Kapitel 27

53455.jpg

Die Tür steht immer noch offen. Genau wie ich sie zurückgelassen habe.

»Siehst du?«, sagt Benson, als ich darauf hinweise. »Er ist so was von ein Geist. Kann nichts anfassen.«

»Von mir aus«, sage ich, denn ich will ihn nicht noch ermutigen. Benson ist unerträglich, wenn er weiß, dass er recht hat.

Und das hat er normalerweise.

Aber das liebe ich an ihm.

Liebe? Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken.

»Glaubst du, hier ist sonst noch jemand?«, frage ich flüsternd – als würden wir auf heiligen Boden vordringen.

»Keine Fußabdrücke«, bemerkt Benson. »Und es hat mitten in der Nacht aufgehört zu schneien. Wenn sie also nicht hereingeschlichen sind, direkt nachdem du gegangen bist, denke ich, wir sind sicher.«

»Wir bleiben nicht lang«, sage ich und ziehe meinen Mantel enger um mich.

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden«, sagt Benson trocken.

Ich will durch die offene Tür schlüpfen, doch Benson hält mich auf und untersucht stattdessen den Schließmechanismus. »Das ist echt genial«, sagt er, als ich erkläre, wie er funktioniert. »Es ist wie ein Kombinationsschloss. Dieser Quinn ist – war – schlau.«

Ich werde rot. Wieso fühlt es sich an, als gelte das Kompliment mir?

Aus einer Kuriertasche, die er um die Schulter hängen hat, zieht Benson die riesige Taschenlampe, die wir vor einer halben Stunde gekauft haben. So viel besser als mein armseliges Handylicht.

Das Handy, das hundertdreißig Kilometer entfernt in Einzelteilen auf einem Gehweg liegt. Wahrscheinlich auch noch von einem Ziegelstein zerquetscht. Dieser winzige, einfache Gedanke nimmt mir teilweise die Angst, wenn auch nur ein bisschen.

Der unangenehm feuchte Geruch trifft mich, sobald wir die kleine Höhle betreten. Mit ihm kommen die Erinnerungen an letzte Nacht in erschreckender Klarheit – Quinns Gesicht, das nicht im Mindesten geisterhaft aussieht, dicht vor meinem. »Hey, sollten Geister nicht durchsichtig sein?«, frage ich, während Benson mit der Taschenlampe herumleuchtet.

»Ich glaube nicht, dass das irgendwer sicher weiß.«

»Er sah so real aus«, sage ich, und die Sehnsucht in meiner Stimme ist mir ein bisschen peinlich.

»Komm mal hier herüber«, sagt Benson und winkt mich zu sich an den Tisch, wo ich das Tagebuch gefunden habe.

»Bilder«, keuche ich, als er ein paar eingerollte Blatt Papier umdreht. »Ich habe nicht viel ausgekundschaftet, als ich gestern Nacht hier unten war.« Es sind kleine, flüchtige Aquarellskizzen von Quinn, wie ich ihn noch nie vorher gesehen habe; er lächelt den Künstler an, das Haar lose und zerzaust, oder blickt nachdenklich in die Flammen einer gemütlichen Feuerstelle. Mir stockt der Atem, als Benson das letzte umdreht.

Quinn mit einer Frau.

Es porträtiert die beiden von hinten, Hand in Hand. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, nur eine große, schmale Gestalt und braune, zum Zopf gebundene Haare. Eine heftige Eifersucht, die überhaupt keinen Sinn ergibt, spült über mich hinweg, erfüllt mich mit einer merkwürdigen Feindseligkeit, die mir Übelkeit verursacht.

»Rebecca?«, vermutet Benson über meine Schulter hinweg.

Ich schlucke trocken und antworte mit schwacher Stimme: »Wahrscheinlich.« Ich habe nie verstanden, was es bedeutet, jemanden wirklich zu hassen, aber als ich auf dieses Bild starre und meine Finger die Ecken so fest umfassen, dass sie weiß werden, denke ich, so muss es sich wohl anfühlen.

