Kapitel 22

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Ich erwarte nicht, schnell einzuschlafen; ich gehe davon aus, dass ich stundenlang in fruchtlosem Selbstmitleid versinken werde. Ganz zu schweigen von der allgemeinen Unbequemlichkeit, wenn man in einem Auto schlafen will. In einem kalten Auto. Doch als sich meine Augenlider flatternd öffnen, um mir einen schneebedeckten Wald zu zeigen, beleuchtet von einem überirdischen Glühen, weiß ich, das muss ein Traum sein. Ein Blick an dem umwerfenden Kleid hinab, das mir in silbern glänzenden Falten um die Beine wirbelt, bestätigt es.

Ich gehe ziellos durch den lichten Wald; Schneeflocken legen sich mit einer Kälteexplosion auf meinen ansonsten warmen Körper. Die lange Schleppe des Kleids schleift über den Pulverschnee hinter mir und hinterlässt eine flache Spur, die sich um die Bäume windet, während ich mich drehe und schlängle – nicht in Eile, aber auf der Suche nach etwas.

Sein Profil ist das Erste, was ich sehe. Wie immer sind seine Haare im Nacken zusammengebunden, auch wenn ein paar dünne Strähnen auf seinen gebräunten Wangen liegen. Ein Umhang bedeckt seine Schultern, hüllt seinen Körper in eine Schwärze, die beinahe mit dem Baum verschmilzt, an dem er lehnt. Er dreht den Kopf und laubgrüne Augen erwidern meinen Blick. Meine Brust zieht sich zusammen und ich schnappe bei seinem Anblick nach Luft. Sein Blick geht durch mich hindurch, in mich hinein, sieht meine Seele. Nach einem Augenblick der Betrachtung – als entdecke er etwas in mir, das ihn überrasche –, entspannt sich sein Gesicht, und er lächelt. Er streckt eine behandschuhte Hand aus und zwischen seinen Fingern erscheint eine blutrote Rose.

»Ich wusste, du würdest zu mir kommen.«

Quinns Worte durchbrechen eine unsichtbare Barriere, und ich laufe los; meine nackten Füße bewegen sich lautlos auf dem weichen Schnee. Die Rose fällt zu Boden, als er die Arme ausbreitet, ein Spiegel meiner eigenen, als wir uns nacheinander ausstrecken.

Ausstrecken.

Ausstrecken.

Mein Körper prallt an seine warme Brust, und seine Hände sind an meinen Wangen, ziehen mich zu sich, packen mich im Nacken. Ich habe keine Zeit, die Augen zu öffnen, bevor sein Mund mit weichen Lippen meinen findet. Es ist, als sei ein Damm in uns gebrochen, und alle Sehnsucht, jeder Wunsch wird erfüllt. Fingerspitzen streichen an meinen Seiten hinab, schlängeln sich hinter meinen Rücken, ziehen mich fester, näher heran. Ich umklammere sein Hemd, dünnes weißes Leinen unter seinem Umhang, und ziehe ihn zu mir herab.

Oder vielleicht ziehe ich mich auch selbst hoch.

Egal, was immer mich ihm näher bringt. So nahe sich zwei Seelen sein können, ohne zu einer zu verschmelzen. Seine Lippen verlassen meinen Mund, und bevor ich protestieren kann, finden sie meinen Hals, die Kuhle meines Pulses. Meine Finger fahren ihm durch die Haare, und ich zerre das Haarband weg, sodass die Strähnen auf meine Hand fallen, sie seidig umschmeicheln – ich wusste, dass es sich genau so schön anfühlen würde.

Mit einem widerstrebenden Knurren löst sich Quinn von mir. Seine Hände umrahmen mein Gesicht, sein Blick bohrt sich in meinen. »Ich habe dir Dinge zu zeigen«, sagt er, und mein ganzer Körper erstarrt bei der Ernsthaftigkeit, die in seinen Worten liegt.

»Dann zeig sie mir«, flüstere ich mit mehr Anstrengung, als es eigentlich erfordern sollte. Meine Worte sind eine Dunstwolke in der Luft, die ein paar Sekunden lang unnatürlich zwischen uns hängt, bis ein verirrter Windstoß sie fortbläst.

Quinn zieht mich wieder an sich und sein Mund ruht dicht an meiner Wange. »Ich habe dir Dinge zu zeigen«, flüstert er wieder; seine Lippen berühren mein Ohrläppchen und jagen mir einen Schauder über den Rücken.

Schließlich löst er sich von mir und in seinen Augen liegt ein seltsamer Schatten. Seine Arme sinken von meiner Taille herab und er macht ein paar Schritte rückwärts.

Dann dreht er sich um.

Und geht fort.

