Kapitel 35

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Lasst uns alle die Ruhe bewahren«, sagt Jay in ruhigem, ausgeglichenem Ton, der den Wunsch in mir weckt, ihn zu schlagen. In meinem Kopf wirbeln die Verteidigungspläne durcheinander.

Noch mehr Gusseisen, Gewehre, kugelsicheres Glas … angenommen, ich könnte überhaupt so etwas Hightechmäßiges machen, wovon ich plötzlich nicht mehr überzeugt bin.

Aber Benson ist hier.

Ich werde ihn nicht in Gefahr bringen.

Ich darf ihn nicht in Gefahr bringen.

Das ist das Problem mit der Liebe.

»Friedensangebot«, sagt Jay und zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er hält etwas hoch, das ich vage als ein paar von den biologischen, 100%ig natürlichen Proteinriegeln erkenne, die Reese immer im Haus hat.

Eine seltsame Nostalgie überkommt mich. Das wird nie wieder mein Leben sein.

»Niemand ist hier, um dich zu töten, Tave«, sagt Jay, als lese er meine Gedanken. »Das alles …« Seine Handbewegung schließt die unsichtbaren Waffen um uns herum, verborgen von den großblättrigen Bäumen, ein. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nach dem, was du mit Elizabeth und mir gemacht hast, denke ich, ist das verständlich.«

Er schiebt sich vor, als nähere er sich einem schreckhaften Fohlen. Trotz seiner Aussage scheint er keine Angst vor mir zu haben; er sieht aus, als mache er sich Sorgen, ich könnte Angst vor ihm haben.

Womit er recht hat. Ich bin starr vor Angst. Aber ich will es ihn nicht merken lassen.

Die Sonne scheint mit einer Macht auf die Mitte der Lichtung herab, die der bitteren Kälte der letzten Tage trotzt, doch abgesehen davon fließt in meinen Adern Eiswasser.

»Ich weiß, du musst etwas essen«, sagt Jay, der mir immer noch die Riegel hinhält. »Ich weiß nicht genau, was du gemacht hast, aber ich habe genug Erdgebundene auf der Flucht gesehen, um diesen Blick wiederzuerkennen; du hast noch ungefähr fünf Minuten, bis du ohnmächtig wirst.«

Obwohl jede Faser meines Körpers auf Flucht ausgerichtet ist, zwinge ich mich, ihm in die Augen zu schauen, mache dann zwei langsame Schritte vorwärts und schnappe mir die Eiweißriegel, um mich sofort zu Benson zurückzuziehen. Ich reiße das Papier auf und nehme einen Bissen, ohne Jay aus den Augen zu lassen.

Um die Wahrheit zu sagen: Er sieht furchtbar aus. Diese Ringe unter den Augen – sie sprechen von mehr als Schlaflosigkeit. Und seine Haut ist in einem merkwürdigen Zustand – als sei sie zu groß geworden und hänge nun von ihm herab. Beinahe als schmelze sie. »Alles klar, Jay?«, frage ich mit einem halb gekauten Riegel im Mund.

Jay antwortet nicht, macht nur eine kleine Bewegung, und Reese und Elizabeth treten aus dem Dickicht hervor und gesellen sich mit derselben zögerlichen Langsamkeit zu ihm. Ich habe schon den nächsten Riegel aufgerissen und einen großen Bissen genommen, aber bei ihrem Anblick wird mein Mund trocken.

Als wüsste ich, dass sie die Wahrheit sagen.

Als ob es wahrscheinlich von Anfang an ein Fehler war, sie zu verlassen.

Aber sie sind immer noch diejenigen, die die Kontrolle über die Waffen haben, die auf mich gerichtet sind – und auf den Typen, den ich liebe. Es ist schwer, sie nicht als Feinde zu sehen, wenn sie mit Waffen auf uns zielen.

»Wir wollen nur reden«, beschwichtigt Reese, bevor ich etwas sagen kann.

»Warum tut ihr das?«, frage ich, als der zweite Riegel weg ist – was erstaunlich schnell geht –, und öffne bereits den dritten. »Ich dachte, ihr wärt Curatoria. Solltet ihr Erdgebundenen nicht helfen?«

Sollten sie?

Sollten sie. Sagt man.

Rebecca hielt sie immerhin für vertrauenswürdiger als die Reduciata, aber was für ein Maßstab ist das?