»Ach, du meine Scheiße!« Benson hält eine schmutzige Münze hoch und pustet ein bisschen Staub herunter. »Da ist ein ganzer Haufen davon.«

»Nimm sie«, sage ich. »Ich finde, das ist mir Quinn schuldig, nachdem er mein Leben zerstört hat.«

Während Benson überlegt, wie viel Werte diese Höhle wohl birgt, fange ich an, mich umzusehen. »Meinst du, wir können deine Taschenlampe benutzen, um diese Kisten hier aufzubrechen?«, frage ich.

»Warum machst du nicht einfach eine Brechstange?«, schlägt Benson vor.

Ich atme tief ein. Es mag abergläubisch klingen, aber jedes Mal, wenn ich meine Kräfte benutze, passiert etwas Schlimmes. Aber was soll ich sonst tun? Benson bitten, mit bloßen Händen den Deckel abzureißen?

Meine Finger beben, als ich die Hand hebe und mir das Werkzeug in meiner Hand vorstelle. Einen Augenblick später halte ich ein ziemlich kurzes Brecheisen in der Hand. Ich wende den Blick ab, als Benson es mir abnimmt. Danach ist es eine Sache von Sekunden, bis er den Deckel aufgestemmt hat.

Wir knien uns beide hin, um in die Kiste zu spähen.

»Nett«, sagt Benson und hebt einen schweren Beutel hoch, der metallisch klingelt. Ein rascher Blick hinein und er pfeift. »Mann, dieser Quinn war echt stinkreich!«

»Gib her!«, schelte ich und reiße ihn ihm aus der Hand. »Wir sind keine Grabräuber.«

»Das hier ist kein Grab«, sagt Benson. »Und dieser Beutel ist bestimmt eine fünfstellige Summe wert. Mindestens.« Er grinst. »Denk mal darüber nach, wie viel Benzin und Studentenfutter wir uns davon leisten können.«

Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu und lege den Beutel neben mich auf den Boden.

Allerdings liebe ich Studentenfutter …

»Ooh, schau dir das an!«, sage ich und ziehe ein Buch heraus, in dessen Ledereinband das vertraute Dreieck eingeprägt ist. »Hier ist noch ein Tagebuch.« Ich schlage es auf und erwarte Rebeccas blumige Schrift, aber eine klare, maskuline Handschrift springt mir ins Auge. »Ich glaube, das war Quinns.«

Auf der ersten Seite steht kein Name, aber die zweite Seite trägt eine Liste von Namen und Daten, mit Quinns Namen an der Spitze. Es gibt keine sich wiederholenden Nachnamen, und es scheint kein Muster zu geben – allerdings gehen sie zurück bis 1568. Dann gibt es noch drei Namen ohne Datum.

Ich blättere um und halte das Buch auf Armeslänge von mir, als mich Worte anspringen, die dreimal so groß sind wie die gewissenhafte Liste auf der vorherigen Seite.

Wenn du kein Freund bist, dann mögen die Götter deiner armen Seele gnädig sein, solltest du weiterlesen.

Mit großen Augen lese ich die Worte ein zweites Mal. »Benson?«

»Hier drin ist noch ein Gemälde und eine Taschenuhr. Abgefahren.«

»Benson?«

»Hey, auf diesem Bild ist ein Haus. Was willst du wetten, dass es das …«

»Benson!«

Er blickt auf und ich drehe das Buch zu ihm um. »Bin ich eine Freundin?« Eine Freundin eines Geistes?

Benson zieht eine Augenbraue hoch. »Glaubst du, das ist wirklich wichtig? Er ist tot.«

»Er sucht mich schon seit einer Woche heim!«, entgegne ich schrill, auch wenn heimsuchen eigentlich nicht das richtige Wort dafür ist.

