Kapitel 7

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Er scheint keine Notiz von mir zu nehmen, als ich mich ihm nähere, heftig blinzelnd im Versuch, mich davon zu überzeugen, dass ich ihn auch wirklich sehe. Dass er echt ist.

Wie immer ist da kein Flackern, kein Glühen. Nicht wie bei der Frau vor dem Immobilienbüro oder dem Dreieck an dem Haus. Einfach … er. Real und greifbar. Ich bin gleichzeitig erleichtert darüber und habe Angst davor.

Er trägt weder die Jacke noch den Hut, aber er hat sie auch nicht gerade durch Jeans und Polohemd ersetzt. Er trägt ein Leinenhemd, das er lose in eine Segeltuch-Kniehose gesteckt hat; er ist barfuß und hat die Zehen halb in dem grobkörnigen Sand vergraben. Ich schaue mich auf dem Boden um ihn um, sehe aber keine Schuhe. Doch wenn er verrückt genug ist, zwei Tage hintereinander ungebeten und unangekündigt zu meinem Haus zu kommen, läuft er vielleicht auch barfuß herum.

Im März.

Als ich ihn mit eingefrorenem Atem – schlägt mein Herz überhaupt noch? – ansehe, hebt er die Hand und streicht sich eine Strähne seines seidigen Haares hinters Ohr. Dann beugt er sich vor, das Leinenhemd spannt sich um seine Schultern, und hebt einen kleinen Stein auf. Ohne Eile schwingt er den Arm herum und lässt den Stein über die Wasseroberfläche des Flusses springen.

Die Stille ist gebrochen.

Eine heiße Fontäne von Zorn, Fragen, Wünschen und Wut kocht in meinem Magen, und während ich die Entfernung zwischen uns überbrücke, bin ich mir nicht sicher, was davon stärker ist – die Gefühle, die mich zurückhalten, oder die, die mich vorantreiben.

Dann bin ich da. Neben ihm.

Er blickt nicht auf. Lässt nicht erkennen, ob er weiß, dass ich überhaupt neben ihm stehe.

Das macht mich nur wütender.

»Ich habe dich gesehen«, sage ich, gerade so laut, dass er es hören kann – ich will nicht, dass mich jemand anderes hört, vor allem nicht Reese. »Gestern. Heute, meine ich. Um zwei Uhr morgens.«

Ich warte auf eine Erklärung, dass er sich verteidigt. Sogar auf eine Lüge. Aber er sagt nichts.

»Und in der Park Street auch. Ich mag es nicht, dass du mich verfolgst, und ich will, dass du damit aufhörst.« Meine Zähne schlagen beinahe über der Lüge zusammen, von der ich nicht wusste, dass es eine Lüge war, bis sie aus meinem Mund kam.

Aber zumindest habe ich es herausgebracht. Benson wäre stolz auf mich.

Der Typ sagt immer noch nichts. Hebt nur noch einen Stein auf und lässt ihn fliegen wie den ersten.

»Ich meine es ernst«, sage ich.

Tue ich nicht.

»Ich will, dass du mich in Ruhe lässt.«

Ich will, dass du mit mir sprichst.

Er bleibt still. Still und ruhig.

»Hey!«, blaffe ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Er hebt noch einen Stein auf, und ich stelle mich vor ihn, um ihn vom Werfen abzuhalten.

»Du kannst nicht einfach …« Ich blicke auf sein Gesicht hinab und die Worte bleiben mir im Hals stecken.

Es ist das schönste Gesicht, das ich je gesehen habe.

Laubgrüne Augen blicken mit einer Ruhe zu mir auf, die tief ist wie die Wasser des Michigan-Sees. Sein Kinn ist kantig, aber die gebogene Linie seines Mundes mildert die Kanten, und seine kohlschwarzen Wimpern tun ihr Übriges. Während ich seinen Anblick gierig in mich aufnehme, löst sich eine goldene Haarsträhne hinter seinem Ohr und wirft einen dunklen Schatten über seine Wange. Es zischt in meinem Mund, als ich nach Luft schnappe, und ich versuche, Worte zu bilden, doch mein Mund gehorcht nicht.

Als spüre er, dass er die Quelle meiner Not ist, wendet er den Blick ab, zurück über das Wasser, und ich kann mich wieder bewegen.

»Ich bitte dich um Verzeihung«, sagt er, und seine Stimme ist tief, aber sanft. Dunkle Schokolade. »Ich habe mich dir nicht gut genähert. Hab’s vermasselt.« Seine Worte klingen ein bisschen ungewohnt – vielleicht, als hätte er einen Akzent, aber ich erkenne die Sprachmelodie nicht.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber eine direkte Entschuldigung nicht. Ausreden, Leugnen, darauf war ich vorbereitet. Ich bin von seinem Geständnis verblüfft und stehe einen Augenblick mit leicht geöffnetem Mund da.

»Ich hätte mich auf die traditionelle Art vorstellen müssen.« Sein Blick begegnet meinem wieder und ich kann meinen nicht abwenden.

»Ja, das wäre besser gewesen, als um zwei Uhr morgens vor meinem Haus zu stehen«, zwinge ich mich zu sagen.

»Ich habe dich erschreckt.«

Wieder diese Direktheit. Ich will es abstreiten – darauf beharren, dass ich überhaupt keine Angst hatte. Hatte ich aber. Ich war gleichermaßen panisch und aufgeregt.