»Das sind wir«, sagt Reese. »Und wir tun unser Äußerstes, um dich am Leben zu erhalten, aber du machst es uns nicht gerade leicht.«

Der erste Schreck lässt nach und ich habe keine Angst mehr.

Jetzt bin ich stinksauer.

»Wenn ihr mir wenigstens ein kleines bisschen an Informationen anvertraut hättet, wäre ich vielleicht nicht so nervös gewesen. Habt ihr eine Ahnung, wie die letzte Woche für mich war?«, blaffe ich.

»Wenn du uns wenigstens ein kleines bisschen davon erzählt hättest, was du durchmachst, hätten wir dir vielleicht helfen können«, erwidert sie emotionslos.

Ich klappe den Mund zu. Ich werde dieses Schuldzuweisungsspielchen nicht mitspielen. »Ihr seid nicht meine Tante und mein Onkel, oder?«, frage ich, ohne mir Mühe zu geben, den Vorwurf in meiner Stimme zu verbergen.

Die Frage hängt sekundenlang in der Luft. »Nein«, sagt Reese schließlich. »Mein Name ist Samantha. Sammi.«

Ich lache beinahe über den Spitznamen. Er passt zu ihren burschikosen blonden Haaren und der puppenhaften Statur, widerspricht ihrer formellen, geschäftsmäßigen Persönlichkeit aber total. »Und du?«, sage ich und reiße den Kopf zu Jay herum, der, wie ich merke, jetzt an einem Baum lehnt – als sei stehen zu anstrengend.

»Mark. Einfach Mark«, fügt er unbehaglich hinzu.

»Und warum habt ihr so getan, als ob?« Meine Worte sind wie Geschosse.

»Um deine Vormundschaft zu bekommen, ohne dich gleich mit allem auf einmal zu überfallen. Es war schwer genug für dich, mit dem Tod deiner Eltern zurechtzukommen – ganz zu schweigen von dem körperlichen Trauma –, auch ohne dir noch einen Haufen übernatürlichen Kram aufzudrücken. Wir haben versucht, vorsichtig zu sein und dich gleichzeitig außer Gefahr und versteckt zu halten.«

»Habt ihr meine echte Tante und meinen Onkel umgebracht, bevor ihr ihre Identitäten gestohlen habt?«

»So arbeiten wir nicht, Tavia«, blafft Sammi eindeutig beleidigt. »Sie sind wohlauf und denken, du seist bei dem Absturz gestorben. Und glaub mir – Passagierdaten zu fälschen, ist kein Spaziergang.«

»Tavia«, ergreift Elizabeth zum ersten Mal das Wort, »wenn ich je etwas gesagt habe, das du geglaubt hast, dann glaube mir bitte auch dies: »Sammi, Mark und ich haben jeden Moment unseres Lebens des ganzen letzten Jahres dafür verwendet, Gefahren von dir abzuhalten.«

»Ganz zu schweigen von den achtzehn Jahren davor«, murmelt Reese.

Elizabeth wirft ihr einen Blick zu und fährt fort: »Wir hätten dich bei dem Flugzeugabsturz fast verloren und dieser Fehler plagt uns seither jeden Tag. Es gibt keine drei Leute auf der Welt, bei denen du sicherer bist als bei uns. Das verspreche ich dir.«

Sicherer als bei Benson?, denke ich ironisch. Keine Chance. Aber ich sage nichts, sondern greife nur hinter mir nach Bensons Händen. Er steht ruhig da, lässt mich reden, toben, anklagen. Aber er hat sich keinen Zentimeter gerührt, seine warme Brust ist eine feste Stütze an meinem Rücken. So unerschütterlich wie jeder dieser uralten Bäume. Durch ihn fühle ich mich stark. Mutig. Besser.

»Bitte«, sagt Elizabeth, »lass dich von uns an einen sicheren Ort bringen – wir können dann über alles nachdenken, was du willst, aber wir fordern das Schicksal heraus, wenn wir hier im Freien bleiben.«

»Wir sind ziemlich weit weg von der Straße«, antworte ich sarkastisch und zeige auf das dichte Laubwerk um uns herum.