Dennoch erstarrt Benson. »Da hast du auch wieder recht.« Er schürzt die Lippen. »Er hat dir die Kombination gezeigt. Ich glaube, das ist ein ziemlich gutes Zeichen, dass es ihm nichts ausmacht, wenn du das liest.«

Ich nicke, aber das Adrenalin lässt meine Finger zittern, als ich umblättere und die Schrift wieder normal groß ist.

Ich bin Quinn Avery. Ich bin ein Erdgebundener. Ich bin ein Schöpfer. Wenn Ihr diese Worte lest, bete ich, Ihr möget ein treuer Freund oder meine eigene Wiedergeburt sein. In dieser Truhe findet Ihr die Werkzeuge, die notwendig sind, um mich wiederherzustellen. Doch wenn Ihr das habt, sucht und findet Rebecca. Nichts auf dieser weiten Welt ist von größerer Wichtigkeit. Findet sie. Gebt ihr die Halskette.

»Rebecca.« Ich flüstere ihren Namen leise, er brennt auf meiner Zunge. Er will, dass ich sie finde? Ihren Geist, nehme ich an. Warum? Damit sie bis an ihr Ende glücklich und als Geister zusammenleben können? Ich zwinge meine Finger, sich zu entspannen, als mir bewusst wird, dass ich das Tagebuch so fest umklammere, dass ich schon anfange, die Buchdeckel zu verbiegen.

»Das heißt also …« Benson zögert. »Du hattest recht. Er ist auch ein Erdgebundener. War. Du weißt schon.«

Ich ignoriere die unausgesprochene Aussage, dass ich folglich auch eine Erdgebundene bin. Ich weiß nicht, was das heißt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit bin, es herauszufinden.

»Ich frage mich, ob sein Zeug auch verschwindet«, sinniere ich leise.

»Na ja, wenn du Quinns Geist das nächste Mal siehst, solltest du ihn fragen«, sagt Benson und späht wieder in die Kiste.

»Er beantwortet keine Fragen«, sage ich und blättere das Tagebuch durch, nur um festzustellen, dass es nach den ersten ungefähr zehn Seiten leer ist.

»Du sagtest, du hättest Gespräche mit ihm geführt.«

»Ich dachte, es wären Gespräche, aber alles, was er je zu mir gesagt hat, finde ich in Rebeccas Tagebuch. Es ist, als …« Ich lasse das Tagebuch in den Schoß sinken. »Als sei er weniger ein Geist als vielmehr ein Echo der Vergangenheit. Ich glaube, deshalb hat er mich Becca genannt, obwohl ich ihm gesagt habe, mein Name sei Tavia.« Ich weiß noch, wie wütend mich das gemacht hat. Jetzt fühle ich mich seltsam apathisch.

Kurz denke ich darüber nach, was das über mich aussagt, aber ich habe zu viele andere Fragen, die zuerst beantwortet werden wollen. Wichtigere Fragen. Viel wichtigere.

Ich wende mich wieder dem Tagebuch zu. »Hey, schau mal!«

Benson späht mit mir auf die Seiten, als ich auf zwei sorgfältig gezeichnete Symbole zeige.

»Das ist das von den Akten in Reese’ Büro«, sage ich und deute auf die Zeichnung einer Feder und einer Flamme, unter der das Wort Curatoria steht. »Das ist das Wort, das Elizabeth benutzt hat. Ich schätze, das ist ein Name, kein Wort.«

»Ergibt Sinn«, sagt Benson leise.

Ich überlege. Ich habe mein Handy nicht mehr, aber vor ein paar Tagen habe ich ein Foto von einem total abgeschabten Symbol an einem Gebäude in Portsmouth gemacht. Es war so verblasst, dass ich nur etwas Rundes über etwas mit Wellenlinien erkennen konnte. Aber es könnte eindeutig dieses Symbol gewesen sein.

»Das hier nicht«, sage ich und bewege den Finger zur gegenüberliegenden Seite. »Das hat die falsche Form.« Es ist ein Anch, aber statt eines geschlossenen Kreises beschreibt die Oberseite eine Kurve nach außen und bildet stattdessen die Form eines Hirtenstabs. »Reduciata«, sage ich. »Jay und Elizabeth haben das beide gesagt.« Ich versuche zu lesen, aber Benson leuchtet ständig zurück in die Kiste, die er aufgebrochen hat.