»Aber ich bin nicht derjenige, den du fürchten solltest.«

Ich mustere ihn. Da ist … etwas. Etwas Vertrautes, jetzt, wo ich ihn aus der Nähe sehe. »Kenne … kenne ich dich?«

Er grinst, und ich muss einen Schritt rückwärts machen, als er aufsteht, das tiefe V seines lockeren Hemdes nach vorn fällt und ich einen Blick auf wohldefinierte Bauchmuskeln erhaschen kann. Ich bin keines von diesen Mädchen, die auf Muskeln und gebräunte Haut stehen und all das – mir ist Köpfchen lieber als Muskeln –, aber ich schaffe es unmöglich, den Blick abzuwenden. Es ist, als sei sein Körper ausdrücklich dafür gemacht, dass ich ihn bewundere. Als er sich aufrichtet, fällt sein Hemd wieder an seine Brust zurück. Mein Blick wandert aufwärts.

Und noch weiter aufwärts.

Ich bin, wie gesagt, ziemlich groß. Aber dieser Kerl ist gute fünfzehn Zentimeter größer als ich. Nun streckt er mit einer beiläufigen Geste die langen Arme über den Kopf. »Nein«, sagt er, und in seinen Augen funkelt eine Art Verschmitztheit. »Aber du wirst mich noch kennenlernen.«

Und dann stehen wir da.

Und starren.

Einander an.

Das bin nicht ich; mit gelähmter Zunge wegen irgendeines Kerls und sabbernd wegen eines Körpers wie aus Granit. Ich fühle mich gleichzeitig und abwechselnd richtig und falsch, bis ich am liebsten aus der Haut fahren würde, um diesem Widerspruch zu entkommen.

»Ich bin Tavia«, sage ich und strecke die Hand aus. Irgendetwas muss ich tun. Die Spannung bringt mich noch um, und ich weiß einfach nicht, was ich will. Oder was ich nicht will.

Das scheint mir dasselbe zu sein.

Er schaut meine Hand an, ignoriert sie aber. »Ich weiß, wer du bist.«

Natürlich weiß er das. Ich warte.

Und warte.

Soll ich etwa fragen?

»Wir sollten reden«, sagt er, während er sich bückt, um einen Mantel aus dem Sand aufzuheben, dann schlüpft er mit seinen schlanken Armen hinein. »Ich habe dir Dinge zu zeigen und wir haben nicht viel Zeit.«

»Ich kenne nicht einmal deinen Namen«, platze ich heraus.

Jetzt lächelt er breit und zeigt dabei schöne Zähne und winzige Lachfalten in den Augenwinkeln. »Du bist schön, weißt du das?« Meine Knie zittern, als er die Hand zu meinem Gesicht hebt und seine Finger nur noch eine Haaresbreite von meiner Wange entfernt sind. »So gefällst du mir gut«, flüstert er. Ich schließe die Augen und warte auf die Berührung.

Sie kommt nicht.

Nach ein paar Sekunden öffne ich peinlich berührt die Augen wieder. Aber er sieht mich nicht an. Er hat sich halb abgewandt und die Augenbrauen zusammengezogen.

»Warum tust du das?«, bringe ich heraus. »Ich verstehe das alles nicht.«

»Ich wünschte, ich könnte dir alles sofort erklären, aber das wird eine Weile dauern. Du musst mir vertrauen. Ich weiß, ich habe mir das mit nichts verdient«, fügt er hinzu, bevor ich widersprechen kann. »Aber bitte, bitte, vertrau mir.«

Mein Kopf nickt, während ich mir auf die Unterlippe beiße und loslasse, als meine Zähne die schmerzende, wunde Haut berühren. Blöde Seeluft. Das verschafft mir einen Augenblick der Klarheit, und ich kämpfe gegen das benebelte, zustimmende Gefühl, das meinen Kopf anfüllt. »Sei mir nicht böse, aber warum sollte ich dir vertrauen?«, frage ich schnippisch. »Du willst mir nichts erklären und läufst ständig davon. Du musst mit mir reden.«

»Nächstes Mal«, sagt er mit einem Hauch Versprechen in der Stimme. »Heute Abend kann ich nicht bleiben. Aber ich verspreche dir, ich werde dir zu unserem nächsten Treffen etwas mitbringen, das dir verstehen helfen wird«, fügt er hinzu. »Einverstanden?«

»Du kannst nicht noch einmal hierherkommen«, warne ich ihn. »Nicht so. Du bringst uns beide in Schwierigkeiten.«

Er nickt ernst, beinahe, als habe er das erwartet. »Such nicht nach mir. Ich werde dich finden.«

Mehr kann ich nicht erwarten, scheint mir. Er hat recht – er kann nicht bleiben. Nicht jetzt. »Okay«, gebe ich nach. Mein ganzer Körper zittert, als ich das sage. Ich habe Angst vor dem, dem ich gerade zugestimmt habe.

Er dreht sich um und sein langer Mantel bläht sich kurz und fällt dann mit einem Flüstern zurück um seine Beine. »Pass auf dich auf«, sagt er. Zumindest glaube ich, dass er das sagt. Aber es ist so still, dass ich es mir vielleicht auch nur eingebildet habe.

»Warte!«, sage ich und setze ihm nach.

»Bald«, ruft er, ohne sich umzudrehen. »Bald.«

»Aber …« Ich weiß nicht einmal, was ich sagen soll; ich habe überhaupt nichts mehr im Griff. Die Lage. Ihn. Mich.

Ein leichtes Lachen entschlüpft ihm, und ich werde langsam wütend, aber er dreht sich um und geht rückwärts, und sein Blick begegnet meinem mit unschuldiger Verspieltheit. »Da dir Namen so wichtig sind: Ich heiße Quinn«, sagt er lächelnd. »Quinn Avery.«

Quinn Avery.

Zwei einfache Wörter, aber sie bedeuten alles.