner Leben müsste eigentlich alle anderen Erinnerungen auch wiederherstellen. Aber ich habe es trotzdem zur Sicherheit aufgehoben. Und jetzt?« Sie hebt die Wimpern und zeigt eindringliche blaue Augen. »Ich weiß nicht, ob du dich an dieses Leben erinnern willst oder nicht. Was auch passiert ist, das dich so paranoid gemacht hat – du hast es uns nicht erzählt. Vielleicht bleibt es besser vergraben. Aber ich denke, diese Wahl solltest du für dich selbst treffen.«

Ich habe Angst, die Hand auszustrecken, aber ich muss es auch nicht. Sammi schüttelt schon den Kopf.

»Fass es nicht an«, sagt sie. »Schau es nicht einmal an. Erst, wenn du beschließt, dass du es willst. Diese Erinnerungen sind vielleicht irgendwo in deinem Kopf – aber wenn Elizabeth recht hat, brauchst du das hier vielleicht, um Sonyas Erinnerungen zurückzubekommen. Ich stecke es hier hinein.« Sie schiebt einen Plastikbeutel in eine kleine Seitentasche meines Rucksacks. »Jetzt liegt es an dir.« Dann, bevor ich ihr Geständnis überhaupt verarbeiten kann, geht sie.

»Ich rufe den Pilot und lasse ihn die Startvorbereitungen treffen. Schnapp dir, was du mitnehmen willst, aus dem Auto, das ihr geliehen habt«, ruft sie über die Schulter zurück. »Wir lassen es hier. Vielleicht findet es seinen Weg nach Hause.«

Ich drehe mich zu Benson um und lehne die Stirn an seine Schulter, ziehe Kraft aus ihm, während er die Arme um mich legt und mich an sich zieht. Ich habe das Gefühl, als hätte mein Körper keine Energie mehr nach allem, was ich heute gehört und gelernt habe.

Ach, was sage ich: in den ganzen letzten Tagen.

Er ist meine Verbindung zur Realität. Nein, mehr als das – zu meiner geistigen Gesundheit.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gebe ich zu, die Lippen dicht an seinem Ohr.

»Fangen wir damit an, deine Sachen einzusammeln«, flüstert er. »So bist du bereit, wenn du weglaufen willst. Aber« – er zögert – »wenn du es wirklich immer noch willst, ist es am besten, wir gehen heute Abend mit ihnen und laufen morgen weg. Wenigstens sind wir dann Tausende Kilometer weit weg.«

»Verzeih mir, wenn ich deine Zuversicht nicht teile, dass ein Flugzeug uns sicher irgendwo hinbringen wird«, sage ich düster.

Er drückt verstehend meine Hand, bevor er sich zur Mittelkonsole vorbeugt und sein Handy hervorholt. Einen Moment blickt er darauf, dann wird sein Gesichtsausdruck hart, und er wirft es, so weit er kann, zwischen die Bäume.

Ich belausche Sammi, während ich meinen Rucksack zum Bersten mit all den Dingen aus der Erdhöhle und den Tagebüchern vom Vordersitz fülle. Ich schaue auf, als Mark flucht. Er starrt auf sein klingelndes Telefon, geht aber nicht ran. »Es ist schon wieder Daniel. Irgendwann werde ich rangehen müssen. Was soll ich ihm sagen?«

»Alles, nur nicht die Wahrheit«, sagt Sammi ironisch.

»Wer ist Daniel?«, frage ich. Ich erinnere mich an den Namen aus dem Gespräch in ihrem Schlafzimmer wieder, das ich belauscht habe.

Auch ein Gespräch, in dem es darum ging, die Wahrheit vor diesem Daniel zu verbergen.

»Ein hohes Tier bei den Curatoria«, antwortet Elizabeth für Sammi.

Mein Herz hämmert warnend. »Warum vertraut ihr ihm dann nicht?«

Die drei Erwachsenen werfen sich Blicke zu und sagen nichts.

