Kapitel 8
Wo bist du? Meine Finger zittern, als ich Benson eine Nachricht tippe.
Bücherei. Will gerade los, antwortet er ungefähr eine Minute später.
Wir müssen reden. Ich fühle mich seltsam, als ich Benson, dem Typen, den ich letzte Woche mochte, von Quinn schreibe, dem Typen, den ich offenbar diese Woche mag.
Dem anderen Typen, den ich diese Woche mag. Es ist komisch: Wenn Quinn in meiner Nähe ist, ist es, als könne ich mich auf nichts anderes konzentrieren. Er überwältigt meine Sinne, und ich schwebe in einer Wolke, die zu gleichen Teilen aus Glückseligkeit und Schrecken besteht. Aber wenn er weg ist, kriecht die Realität wieder heran, und ich weiß nicht, was ich denken soll.
Ich weiß, ich sollte Benson als hoffnungslosen Fall aufgeben, aber er ist wie ein Waldbrand – alles begann mit einem Funken, der zu klein war, um ihn überhaupt zu bemerken, bis er zu mehr aufgeflammt ist. Ich könnte diese Gefühle selbst dann nicht einfach ersticken, wenn ich wollte.
Und jetzt will ich ihm von Quinn erzählen? Was tue ich da nur?
Aber ich platze fast angesichts dieser neuen Enthüllung – er hat einen Namen und er will mich wiedersehen! Und wem könnte ich es sonst erzählen? Ich werde bestimmt nicht – schon wieder – um acht Uhr abends meine Therapeutin anrufen.
Ich versuche, nicht an seine anderen Worte zu denken. Ich bin nicht derjenige, den du fürchten solltest. Ich habe den ganzen Tag in Angst verbracht. Im Moment will ich ein paar Minuten, vielleicht eine Stunde, einfach glücklich sein.
Nachdem ich mich wegen einer vergessenen Aufgabe im Haushalt bei Reese herausgeredet habe, bringe ich sie dazu, mir ihr Auto zu leihen, um zur Bibliothek fahren zu können. Ich habe weniger als eine halbe Stunde, bevor sie schließt. Als ich dort bin, parke ich und gehe hinein, so schnell es mein schmerzendes Bein zulässt, und suche nach Benson. Mir ist egal, wenn er es nicht versteht. Ich höre ihm seit zwei Monaten zu, wie er praktisch Sonette über Dana McCraven verfasst, und komme damit klar; dann kann er mir jetzt auch mal zuhören.
Es ist besser so, sage ich mir. Jetzt haben wir beide jemanden. Aber der Gedanke hinterlässt ein seltsam schales Gefühl.
Er lehnt über dem Schalter und spricht leise mit Marie. Mein Herz macht einen komischen Satz, als mein Blick ihn von Kopf bis Fuß abtastet – und den Augenblick nutzt, bevor er merkt, dass ich da bin. Er trägt immer noch den weichen grauen Pullunder über dem hellgrünen Hemd, aber jetzt sind die Ärmel aufgekrempelt, was seine Unterarme betont. Während ich ihn beobachte, schiebt er sich die Brille ein Stück höher und schneidet Marie eine Grimasse.
Er sieht total heimisch aus zwischen all diesen Stapeln von Büchern.
Und charmant.
Ich schlucke und erinnere mich an den Grund, warum ich hier bin.
Sobald Benson mich sieht, schließt er den Mund, und ich schnappe einen seltsam melancholischen Ausdruck in seinen Augen auf, bevor sein schiefes Lächeln ihn ausradiert. Ich muss daran denken, dass er sich Sorgen um mich macht. Dass ich ihm jetzt sogar noch mehr Gründe gebe, sich Sorgen um mich zu machen. Benson ist so beständig, so abgeklärt, da fällt es schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er einer dieser Typen ist, deren emotionale dunkle Wasser tief sind.
Ich gehe hinüber und versuche, den Augenkontakt mit Marie zu meiden, bevor sie mich zwitschernd begrüßen und anfangen kann, mich zu fragen, wie mein Tag war. Ich habe heute keine Zeit für sie.
»Hi, Marie«, werfe ich ihr kurz hin, ohne sie direkt anzuschauen, dann wende ich mich Benson zu. »Ich brauche unbedingt dieses Buch hier, bevor die Bücherei schließt. Es ist hinten, ja?«, füge ich bedeutungsvoll hinzu.