»Quinn?« Die Worte sind ein Flüstern. Es ist mein Traum; er kann nicht weggehen. »Quinn?« Lauter jetzt hallt meine Stimme von den Bäumen wider und lässt die Eiszapfen klirren. »Quinn!« Die Bäume beben unter meinem durchdringenden Schrei; die Eiszapfen fallen klappernd zu Boden. Ich hebe meine Röcke an und versuche, ihm nachzulaufen, doch der Wald um mich herum wird dunkler, und bald kann ich nichts mehr sehen.

Mit ausgestreckten Armen taste ich mich durch die Dunkelheit, meine Handflächen kratzen schmerzhaft über die messerscharfe Rinde, wenn ich auf einen Baum stoße. Bald fühle ich, wie das Blut warm und dickflüssig an meinen Armen entlangläuft.

Wieder und wieder rufe ich seinen Namen, irgendwie weiß ich, dass ich dieser Dunkelheit entkommen kann, wenn ich ihn nur finde. Die Kälte, die mir noch vor Minuten nichts anhaben konnte, sengt sich in meine Knochen, und bald stolpere ich und falle.

Dann bricht der Schnee über mir zusammen und die Kälte vervielfacht sich drastisch. Ich rudere mit den Armen, und als ich das Gesicht himmelwärts hebe, merke ich, dass ich wieder in dem Traum bin, in dem ich ertrinke. Das eisige Wasser schneidet mir bis auf die Knochen, während sich die Schwärze über meinem Kopf schließt.

Quinn … Quinn … Meine Gedanken werden leiser, als mich der Schmerz einhüllt und ich loslasse.

Ich unterdrücke mit der Hand vor dem Mund einen Schrei, während ich versuche, mich in meiner dunklen, unbekannten Umgebung zurechtzufinden.

Reese’ BMW.

Ich bin in Sicherheit.

Ich lebe.

Ich sinke auf dem Sitz zurück und liege in der Dunkelheit, während Gefühlswellen über mir zusammenschlagen, zu Strudeln wirbeln, die meinen Körper von tief innen schütteln. Angst, Sehnsucht und Verzweiflung in einer überwältigenden Mischung.

Nicht nur verzweifelte Sehnsucht nach Quinn, sondern nach Antworten, Erklärungen. Ich weiß nichts und deshalb sitze ich so sicher in der Falle wie in Eisenketten.

Außerhalb des Wagens flattert etwas in der Dunkelheit. Die Fenster sind von unserer Körperwärme beschlagen, und ich hebe meinen Arm, um mit dem Ärmel einen Kreis freizureiben.

Etwas bewegt sich dort draußen.

Sie haben mich gefunden! Mein ganzer Körper spannt sich, und ich will gerade Benson mit einem Ellbogenstoß wecken, als ich goldene Haare aufblitzen sehe.

»Quinn.« Der echte Quinn. Sein Name entschlüpft meinem Mund als kaum wahrnehmbares Flüstern, während er näher kommt.

Jetzt steht er dicht vor dem Fenster, sein Blick bohrt sich in meinen. Er winkt mir mit einem gebogenen Finger, dann dreht er sich um und geht.

Ich lasse die Türschlösser aufschnappen und das Geräusch kommt mir in dem stillen Wagen ohrenbetäubend vor. Zum Glück regt sich Benson nicht. Ich versuche hinauszuschlüpfen, ohne ihn zu wecken, doch sobald die Tür aufgeht, flutet die Innenbeleuchtung das Auto mit Licht. »Was ist los?«, fragt er mit kratziger Stimme und stemmt sich auf die Ellbogen hoch.

»Ich muss mal«, lüge ich. »Schlaf weiter.«

Bensons Augen schließen sich schon wieder, als ich hinausschlüpfe und mich die kalte Luft nach der Wärme unserer Körper im Auto wie ein Schlag trifft. Es schneit stark, und auf der Welt um mich herum liegt diese intensive Stille, die nur starker, pudriger Schneefall mit sich bringt.

Ich schlinge die Arme um den Körper und spähe durch die riesigen Flocken in die Dunkelheit, doch ich sehe Quinn nicht.

Ich hoffe, ich mache keinen Fehler. Aber Quinn würde mich nicht in die Gefahr locken; das weiß ich! Dennoch spähe ich in die Dunkelheit um mich herum, und meine Brust wird eng, als ich nur Reglosigkeit sehe.

Ich werfe einen Blick zum Auto zurück. Benson wird sich Sorgen machen, wenn ich zu lange weg bin. Entschlossen, meine Antworten so schnell wie möglich zu bekommen, gehe ich in die Richtung, von der ich glaube, dass Quinn sie eingeschlagen hat. Der Schnee liegt schon ein paar Zentimeter hoch und ich blicke auf meine Spuren hinab. Wenn ich schnell bin, kann ich ihnen auf dem Rückweg folgen.