»Schau dir das an«, sagt er und hält ein kleines, gerahmtes Bild in meine Richtung, damit ich es sehen kann. Es ist eindeutig vom selben Künstler wie die anderen auf dem Tisch, aber dieses ist viel kleiner und das einzige mit Rahmen, das wir gefunden haben. Zu sehen ist ein gelbes Haus in einer Baumgruppe, die ungefähr zur Hälfte herbstlich gefärbt ist. »Ich wette, es ist das Haus, in dem er umgebracht wurde.«

»Er wurde nicht dort umgebracht.« Die Worte sind mir rausgerutscht, bevor ich darüber nachdenken kann.

Ich schaue Benson mit offenem Mund an – woher weiß ich das? – und greife nach dem Bild. Sobald meine Finger die spröden Kanten des Ölgemäldes berühren, bricht eine Lawine verzerrter Bilder und verschwommener Gefühle über mich herein.

»Es war ein Trick«, bringe ich heraus, als das Sperrfeuer der Empfindungen meine Konzentration bricht. Meine Finger legen sich um den Rahmen, greifen ihn fester, als die Worte aus meinem Mund strömen und ich Quinn beinahe wieder spüren kann, irgendwo in den Zerrbildern und dem Lärm, doch ich werde fast betäubt durch ein scharrendes Dröhnen, geblendet von waberndem Nebel. »Sie waren nie wirklich in Gefahr – nicht von den Waffen ausgehend –, aber sie mussten … mussten … ich kann nicht! Hilf mir, Benson!« Ich halte ihm das Bild hin, aber ich kann es nicht loslassen, während das Gefühl von Feuer an meinen Armen emporzüngelt und rasselnde statische Aufladungen in meinen Ohren dröhnen.

Benson entreißt mir das Bild und wirft es hinter sich auf den Boden, bevor er die Arme um meine Oberarme legt. Ich breche in seinen Armen beinahe zusammen, doch ich schaffe es rechtzeitig, die letzten Reste an Kraft meinen müden Muskeln abzuringen, um mich zu fangen.

»Was ist passiert?«

»Ich … ich weiß es nicht. Ich habe das Bild berührt, und es war … als wüsste ich, was mit Quinn passiert ist. Oder was nicht passiert ist, glaube ich.« Schwarze Punkte verschwimmen vor meinen Augen, und ich habe Angst, dass ich ohnmächtig werde. Ich habe das Gefühl, als sei ich gerade mit einem leeren Magen einen Marathon gelaufen.

»Ich kann hier nicht länger bleiben«, sage ich und halte mir die Augen mit den Händen zu.

»Kein Problem. Wir können ein andermal wiederkommen.«

Ich nicke stumm – ich will nie wieder herkommen –, und Benson nimmt das Bild und wirft es zurück in die Kiste, zurück in die Dunkelheit. Er sammelt ein paar von den anderen Gegenständen ein und packt sie in seine Kuriertasche. Ich lehne an der bröckelnden Höhlenwand und halte den Blick gesenkt, damit ich das Bild nicht noch einmal sehen muss. Allein beim Gedanken daran fühle ich mich ein bisschen mulmig, als säße ich in einer schlechten Achterbahn.

So soll es nicht sein. Der Gedanke kommt mir ungebeten in den Sinn.

Das Tagebuch gleitet mir vom Schoß, doch ich fange es rechtzeitig auf.

»Ich bin es nur«, sagt Benson.

»Das will ich mitnehmen.«

»Wie du willst. Solange es dich nicht durcheinanderbringt wie das Bild.«

»Das wird es nicht«, beharre ich. Ich habe keinen Grund zu dieser Annahme, aber irgendwie weiß ich, dass es stimmt. »Ich brauche es.«

Die Worte kommen aus meinem Mund, aber sie klingen nicht wie meine.