»Ja, ich zeige es dir«, sagt Benson und beäugt mich zweifelnd. Er legt mir die Hand auf die Schulter und führt mich ans andere Ende der Bibliothek, wo keiner ist – nicht dass hier nicht sowieso nur noch eine Handvoll Leute wären. Und die meisten von ihnen sind Zehn- oder Zwölfjährige, die sich um die Computer scharen.
Ich gehe – nachdem ich mich versichert habe, dass keiner in der Nähe ist – bis zur Mitte eines schattigen Gangs und streiche mit den Fingern an den verschiedensten Buchrücken entlang: an eher neueren Taschenbüchern, an brüchigen alten gebundenen. Ich glaube nicht, dass die Bibliothek ihre Bücher je aussortiert. Kein Einziges. Über uns hängt eine einzelne Glühbirne und erleuchtet Staubpartikel, die von einem Heizkörper aufsteigen und in der Luft herumwirbeln.
Jetzt, wo die Nervosität nachlässt, fühle ich mich ein bisschen flatterig und versuche, mein Unbehagen zu überspielen, indem ich meinen Labello aus der Hosentasche ziehe und neu auftrage.
»Oh, hey, das erinnert mich an etwas«, sagt Benson und kramt in seiner eigenen Hosentasche. »Ich habe daran gedacht, deinen anderen mitzubringen.«
Ich schaue zu Benson auf. »Was?«
»Deinen Labello. Ich habe ihn in meinem Auto gefunden, nachdem ich dich neulich nach Hause gefahren hatte. Ich habe ihn dir mitgebracht. Jetzt hast du zwei.« Er hält mir einen Labello mit Kirschgeschmack hin, identisch mit dem in meiner Hand, und grinst. »Nimm zwei.«
»Ist nicht meiner. Ich muss mir einen neuen kaufen, habe ich aber noch nicht.« Ich schaue ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Muss einer deiner Freundinnen gehören«, füge ich hinzu und versuche, fröhlich zu klingen, während ich gleichzeitig überlege, ob Dana am Ende doch noch Bensons Charme erlegen ist.
Nicht, dass es wichtig wäre.
Es ist mir egal.
Es ist mir egal.
»Nein, er lag auf dem Sitz, nachdem du ausgestiegen bist«, beharrt er und hält ihn mir weiter hin. »Er muss aus deiner Tasche gefallen sein.«
Ich weiß nicht, warum er so darauf beharrt. »Benson, ich nehme bestimmt nicht den Labello von irgendeiner anderen; das ist eklig. Das hier ist meiner.«
Er schaut mich seltsam an. »Aber …«
»Es macht wirklich nichts aus, Benson. Wirf ihn einfach weg; ich muss jetzt mit dir reden.«
»Dein Pech«, sagt er und wirft ihn in die Luft. Er wirbelt mehrmals herum, bevor Benson ihn wieder auffängt. »Du solltest sowieso zu einer anderen Marke wechseln. Du hast dich doch beschwert, dass das Zeug nicht mehr wirkt.«
»Das liegt nur am Salz in der Luft«, sage ich und schiebe den Deckel wieder auf meinen Labello zurück. Auf den aus meiner Tasche. Der, von dem ich weiß, dass er keine Lippen außer meinen eigenen berührt hat.
Eigentlich könnten, wenn er mit ihr geknutscht hätte, bevor sie ihn aufgetragen hat, auch Bensons Keime darauf sein. Das löst ein komisches Gefühl in meinem Magen aus und das fiebrige Gefühl gefällt mir gar nicht. Ich drehe den Labello in den Fingern, nur um etwas zu tun zu haben.
Und vielleicht, damit ich Benson nicht ansehen muss.
Meine Finger krallen sich einen kurzen Augenblick um die Plastikröhre, dann ist die Stelle, wo er gerade noch war, plötzlich leer, und meine Finger berühren sich. »Ach du Scheiße!« Ich reiße die Hände auseinander.
»Was ist?«, fragt Benson, ohne mich anzusehen, und wirft den Labello noch einmal in die Luft.
»Er ist weg!«
»Wer ist weg?«
»Der Labello!«
Er zögert kurz, bevor er die Achseln zuckt. »Schau auf dem Boden nach.«
»Benson!«
»Was denn?«
Ich warte, bis er mich anschaut. »Ich hatte den Labello in der Hand und plötzlich war er weg.«
Sein Gesicht ist eine Maske der Verwirrung, und er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, dann schließt er ihn wieder und starrt mich nur an. Er sucht etwas in meinen Augen.