Den Blick halte ich auf den verschneiten Boden gesenkt, als ich es höre: »Miss. Miss?«

Miss? Ich reiße den Kopf herum und einen Augenblick lang sehe ich nichts. Dann das Aufflackern einer Bewegung, das mein Herz rasen lässt. Ein Gesicht taucht auf, und mein Herz rast noch schneller, falls das überhaupt möglich ist.

Er ist schön im Mondlicht: ein dunkler, schneebefleckter Umhang hüllt ihn vom Hals bis zu den Knöcheln ein, sein Gesicht ist sanft und beinahe ausdruckslos.

»Ich wusste, du würdest zu mir kommen.«

Der Wind trägt die leisen Worte an meine Ohren, und einen Moment lang glaube ich, ich sei wieder in meinem Traum. Er hebt die Hände, als wolle er nach mir greifen – genau wie in dem Traum –, und ich muss mich zwingen, nicht zu ihm zu laufen, mich nicht mit derselben Hingabe in seine Arme zu werfen, wie ich sie in diesem illusionären Wald gespürt habe.

Als ich zögere, lässt er die Hände fallen, und der Moment ist vorbei.

Warum bin ich nicht zu ihm gegangen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort weiß.

Quinn dreht den Kopf, bevor ich sehen kann, ob Enttäuschung in seinem Blick liegt.

»Ich … ich habe von dir geträumt.« Meine Worte sind ein leises Murmeln, aber sie klingen laut in der Stille um uns herum. »Aber das weißt du schon, oder?«

Er beißt die Zähne zusammen. Das ist Antwort genug.

»Du hast in meinem Traum eine Rose gemacht«, sage ich, und die Vorahnung schnürt mir die Brust zu. »Du bist wie ich. Du … du machst Dinge.«

Wieder antwortet er nicht, aber ich bin mir sicher, ich habe recht.

»Quinn, bitte, was bin ich? Was sind wir?« Das Wort Erdgebundene blitzt wieder in meinem Kopf auf, aber es bringt mehr Fragen als Antworten.

»Ich habe dir Dinge zu zeigen«, sagt er einfach. »Hier entlang.« Er dreht sich um und geht direkt in den Wald, ohne sich umzuschauen, ob ich ihm folge.

Dieselben Worte. Derselbe merkwürdige Tonfall. Ich habe dir Dinge zu zeigen. Nicht: Ich möchte dir etwas zeigen. Ich zögere, bevor ich in die spinnwebartigen Schatten der astfreien Bäume trete. Es ist wie in allen Horrorfilmen, die ich je gesehen habe. Die, in denen das dumme Mädchen am Ende tot ist.

Aber ist das nicht das, was ich wollte? Bin ich nicht den ganzen Weg hierhergefahren, um ihn zu finden?

Ich durchforste meine Gefühle, suche nach etwas – einem Zeichen, einem Omen, ich weiß es nicht –, doch obwohl sich mir der Kopf dreht und die Fingerspitzen kribbeln, ist es in Erwartung, nicht aus Angst.

Mit einem weiteren Blick auf das dunkle Auto, ziehe ich mein Handy heraus und schalte es ein. Vier neue Nachrichten: drei von Jay und eine von einer unbekannten Nummer. Ich schließe die Anzeige und schalte die Taschenlampenfunktion ein, bevor ich in die Dunkelheit des Waldes eintauche, um Quinn zu folgen. Die Dunkelheit in meinem Traum fällt mir wieder ein und ich reibe mir schaudernd die Arme.

Quinn ist wie ein Irrlicht, immer drei Meter vor mir, egal, wie schnell oder langsam ich bin. Ich habe es aufgegeben, ihn einholen zu wollen; dann geht er nur schneller. Ich konzentriere mich besser darauf, nicht gegen Büsche oder tief hängende Äste zu stoßen – einen brennenden Kratzer habe ich schon auf der Wange.

Die Angst, die ich weggeschoben habe, als ich angefangen habe, Quinn zu folgen, ist wieder da. Selbst wenn Quinn mir nichts tut, bin ich vollkommen ungeschützt. Ganz zu schweigen davon, dass ich Benson total schutzlos zurückgelassen habe. Falls jemand das Auto gefunden hat – der Sonnenbrillentyp, Elizabeth, wer zum Geier weiß schon, wie viele Leute mich suchen –, könnte er mit Leichtigkeit Benson kaltmachen und mir dann von hinten eine Kugel in den Kopf jagen.

Am schlimmsten von allem ist, dass meine Leiche in diesem Wald vielleicht nie gefunden wird.

Der Gedanke jagt mir einen erneuten Schauder über den Rücken, und ich balle die Fäuste und zwinge mich, schneller zu gehen. Es ist zu spät, um jetzt noch umzukehren – ich werde mich einfach mit den Konsequenzen abfinden müssen.