»Alles außer kugelsichere Wände ist meiner Meinung nach im Freien«, schnauzt Reese. »Bitte lass dich von uns in ein sicheres Haus bringen.«

»Ich gehe mit euch nirgendwohin«, gebe ich zurück. »Ich will nichts mit den Curatoria oder den Reduciata zu tun haben.«

»Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass du allein lange durchhalten wirst. Ich habe die Reduciata noch nie jemanden so unerbittlich jagen sehen. Ein Flugzeug abstürzen lassen?«, sagt Mark und bestätigt damit meinen Verdacht. »Das ist sogar für sie ungewöhnlich. Wir haben es ungefähr eine Stunde, nachdem es passiert ist, zu dem Autounfall in Bath geschafft, und um ehrlich zu sein, dachten wir, sie hätten dich in diesem Hotel in Freeport erwischt.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Sie waren nie weit hinter mir. Aber immer noch weiter weg als die Reduciata, die näher und näher gekommen sind. Am liebsten würde ich mir Benson schnappen und davonlaufen – der Wunsch ist so groß –, aber wäre das ein Todesurteil für uns beide?

»Sie wollen dich«, fährt Mark fort. »Speziell dich, und das unbedingt. Nach dem Flugzeugabsturz mussten wir dich verstecken, denn als du die einzige Überlebende warst, wussten die Reduciata sofort, dass es ihnen nicht gelungen ist, dich zu ermorden. Nur eine Erdgebundene hätte diesen Absturz überleben können.«

Meine Finger umklammern Bensons eiskalte Haut. »Was an diesem Absturz hat alles ins Rollen gebracht? Ich verstehe das nicht. Damals wusste ich überhaupt nichts.«

»Der Selbsterhaltungstrieb eines Erdgebundenen ist unglaublich stark«, sagt Reese – Sammi – schlicht, als sprächen wir über das Flugverhalten von Schmetterlingen. »Bewusstsein, das an Vorahnung grenzt, Selbstverteidigungsreflex in Disziplinen, die der Erdgebundene seiner bewussten Erinnerung nach nie gelernt hat, solche Dinge. Plötzliches Wiedererwachen von Mächten in lebensbedrohlichen Situationen ist das Geringste, was ich zu meinen Zeiten gesehen habe. Der schlichte Drang, am Leben zu bleiben, hat deine Fähigkeiten geweckt. Wir sind nicht ganz sicher, was du getan hast, aber irgendwie haben deine Instinkte eingesetzt, und du hast etwas geschaffen, um dich zu retten.«

Jetzt schnürt es mir die Kehle zu, als die naheliegendste Frage über mich hereinbricht wie ein Felsblock. »Ich war das? Ich habe mich am Leben erhalten?«, flüstere ich, und ich kann in Elizabeth’ Augen sehen, dass sie weiß, was als Nächstes kommt. Ich blinzle, aber das lässt nur die Tränen über meine Wangen laufen – brennende Spuren auf meiner Haut. »Und warum konnte ich sie dann nicht auch retten?«

»Ich glaube nicht, dass deine unbewussten Instinkte etwas außer Selbsterhaltung tun könnten«, sagt Mark mit – echtem oder unechtem – Mitgefühl in der Stimme. »Du darfst dich deshalb nicht schuldig fühlen, Tavia.«

Tue ich aber.

Wenn ich – auch ohne meine Kräfte bewusst zu verstehen – mich selbst retten konnte, dann hätte ich auch sie retten können.

Und ich habe es nicht getan.

Benson schlingt mir den Arm um die Taille, und ich klammere mich an ihn, zwinge meine Lungen mehrmals, sich zu füllen, obwohl es sich anfühlt, als würde mir ein Messer in die Brust gebohrt.

Die Wahrheit sollte einfach sein. Und das hier ist nicht einfach. Es ist ein Märchen. Und zwar nicht die Märchenprinz-küsst-Prinzessin-Art, sondern die, in der der Wolf die Großmutter frisst, die Meerjungfrau zu Schaum wird und der Tänzerin die Füße abgehauen werden.

»Woher wusstet ihr überhaupt, wer ich bin?«, presse ich hervor.

»Ach, Tave, so viele Nachforschungen«, sagt Sammi, und der bloße Gedanke scheint sie müde zu machen. »Generationen von Nachforschungen. Wir in meiner Familie sind schon seit zehn Generationen Curatoria; die Mitgliedschaft in beiden Bruderschaften ist oft eine Familienangelegenheit.«

»Wie die Mafia«, sagt Benson trocken. Es ist das erste Mal, dass er das Wort ergreift.