»Er ist verschwunden, Benson!«, sage ich und bemühe mich, normal zu atmen. »Ich hatte ihn in der Hand und er ist buchstäblich verschwunden!«
Noch ein paar Sekunden des Schweigens vergehen, bevor Benson schluckt und mir mit einem schiefen Grinsen den anderen Labello hinhält. »Tja, jetzt hast du einen neuen.«
»Benson …«
»Mensch, Tave«, blafft er. »Es ist nur ein Labello. Nimm ihn oder nicht, aber meiner ist es nicht.«
Sein plötzlicher Zornausbruch schockiert mich, und eine Sekunde später merke ich, dass meine Wangen nass sind. Es ist nicht direkt ein Weinen, aber die Tränen fließen aus meinen Augen, als hätten meine Gefühle ein Leck. Gut, schlecht, Furcht einflößend, zum Lachen. Es war heute einfach alles zu viel und jetzt fließe ich über.
Und es ist peinlich. Ich bin komplett aus dem Gleichgewicht.
Ich reiße Benson den dummen Labello aus der Hand – ich werde ihn später wegwerfen –, dann öffne ich meine Handtasche und suche nach einer der vielen Packungen Taschentücher, die ich darin mit mir herumtrage. Seit meine Eltern gestorben sind, weine ich bemitleidenswert regelmäßig und zu allen möglichen Zeiten in der Öffentlichkeit.
Als ich schniefe, blickt Benson auf, und sein ganzes Gesicht verzieht sich vor Reue. Er wendet sich mir zu, seine Hände finden meine Schultern. »Ach Tave, es tut mir leid. Ich bin ein Vollidiot. Ich …«
Aber ich schneide ihm mit einer scharfen Handbewegung das Wort ab. Ich greife in meine Handtasche und ziehe einen Labello heraus. Dann, nur um sicherzugehen, hebe ich die Hand und öffne meine Finger, um den Labello zu zeigen, den mir Benson gerade gegeben hat.
Zwei. Drei, wenn man den mitzählt, der verschwunden ist.
Ich habe das Gefühl, ich verliere die Kontrolle und muss mich ein paar Mal zum Einatmen zwingen, als mir ein schrecklicher Gedanke kommt. Mit vor Angst beinahe tauben Händen greife ich noch einmal in meine Hosentasche.
Als Erstes spüre ich nichts. Aber ich grabe tiefer, in die Ecke ganz unten, wo sich gerne mal die Hosentaschenfusseln sammeln.
Und ziehe noch einen Labello heraus.
Benson hatte recht; er ist immer in meiner Tasche, wenn ich ihn nicht finde.
Ich halte Benson die drei Röhren hin, und er hebt instinktiv die Hände, um sie zu nehmen.
Ich lasse sie in seine Handfläche fallen. Benson muss es sehen.
Wenn Benson sie sieht, bin ich nicht verrückt.
Oder zumindest halluziniere ich nicht.
Ich fasse wieder in meine Tasche und schaue Benson in die Augen, als ich noch einen Labello herausziehe und ihn zu den anderen drei lege, die er bereits in den Händen hält.
Vier. Ich versuche es noch einmal.
Fünf.
Sechs.
Ich will nicht, dass sie mein Gehirn noch einmal aufschneiden.
»Du machst mir Angst«, sagt Benson, und sein Blick bohrt sich in meinen.
»Psst!« Ich lege den Finger an die Lippen. »Schau hin.«
»Tave …«
»Schau. Einfach. Hin«, beharre ich.
Der Ernst in meiner Stimme dringt schließlich zu ihm durch, und er hält den Blick skeptisch auf mein halbes Dutzend Lippenstifte geheftet, als warte er darauf, dass ich auf ihn zuspringe und schreie: »Hab dich!«
Ich wünschte, es wäre so einfach.
Ein paar Minuten sind vergangen und meine Augen sind schon müde vom Starren auf die Labellos. Benson holt Luft, und ich kann praktisch fühlen, wie er sich bereit macht, etwas zu sagen, als der mittlere Labello verschwindet.
Benson schnappt nach Luft und macht vor Schreck einen Satz. Dabei überrennt er mich fast und lässt die Labellos fallen. Sie rollen über den Teppich. »Scheiße, was ist das denn?«
»Psssssst!«, befehle ich flüsternd, halte ihm die Hand vor den Mund und trete näher an ihn heran.
Ganz nahe.