»Oh bitte«, sage ich so bitter, dass alle drei die Köpfe zu mir herumreißen. »Wir sind in dieses Schlamassel geraten, weil ihr nicht mit mir reden wolltet. Habt ihr nichts dazugelernt?«

Sammi nickt und winkt mich näher. »Wir sind auf Anzeichen von Korruption gestoßen, sozusagen … unter den höheren Chargen der Curatoria. Vor allem, was deinen Fall angeht.«

Ich denke an den Sonnenbrillentyp, ganz zu schweigen von allem anderen, was seither passiert ist. Ich war sicher, es seien Reduciata-Mörder, und Sammi deutete das auch an. Haben wir uns beide geirrt? Ich knirsche mit den Zähnen und wünsche mir, ich könnte mich erinnern, was ich laut den Reduciata wissen soll – um was auch immer es sich handelt.

»Also versuchen wir, nur um sicherzugehen, unsere Pläne so weit wie möglich vor ihnen geheim zu halten. Sogar die sechs Bewaffneten, die ich mitgebracht habe«, sagt sie mit einer Geste zu den Bäumen hin, »sind alte Freunde meines Vaters, die wissen, wie man seinen Vorgesetzten etwas verschweigt. Wir könnten mit alledem auch falschliegen«, beeilt sich Sammi hinzuzufügen. »Aber wir wollen dich nicht in Gefahr bringen.«

Ich schlucke; Quinns Worte hallen in meinem Kopf wider. Vertraut den Curatoria, doch nur mit Vorsicht. Mit Vorsicht, allerdings. Anscheinend trauen sie sich gegenseitig auch nicht besonders weit über den Weg.

»Lasst uns hier verschwinden«, sagt Sammi und macht ihren versteckten Leibwächtern ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Nein.«

Das Wort ist leise, beinahe unhörbar, aber Sammi hört es.

»Tavia …«

»Nein.« Jetzt sage ich es lauter. Ich halte ihr die Akten hin. »Danke dafür, aber ich werde nicht euer Pfand sein.«

»Darum geht es nicht.«

»Das ist egal. Ich muss diese Entscheidung selbst treffen. Und das heißt, ich gehe heute Abend nicht mit euch. Das heißt nicht, dass ich euch nicht in Sachen Virus helfen werde«, füge ich hinzu, bevor sie etwas sagen kann. »Aber Tatsache ist: Ich traue den Curatoria nicht.«

»Tavia«, fängt Sammi an. »Ich will dich nicht zwingen müssen. Ich …«

»Lass mich gehen, und ich verspreche dir, du wirst wieder von mir hören. Und zwar bald. Ein Zeichen des guten Willens«, sage ich mit Herausforderung im Blick. »Aber wenn ihr versucht …« Eine Bewegung hinter ihrer Schulter fällt mir ins Auge, und ich keuche beinahe auf, als ich merke, dass es Quinn ist.

Die Vision von Quinn – nicht der echte Quinn.

Er trägt nicht den Mantel und den Hut, die er trug, als ich ihn das erste Mal sah, und doch wirkt er so dicht neben dem Honda fehl am Platz.

Er schaut nicht mich an; er blickt finster den Weg entlang, auf dem wir vor Stunden hergefahren sind.

Ich fühle mich wie in Zement gegossen. Benson zieht mich weg und sagt etwas, aber ich bin taub für seine Worte und stehe mit offenem Mund da.

Quinn macht einen halben Schritt vorwärts und hebt das Kinn wieder mit demselben forschenden Blick in Richtung des Weges. Dann, ohne Vorwarnung, reißt er den Kopf herum, und sein finsterer Blick ist den Bruchteil einer Sekunde auf mich gerichtet, bevor er verblasst und verschwindet.

Und ich verstehe.

Wir sind zu lange geblieben.

»Sie sind hier«, flüstere ich, und mein Kopf ruckt in die Richtung, in die Quinn so finster gestarrt hat.

Jede Bewegung erstarrt – alle sind still.

»Sie sind hier!«, schreie ich, als ein vergessener Instinkt die Oberhand gewinnt. Ich höre nur ein scharfes Knacken, sehe ein blendendes Licht, bevor ich in eine Explosion von glühender Hitze und sengenden Flammen eingehüllt werde.