Reese wirft ihm einen verärgerten Blick zu, fährt aber fort, als habe er nichts gesagt. »Seit ich mit sechzehn von meinem Vater ausgebildet wurde, verbringe ich mein Leben damit, nach den Erdgebundenen zu suchen. Wir haben eine Menge Methoden, die aber alle weder einfach noch narrensicher sind. Ehrlich gesagt, wenn du nicht in jedem Leben gleich aussehen würdest, glaube ich, wir wären hoffnungslos verloren.«

Ich erinnere mich an die Vision von Rebecca. Längere Haare, aber ansonsten identisch.

»Ich … ich habe, um genau zu sein, eine gewisse Verbindung zu dir«, sagt Sammi.

»Was für eine Verbindung?« Ich kann das Misstrauen nicht aus meiner Stimme heraushalten.

Sie greift in die große Tasche an ihrer Hüfte, und ich trete zurück und breite schützend vor Benson die Arme aus, doch Sammis Hand zieht einen Ordner mit dem Symbol der Feder und der Flamme hervor. Sie kommt auf mich zu, den Ordner wie eine weiße Fahne erhoben.

Es fühlt sich seltsam an, Aktenordner im Wald auszutauschen, während braunes Laub unter unseren Füßen knirscht, aber was an den ganzen Erfahrungen der letzten Tage war nicht merkwürdig? Ich nehme den Ordner vorsichtig und versuche, Sammi nicht aus den Augen zu lassen, selbst als ich den Deckel aufschlage.

Es ist merkwürdig, mein eigenes Gesicht zu sehen, das mir aus einem Bild entgegenschaut, an das ich mich nicht erinnere. Es hat diesen Sepiaton, den alte Fotos annehmen, und ich sehe mich selbst in einem weit ausgeschnittenen Pulli und Jeans mit hohem Bund; ich liege auf dem Bauch und lese ein Buch. »Wann ist das?«, frage ich, während ich die ganzen kleinen Details meines Gesichts studiere, die ich über die Jahre so gut kennengelernt habe.

Es ist seltsam, wie fremd sie jetzt aussehen.

»Vor achtzehn Jahren«, sagt Sammi, und ich erinnere mich an ihre kryptische Aussage von vor ein paar Minuten.

Ich runzle die Stirn. »Ich bin jung gestorben.«

»Ja, das bist du.«

Mit dem Finger berühre ich ein weiteres Gesicht auf dem Foto – das scharfe Kinn einer Samantha im Teenageralter. Kürzere Haare, ein bisschen dünner, aber eindeutig sie. »Das bist du.«

»Ja, das bin ich als Teenager, und das bist du als Sonya. Und trotz allem«, fügt sie mit einem Lachen hinzu, »bist du heute so viel umgänglicher.«

»Streitlustig«, lese ich von der nächsten Seite in der Akte ab, aber es liegt kein Humor in meiner Stimme. Im Moment kann ich noch gar nichts von alledem amüsant finden.

»Das fasst es ganz gut zusammen. Du hast uns nicht vertraut, auch nachdem wir dir deine Erinnerungen zurückgeben konnten. Und du hast uns gar nichts erzählt.«

Ich erreiche das Ende des Dokuments und alles in mir zieht sich ablehnend zusammen. »Hier steht, ich hätte Selbstmord begangen. Wenn ihr Curatoria-Leute so hilfsbereit und vertrauenswürdig seid, warum habe ich das dann getan?«

Sammi schweigt lange und dreht ihren Ehering. Als sie das Wort ergreift, ist ihre Stimme leise und ernst. »Das Band zwischen Partnern ist so stark, dass es für einen Erdgebundenen oft der Lebensinhalt ist. Direkt bevor wir dich fanden, haben wir deinen Partner gefunden. Sein Name war damals Darius. Doch wir waren nicht die Einzigen, die ihn gefunden haben. Leider hat er zu viele Spuren hinterlassen und die Reduciata haben ihn aufgespürt … und …« Sie breitet die Hände aus. »Du musst das verstehen, Tavia. Für einen Erdgebundenen ist der Tod nicht dasselbe wie für uns andere. Er ist nicht das Ende; er ist eher so etwas wie ein Reset-Knopf. Es war nicht so, dass du nicht mehr leben wolltest, sondern dass du auf derselben Zeitachse wie Darius sein wolltest. Oder Quinn. Wie auch immer du ihn nennen willst. Du wolltest nicht dreiundzwanzig Jahre älter sein als er, wenn du seine neue Inkarnation gefunden hast. Du wolltest im selben Alter sein, damit ihr beide vielleicht eine Chance auf ein langes gemeinsames Leben habt.«

»Also habe ich mich umgebracht?«, frage ich. Die kühle Logik dieser Tat macht sie nicht weniger grausig.