Ich blicke auf, unsere Gesichter sind nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, und meine Brust gefriert. Meine Hand sinkt langsam herab, bis nur noch ein Finger auf seiner Unterlippe ruht. Sie fühlt sich weich an meinen Fingerspitzen an. Ein ferner Teil von mir hört Bensons Atem, der ungleichmäßig geht und schneller wird, und sein Blick brennt sich in meinen.
Ich weiß nicht genau, wer den ersten Schritt macht oder wie es passiert bei allem, was hier sonst noch vor sich geht, aber einen Augenblick später packen meine Finger seine Haare, ziehen sein Gesicht zu mir herunter, seine Hand in meinem Nacken zieht mich herauf und neigt meinen Mund zu seinem. Seine Lippen berühren meine – suchend, fordernd, einnehmend.
Aber wie können sie nehmen, was ich schon wild und stürmisch gebe?
Sein ganzer Körper zittert, als er einen Schritt nach vorn macht, sich an mich drückt, mich zwischen seiner Wärme und dem Bücherregal gefangen nimmt. Die Kanten der Bücher graben sich in meinen Rücken, als sich unsere Körper treffen, aneinanderdrücken, ineinander verschlingen. Ich umklammere den weichen Stoff von Bensons Pullunder und meine Finger graben sich in seine Rippen direkt darunter. Seine Hände sind immer noch in meinem Nacken, an meinem Kopf – Finger schlängeln sich durch meine Haare, als er seinen Mund fester auf meinen presst –, aber dass sein Körper so gut und bequem an meinen passt, fühlt sich auf seine eigene Art auch wie ein Kuss an.
Ich reiße meinen Mund fort, um nach Luft zu schnappen, kehre aber sofort zu seinen Lippen zurück. Ich brauche mehr von ihm. Er ächzt leise, und das bringt mich dazu, ihn noch fester halten zu wollen, ihn noch inniger zu küssen. Ich weiß nicht, wie lange es dauert – ewig und doch nicht annähernd lange genug –, bevor Benson den Kopf zurückwirft und einen langen Seufzer ausstößt. Seine Hände rahmen mein Gesicht ein, und er lehnt die Stirn an meine, während wir beide nach Luft ringen. Sein Atem ist heiß auf meinen Lippen, und wenn ich atme, riecht es nach ihm.
Etwas in mir weiß, dass jetzt alles anders ist.
Besser? Ich hoffe es.
»Ist das die Stelle, an der ich mich entschuldigen sollte?«, fragt Benson, und seine Stimme ist so leise, so schwach, dass ich fast schon wieder weinen muss.
»Tut es dir denn leid?«, flüstere ich. Und ich weiß nicht, was ich hören will.
»Überhaupt nicht«, sagt er; sein Flüstern ist beinahe unhörbar.
Eine seltsame Freude erfüllt mich und diesmal ist sie nicht überwältigend. Sie ist ruhig. Beinahe friedlich. »Dann entschuldige dich nicht.«
Doch er richtet sich auf, seine Hände gleiten von mir ab, um sich in seine Hüften zu stemmen, und er schaut auf das Bücherregal direkt links neben mir. »Der Zeitpunkt war schlecht, du hast geweint und ich … ich hätte, nein, ich hätte nicht …«
»Benson«, unterbreche ich ihn. »Es ist okay.«
»Es ist nicht okay, ich wollte nicht …«
»Benson«, sage ich, diesmal fester. Ich trete vor, lasse die Hände an seinen Armen herabgleiten, zwinge ihn, die Fäuste von den Hüften zu lösen und verschränke meine Finger mit seinen. »Es ist okay.« Ich will nicht fragen, aber ich weiß, ich muss. »Ist das der Grund, warum du Quinn nicht leiden kannst?«
Benson schluckt trocken, bevor er antwortet. »Er hat jetzt einen Namen?«
»Ja.«
»Das ist einer der Gründe«, gibt er schließlich zu. »Aber die anderen sind genauso stichhaltig.«
Mein Kopf hat echte Probleme, rational zu denken. »Was ist mit Dana McCraven?«
Benson wird so rot, dass er beinahe braun aussieht. »Ich habe sie erfunden«, gibt er zu. »Ich wollte nicht, dass du siehst, wie liebeskrank ich war.«
»Ist das wahr?«, frage ich ehrlich geschockt.
Und erfreut.