»Für mich war es auch hart«, gibt Sammi zu. »Obwohl ich verstand, was es bedeutete. Seit damals habe ich einen großen Teil meines Dienstes als Curatoriate dafür aufgewendet, dich und Darius zu finden und euch wieder zusammenzubringen. Um es wiedergutzumachen. Es ist mein Lebenswerk. Als ich dann also letztes Jahr deinen Malstil von den wenigen Stücken her wiedererkannt habe, die wir von Rebecca haben, konnte ich endlich den ersten Schritt meiner Mission vollenden.«

»Tja, jetzt kannst du aufhören. Ich will nicht mit ihm zusammen sein.« Ich nehme wieder Bensons Hand, verschränke die Finger mit seinen und lächle. »Ich will mit Benson zusammen sein. Wir brauchen dich nicht, und wir brauchen ganz sicher nicht diesen Typen – Darius, Quinn, wie auch immer. Wir brauchen nur einander.«

Benson lächelt zurück, aber er sieht nervös aus – kribbelig. Seine Hand umklammert meine, als habe er Angst, ich könnte jeden Augenblick davonlaufen.

»Willst du ihn nicht einmal sehen?«, fragt Sammi.

»Wen sehen?«

»Deinen Partner, Quinn Avery. Wer er heute ist?« Sie hält eine weitere Akte hoch.

Ich versuche, nicht betroffen zu sein. Ich habe einen Jungen, der mich liebt; ich brauche sicher nicht noch einen. Aber Sammi hält sie mir weiter hin, und am Ende gebe ich meine vorgespielte Nonchalance auf, schnappe sie und schaue auf das Etikett.

»Logan Sikes«, lese ich.

Ich halte die Akte, zähle bis drei, öffne sie.

Und da ist er.

Ein zwanzig mal dreißig Zentimeter großes Bild von einem Typen – einem Teenager, genau wie ich. Irgendwo in meinem Hinterkopf jubelt eine Stimme, die ich vage als die von Sonya erkenne. Es hat funktioniert! Und noch während ich sie wegschiebe, wird mir klar, dass sie recht hat. Wir sind gleich alt. Wir könnten zusammen sein – ein ganzes Leben gemeinsam haben.

Es gibt nur ein Problem.

Ich will ihn nicht.

Ich nicht.

Sie wollen ihn. Sie sehnen sich so nach ihm, dass ich mir nicht sicher bin, ob mein Gehirn mit diesem Dilemma klarkommen wird, ohne zu zerreißen.

Stockend strecke ich die Finger aus, um Quinns vertrautes Gesicht zu berühren. Es wirkt moderner an diesem Logan. Seine Haare sind kürzer, zerzaust und hängen ihm beinahe in die grünen Augen, statt mit einem Band zum Zopf gebunden zu sein. Jeans und T-Shirt sehen so seltsam an ihm aus, und doch wirkt er sehr vertraut, wie er einen Blick über die Schulter wirft.

Ich kann mein Herz verleugnen, mich an Benson klammern, Elizabeth’ Warnung ignorieren, Rebeccas und Sonyas Stimmen aussperren.

Doch diesen Augen kann ich nicht entkommen.

Ich kenne diese Augen. Ich habe diese Augen geliebt. In sie geschaut, während sie mich liebten. Hunderte von Malen. Tausende. Mein Atem fühlt sich scharf an, während ich in seine Augen schaue und hypnotisiert bin.

Verzweifelt zwinge ich meinen Blick zu dem Datum am unteren Ende des Fotos. »Das wurde gestern aufgenommen?«, keuche ich, und Sammi nickt; sie missdeutet meine Betroffenheit als Freude.

»Als er zur Schule ging. Ich habe ihn selbst gesehen. Aus Fleisch und Blut, nicht diese Vision von Quinn Avery, die du die letzte Woche immer gesehen hast. Er ist real. Das ist der Grund, warum ich so plötzlich nach Phoenix musste. Er wohnt dort.«

Phoenix. Ich wäre beinahe hingefahren. Den Geister-Quinn zu treffen, hätte mir fast das Herz und die Seele zerrissen; was hätte es mit mir gemacht, den echten Logan zu sehen?

Sammi beugt sich vor. »Es tut mir leid, dir nicht früher gesagt zu haben, dass ich glaubte, ihn gefunden zu haben – ich hätte es tun sollen – aber … Tavia, es hätte mich fast kaputt gemacht, als du dich umgebracht hast, während ich für dich verantwortlich war. Ich war dabei, als mein Vater dir sagte, dass Darius tot sei. Du – du kannst dir nicht einmal vorstellen, was für eine Hoffnungslosigkeit ich in deinem Blick gesehen habe. Oder vielleicht kannst du es dir auch vorstellen«, sagt sie ironisch. »Du erinnerst dich sicher daran.«

Ich zögere. »Eigentlich nicht. Ich erinnere mich nicht an viel. Hauptsächlich an mein Leben als Rebecca, aber auch das ist vage. Ich … ich fühle«, fahre ich fort, ohne recht zu wissen, wie ich es besser beschreiben soll, »dass es eigentlich nicht auf diese Art passieren sollte. Dass dieses ganze Erinnerungsding einfacher sein müsste.« Ich lasse die ungestellte Frage in der Luft hängen.

»Du weißt nichts mehr von Sonya? Gar nichts?«, fragt Sammi.

»Nur eine … Vertrautheit«, gebe ich zu. »Ein Fragment einer Stimme in meinem Kopf.«

»Erinnerst du dich …« Aber sie unterbricht sich. »Jetzt ist nicht der richtige Moment; wir können später über Sonya reden. Liz hat nach dem Absturz massenweise recherchiert, und ihre Theorie ist, dass deine Hirnverletzung alles schwieriger macht. Aus demselben Grund war es auch so schwer für dich, wieder mit dem Malen anzufangen.«

»Deshalb haben wir uns Sorgen gemacht, dass wir dich noch mehr schädigen könnten«, fährt Elizabeth fort.

»Wird es immer wehtun?«, frage ich mit schwacher Stimme, und allein bei dem Gedanken an den Schmerz, den die Halskette ausgelöst hat, ist mein ganzer Körper angespannt.

Sammi blickt auf. »Es …«

»Die Gehirne von Erdgebundenen funktionieren nicht genauso wie unsere – nicht einmal wie bei denen von uns, die Erdgebundene in der Verwandtschaft haben«, unterbricht Elizabeth. »Das ist der Grund, dass du Dinge siehst, die wir anderen nicht sehen können.« Sie zögert. »Wie die glühenden Dreiecke.«

Ich reiße die Augen auf und versuche, danach zu fragen, aber Elizabeth unterbricht mich.

»Soweit wir sagen können, verbinden sich die Synapsen anders und feuern auch anders. Was wir noch nicht genau wissen, ist, wie deine Hirnverletzung das beeinflusst. Aber nein, es sollte nicht wehtun.« Sie zögert; sie versteht, wie schlimm es gewesen sein muss, obwohl ich es nicht ausgesprochen habe. »Ich weiß nicht, ob es auch weiterhin ein schmerzhafter Prozess sein wird, aber jetzt, wo der Anfang durch eine deiner Schöpfungen gemacht ist, müsste das Schlimmste vorbei sein. Von jetzt an wird es hoffentlich nur noch ein Durchsehen der Erinnerungen sein, die du schon aktiviert hast.«

»Ich hatte gehofft, Logan auf irgendeine Art mitbringen zu können und eure Erinnerungen gleichzeitig zu wecken.« Sammis Stimme ist leise und ruhig, aber ich habe lange genug mit ihr zusammengelebt, um ihre Frustration herauszuhören. »Aber dass du weggelaufen bist, hat uns ziemliche Steine in den Weg gelegt.«

»Wenn du erwartest, dass ich mich dafür entschuldige, wird das eine lange Nacht«, sage ich und lehne mich, die Akte in den verschränkten Armen an mich gedrückt, enger an Benson.

Ich werde sie nicht zurückgeben.

»Ich erwarte gar nichts. Wir wissen, wo Logan ist; wir bringen dich heute Abend zu ihm.« Sie blickt auf und schaut mir in die Augen. »Wenn nötig, mit Gewalt.«

»Was meinst du damit: mit Gewalt?«, blaffe ich. »Das ist ja wohl ein bisschen melodramatisch.«

Sammi schaut Mark an und sie führen einen kurzen Dialog mit Blicken. Ich stütze eine Hand auf die Hüfte und warte, bis sie entschieden haben, ob sie mich weiterhin anlügen wollen. Aber Mark nickt leicht und Sammi wendet sich mit ehrlich gehetztem Blick zu mir um.

»Mark hat das Virus.«