»Du hast irgendwann einmal gefragt und ich habe einfach … den Namen erfunden. Es sollte keine so große Lüge werden. Es sollte mir nur helfen, Abstand zu halten«, murmelt er. Dann trifft sein Blick einen kurzen Moment meinen, und das Gefühl, das ich sehe, lässt mein Herz hämmern. »Hat wohl nicht funktioniert.«
»Na ja, ich hab’s geglaubt«, sage ich mit einem Kichern.
»Dana McCraven kann dir nicht das Wasser reichen«, murmelt Benson grinsend.
»Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?« Wir hätten uns schon seit Monaten so küssen können!, möchte ich am liebsten schreien.
»Ich wollte nicht verlieren, was wir hatten«, murmelt er. »Ich fand es wirklich schön, dass du jeden Tag vorbeigekommen bist.«
Ich fange an zu grinsen wie eine alberne Idiotin.
Benson mag mich.
Mich!
Und das hat er schon immer.
Das ist eine winzige gute Sache in meiner Welt, die in letzter Zeit so verwirrend geworden ist, dass ich das Gefühl habe, ich hätte vergessen, was ich mit guten Neuigkeiten anfangen soll.
Aber genau in diesem Moment beschließen meine Augen natürlich, den Labello auf dem Boden zu bemerken. »Benson!«, keuche ich und umklammere seine Finger so fest, dass ich ihm wahrscheinlich wehtue. »Sie sind weg!«
Jetzt liegt nur noch ein einsamer Labello unschuldig auf dem Teppich.
Ich sehe wieder Benson an und widerstehe dem Drang, ihn vorn am Hemd zu packen und zu schütteln. »Du hast sie doch auch gesehen, oder? Ich bilde mir das nicht ein. Es waren sechs, stimmt’s?« Meine Stimme wird hoch und laut, und Benson streicht mit den Händen an meinen Armen auf und ab, während er versucht, mich zu beruhigen.
»Ja, ich habe sie gesehen. Sie waren da.« Seine Augen sind jetzt wieder aufgerissen, sein Kiefer ist angespannt, während wir beide auf den Teppich starren, wo die Lippenstifte lagen, als würden sie plötzlich wieder erscheinen.
Wir reißen die Köpfe hoch, als Maries Stimme die Bibliothek über die Lautsprecheranlage erfüllt. »Die Bibliothek schließt in fünf Minuten. Bitte bringen Sie Ihre Bücher zur Ausleihe. Die Bibliothek schließt in fünf Minuten.«
»Ich muss gehen. Ich habe Reese gesagt, ich wäre gleich wieder da.«
Benson beißt so fest die Zähne zusammen, dass ich am liebsten mit dem Finger über seine Kiefermuskeln streicheln würde, damit er sich entspannt. Aber nach einer Sekunde sagt er: »Wir müssen darüber reden. Morgen.«
»Sollen wir uns morgen Nachmittag einfach …«
»Nicht hier«, sagt Benson fest. »Vielleicht bei mir?«
Bei ihm – bei dem Gedanken läuft mir ein angenehmer Schauder über den Rücken. Doch als Benson sich bückt, um den übrig gebliebenen Labello aufzuheben, bin ich wieder vollkommen nüchtern.
»Ich melde mich krank, wenn es sein muss«, sagt Benson, streicht mir mit den Fingern durch die Haare und blickt in die Ferne. »Ich komme schon noch dahinter«, sagt er leise. Dann dreht er sich zu mir um und nimmt vorsichtig meine Hand. »Wir kommen dahinter.«
Ich nicke, um seine Zuversicht zu stärken. Meine ist weg.
»Hier«, sagt er und gibt mir wahllos irgendein Buch. »Leih das aus. Dann stellt Marie keine Fragen.«
»Okay.« Ich drücke das Buch an die Brust und will gehen, dann wende ich mich wieder ihm zu. Ich will ihn unbedingt noch einmal küssen.
Er beugt sich fast unmerklich vor.
Aber irgendwie ist es einfach nicht richtig. Ohne die Leidenschaft des wilden Augenblicks ist es, als gäbe es da eine Barriere, die wir nicht überwinden können. Ich belasse es dabei, seine Hand zu drücken, bevor ich wortlos um die Ecke verschwinde. Ich zwinge mich, nicht zurückzuschauen, als hätte sich hinter dieser Reihe alter, staubiger Bücher nicht gerade die ganze Welt auf den Kopf gestellt.
Erst als ich das Auto vom Parkplatz lenke, fällt mir auf, dass ich Benson nicht von Quinn erzählt habe. Dass ich seit dem Augenblick, als Bensons Lippen meine berührten, kaum noch an Quinn gedacht habe.